Alain Claude Sulzer «Auf dem Balkon“

Sie stand auf dem Balkon des Theaters, der nichts weiter als ein fussbreiter Mauervorsprung mit einem Sicherheitsgeländer war, und sah auf die Königsallee hinunter, als Dariusz sie anrief und ihr erzählte, er habe von einem Haus in Teheran geträumt, in dem er nie gewesen war, er kannte weder die Stadt noch das Land und also auch kein Haus, aber er träumte in letzter Zeit oft davon, erzählte er ihr. sie hatte zu tun, aber sie hörte ihm zu. Um die anderen nicht zu stören, hatte sie das Gespräch auf dem «Balkon» entgegengenommen, der bloß ein Austritt war. Die Straße, auf die sie sah, war belebt, viele Autos, wenige Fußgänger, ein Hund, der wie wild an der Leine zog und seine Besitzerin fast umgeworfen hätte.

In einem steinernen Garten mit vier Säulen sei er gestanden, in dem es keine Blumen gab, erzählte er ihr. Überall seltsame Tiere, die sich blitzschnell in Ritzen und Spalten unsichtbar machten und nicht mehr auftauchten; er hätte sie gern gesehen und identifiziert. Neuerdings träumte er öfter von Orten, an denen er nie gewesen war: Ein Brunnen unter verkrüppelten Bäumen in einem weissen Innenhof, über den sich ein luftiges Zeltdach spannte. Es ging ein frischer Wind, der wie eine ausgestreckte Hand unter das Zeltdach fuhr. Wie schon als Kind erzählte er ihr auch als Erwachsener Dinge, die andere ihren Müttern verschwiegen hätten, Wichtiges und Unwichtiges. Dariusz, ihr Erstgeborener, war sechsunddreissig und arbeitete in seiner eigenen Anwaltskanzlei. Er hatte eine Frau, zwei Kinder, er kannte die Welt, nur Teheran kannte er nicht. 

Seltsame Vögel, bunt und laut, hatte er erzählt. Er erzählte gern farbig und ausführlich. Bücher, die sich in einer Ecke stapelten, religiöse Schriften, vermutete er, in Teheran las man sicher nicht Philip Roth. Er war allein. Welches Teheran war das? Das von damals, das er nicht kannte, oder das von heute, das er auch nicht kannte, das aber bruchstückhaft hin und wieder, wenn irgendetwas passiert war, in den Nachrichten, auf seinem Handy, im Radio, im Fernsehen, in den Zeitungen, auf den News-Bildschirmen der U-Bahn auftauchte?

Wie seine Schwester Jasmin beherrschte Darius nur die paar Sätze Farsi, die er aufgeschnappt hatte, wenn seine Mutter mit ihren Verwandten in Teheran, Los Angeles oder in Köln telefonierte, während sie am Boden saßen und zu ihr aufblickten. Den Sinn dieser Sätze hatte er – wie Jasmin – nur halbwegs oder gar nicht verstanden, doch irgendwann begannen sie wie Blutkörperchen in seinen Blutbahnen zu schweben. 

(Romanauszug)

Alain Claude Sulzer, 1953 geboren, lebt als freier Schriftsteller in Basel, Berlin und im Elsass. Er hat zahlreiche Romane veröffentlicht, u.a. Ein perfekter Kellner, Zur falschen Zeit, Aus den Fugen und zuletzt Doppelleben. Seine Bücher sind in alle wichtigen Sprachen übersetzt. Für sein Werk erhielt er u.a. den Prix Médicis étranger, den Hermann-Hesse-Preis und den Kulturpreis der Stadt Basel. 
​Alain Claude Sulzer lebt in Basel, Vieux Ferrette und Berlin

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Beitragsbild © Lucia Hunziker

Veronika Sutter «Ohne mich wäre hier Urwald», Plattform Gegenzauber

Kümpel ist tot, ich hoffe, dass ihr alle da sein werdet. Ort. Datum. Zeit. Mehr braucht es nicht, sie werden kommen.

Ein Ball, der gegen ein Garagentor donnert. Eine leerschwingende Schaukel. Das Spulen einer Kassette in einem Recorder. Schwarze Haare auf muskulösen Schenkeln. Sich windende Pfahlwurzeln. Eine Wanduhr, ticktack, ticktack … 
… und ich bin da. Warte in einer milden Abendluft des Junis 1973 bei der Teppichstange auf die anderen. Aus einem offenen Fenster Scheppern von Geschirr und My sweet Lord. Ich bin weggegangen, ohne dass es jemand bemerkt hat, die Rechenaufgaben wie einen Schweif hinter mir herziehend. Etwas fällt klirrend zu Boden, ein Kind fängt an zu weinen, das Hare Rama wird abgeklemmt, das Fenster mit Nachdruck geschlossen. Eine Amsel fliegt auf. Ich warte auf die anderen.

Wir haben alle einen Makel, Sigi schäumt aus dem Mund, Toni hat eine verrückte Mutter, Ramon keinen Vater, Sonja ist schwer von Begriff und ich versuche, ohne Lügen durch den Tag zu kommen. Was ausserhalbder Siedlung liegt, ist eine Welt voller Rätsel. Verwundert linsen wir in Küchen, wo frisierte Frauen Brote streichen, staunen hinein in diese aufgeräumten Puppenhäuser, wo jemand auf die Uhr schaut und sagt, wann es Zeit ist. Wir schämen uns, dass es unseren Eltern egal ist, wenn wir zu spät kommen, und sind oft mit Ausreden beschäftigt. Ausserhalb der Siedlung fühlen wir uns verdorben und gehen einander aus dem Weg. In unserer Strasse aber sind wir ein starkes Geflecht. Wir sind die Bornstrassenkinder.

Ich schlafe in der Stube, weil alle anderen Zimmer belegt sind und ich das jüngste Kind bin. Im grössten Zimmer schlafen meine Eltern. Zahnlos. Ihre Gebisse liegen nachts in Gläsern, die auf dem Spiegelschrank im Badezimmer stehen, manchmal grinsend, manchmal fletschend. Oft liegen sie auch ohne jeden Ausdruck in ihrem Nachtwasser, lächerlich vergrössert.

Mein Bett gehört mir nur in der Nacht. Tagsüber trägt es eine maisgelbe Decke, die beiden Kissen, das braune und das tannengrüne, und meinen Vater beim Mittagsschlaf. Auch meine Mutter, wenn nach dem Abwasch noch Zeit ist. Seitlich liegend haben beide Elternleiber auf dem Bett Platz. Sofort fallen sie in Schlaf, auf die Minute genau sind sie wieder auf den Füssen, zehn nach eins. Mit rankenden Blumen auf den Gesichtern schlürfen sie den Nescafé und setzen sich wieder in ihren R4. Ohne Worte.

Zwischen mir und den Kaninchen, die sie hinter dem Betriebsgebäude halten, machen meine Eltern keinen grossen Unterschied. Früher packte mich mein Vater manchmal im Genick, schüttelte mich und sagte knurrend, ein richtiger Chüngelbraten sei ich. Dann fragte ich mich, ob er imstande wäre, mich zu essen.

Am Kopfende meines Bettes steht ein kleiner Schrank. Darin lagere ich meine Schulsachen, Haarspangen, Nastücher und das Tagebuch. Nachts liegt auf dem Tagebuch ein Armband aus farbigem Garn. Ein Geschenk von Sylvie, die auf der anderen Seite des Mattenbaches wohnt. Ich sehe sie nicht mehr oft. Sie muss lernen, und zwar mehr als das Nötigste. Wir in der Siedlung müssen nichts, wir haben Zeit, die wir verplempern können.

Ich habe deine Mutter gesehen, füdliblutt. 
Ramon kickt den Ball an ein Garagentor, einmal, zweimal, erst dann hebt er langsam den Kopf.
Was?
Sie hatte nichts an …, Sigi hält sich die Hand vorden Mund, ich habe ihre Haare gesehen, da unten, ein dunkler Busch.
Ramon stoppt den Ball mit dem linken Fuss.
Wo soll denn das gewesen sein.
In eurer Wohnung. Kann nichts dafür, wenn sie die Vorhänge offen lässt. Hätte jeder sehen können.
Vom Weg aus?, denke ich.
Wie der Urwald?, fragt Sonja.
Und da ist noch jemand gewesen, Sigi schaut kurz zu mir und gleich wieder weg, ein Mann. Vor Sigis Lippen haben sich knisternde Blasen gebildet. Auf dem Sofa, nur mit Unterhemd, und zwischen seinen Beinen war so ein … so ein, wieder fährt sich Sigi mit dem Handrücken über den Mund, ein Speichelfaden glitzert in der Sonne.
Sigi, bitte, sagt Toni.
Ramon wuchtet den Ball auf die mittlere Garage, dreht sich um, geht weg, der Ball schnellt an uns vorbei, schlägt auf, verschwindet im Gebüsch.
So ein weisses Ding, Plastik oder so, schreit Sigi Ramon hinterher.
Hast du ihn gekannt? Den Mann?, will Sonja wissen.
Ja. Wieder wirft Sigi einen Blick in meine Richtung.
Wer
Sigi zuckt mit den Schultern und schaut zu Boden.
Mach dich nicht wichtig, Sigi, sage ich. Und übrigens, das war ein Pariser, noch nie davon gehört?

Es ist nicht diese Episode, die alles verändert, aber vielleicht ist sie ein Vorzeichen, eine vage Ankündigung. Noch leben wir wie Pflanzen, was wir brauchen, bekommen wir, Erde, Wasser, Luft, Licht. Die einen begnügen sich damit, ihre Köpfe nach der Sonne zu wenden, andere schiessen ungehemmt in die Höhe, schicken Triebe in den Himmel oder verlegen sich darauf, unter Boden Wurzeln zu verbreiten. Selbstausläufer. Die Erdbeere, lateinisch Fragaria, ist in der Lage, Ableger zu bilden, aus denen neue Pflänzchen wachsen, das sind sozusagen Klone der Mutterpflanze. Wenn mein Vater doziert, hört niemand zu, aber als er von der Vermehrungsweise der Fragaria spricht, will ich wissen, was Klone sind.

Es kommt vor, dass Einzelne von uns etwas Schönes hervorbringen, eine auffallende Blüte. Wie Toni, die plötzlich so gut Rollschuh fahren kann, dass sie in eine Showtruppe aufgenommen wird. In weissen Stiefelchen und einem glitzernden Röckchen wirbelt sie überbdie Bühne, bis den Glotzenden schwindlig wird. Aber auch bei ihr wird wie bei uns allen bald etwas passieren, das dem Pflanzendasein ein Ende setzt. Es zeigt sich unterschiedlich. Bei Toni beginnt es mit dem Moment, als sie dem Kastenwagen nachschaut, der ihre Mutter wegbringt. Bei Ramon ist es die Spucke auf dem Rasen und bei mir …, bei mir sind es verschiedene Dinge. Nach der Sache mit Kümpel ist es definitiv vorbei mit der Unschuld, für uns alle.

Die Siedlung klebt an der dunklen Flanke einer Bergkette, an die sich unser Tal drückt, in Löffelstellung, wie meine Eltern beim Mittagsschlaf. Über den Grat des Berges wandern Menschen, die Freizeit haben, Leute aus der Stadt. Sie schauen hinunter in das schattige Tal, auf das Dorf, auf die Wohnblöcke und sind froh, dass nicht sie es sind, die hier wohnen. Berg ist ein zu grosses Wort, auch Tal ist ein zu grosses Wort, alle Wörter sind zu gross für diesen Ort, nichts ist so, wie es sich anhört. Wir sagen Tal, aber es ist nichts als eine Schnellstrasse und parallel dazu Bahngeleise; was wir Dorf nennen, ist ein Platz mit Abfalleimern und betonierten Sitzbänken, einem Bahnhofskiosk und ein paar alten Häusern, die stur verharren, während andere längst das Feld geräumt haben. Für die Migros, das Bankgebäude, die neue Gemeindeverwaltung. Ein bescheidener Fluss folgt demütig den Schienen und der Strasse, obwohl er lange vor ihnen da war. Kraftlos krümmt er sich an Reihen von Wohnblöcken vorbei, die sich ins Land gefressen haben. Der Zug fährt zwischen zwei Sackbahnhöfen hin und her, Tal hinauf, Tal hinunter. Nur die Schnellstrasse führt weiter, sie will möglichst rasch weg von hier.
Hinter der reformierten Kirche liegt der Friedhof und oberhalb der katholischen, fast am Waldrand oben, verläuft die Bornstrasse. Da steht unsere Siedlung. Der Friedhof ist für alle, die Siedlung für die Angestellten der Papierfabrik. Hier wachsen wir vor uns hin, ohne dass es jemanden kümmert, Ramon, Toni, ich und die anderen.

An der Hinterseite der Wohnblöcke, die dem Wald am nächsten sind, wuchert scharfkantiges Unkraut; Flechten und Moose kriechen am feuchten Gemäuer empor, und nur weil Kümpel regelmässig mit tödlichem Wasserstrahl auf sie losgeht, nehmen sie nicht überhand. Ohne mich wäre hier Urwald, hören wir ihn zischen, wenn er seine Gerätschaften hinter sich herzerrt, in den Boden rammt, mit schweissglänzendem Hals, auf dem sich die Sehnen spannen.
Ohne Kümpel wäre hier Urwald, wären die geduckten, länglichen Gebäude überwuchert von Blacke, Geissfuss, Ackerwinden, wellige Hügel in der Landschaft, wie früher, vor Tausenden von Jahren, nur dass wir darunter leben würden.
Ohne mich wäre hier Urwald, hören wir Kümpel fauchen, murmelnd wiederholen wir es hinter seinem Rücken.

Beim Kehrplatz vor den Garagen endet die Strasse. Hier ist der Ort der Männer. Hier waschen sie am Samstag ihre Autos, betrachten Motoren, klopfen Schultern. Daneben die Burschen auf ihren Töffs, sie rauchen und reden über die Autos, die sie später kaufen würden. Von unserem Platz bei der Teppichstange hören wir sie lachen, rufen, fluchen. Und immer dudelt Musik, manchmal fremdländisch ab Kassette, manchmal aus dem Radio. Akropolis adieu, Immer wieder sonntags, Am Tag, als Conny Kramer starb. Keine Frauen bei den Garagen. Für sie gibt es die Spielplätze mit den Sandkästen, den viel zu kurzen Rutschbahnen und den zwei Betonröhren, durch die niemand kriechen will.

Es gibt Unterschiede. Die Autos. Die Marke der Autos.Die Sprache, die daheim geredet wird. Wie es beim Kochen riecht. Ob beim Essen das Radio läuft oder der Fernseher. Ob man im Sommer zu den Verwandten fährt. Oder überhaupt wegfährt. Das Alter der Autos. Die PS der Autos. Ob man in die Kirche geht und in welche. Die Namen.
Über die Gemeinsamkeiten reden wir nicht. Dass für uns keine Geburtstagspartys veranstaltet werden und wir selten zu welchen eingeladen sind, dass wir nach dem Mittagessen die Zähne nicht putzen, dass wir diejenigen verachten, die ein fixes Taschengeld haben, aber Mittel und Wege kennen, um an Geld zu kommen. Dass wir es lächerlich finden, von den Eltern für gute Noten belohnt zu werden. Dass von uns erwartet wird, keine Probleme zu machen. Dass etwas Rechtes aus uns werden soll.

Kümpel ist gut für Mutproben. Ihm in die Augen schauen. Ihm frech kommen. Ihm nicht gehorchen, tun, als ob man ihn nicht gehört hätte. All dies heizt unsere Träume an, wenn sie kühn sind. Wir verstecken uns auf unseren Balkonen hinter Geranien, Petunien, Fleissigen Lieschen und beäugen Kümpels Wege durch die Siedlung. Sie sind rätselhaft, scheinen einem festgelegten Plan zu folgen, variieren ständig und sind doch immer die gleichen. Kümpel geht stets eilig, vorgebeugt, Kopf vorne, Ellbogen hinten. Graue Mantelschürze mit langen Ärmeln, grobe Arbeitshose, die Stösse in die Stiefel gesteckt. Kümpel hat einen Sinn für alles, was nicht in Ordnung ist, herumliegende Velos, trockene Wäsche, die nicht abgenommen wurde, Himmel und Hölle auf der Strasse.
Niemand weiss, wer Kümpel ist, woher er kam und was sein Auftrag ist. Wenn Kümpel sich nähert, gehen die Frauen schneller, die Männer beginnen zu pfeifen oder etwas an ihren Autos zu untersuchen. Niemand ist je in Kümpels Wohnung gewesen und niemand redet freiwillig mit ihm. Aber alle wissen, dass Kümpel zu akzeptieren ist. Es gibt Dinge, die sich nicht ändern lassen.
Für uns gebraucht er eigene Namen: Pfosten, Totsch, Kleiner Scheisser. Alle zusammen sind wir Gjät. Er bellt uns an, wenn wir abends auf dem Kehrplatz gummitwisten oder Bälle an die Garagentore kicken. Bälle bringen ihn aus dem Gleichgewicht. Wir lassen sie ihm vor die Füsse rollen, um zu sehen, wie sein Schritt aus dem Takt gerät, wie er versucht, dem Ball auszuweichen, als wäre eine Berührung tödlich. Die einen behaupten, Kümpel sei früher Fussballer gewesen, habe beim FCZ gespielt, aber genauso möglich ist, dass er ein Bankräuber war, jahrelang im Gefängnis. Manchmal taucht Kümpel unvermittelt vor einem auf. Es heisst, zwischen den Kellerräumen gebe es Tunnels, die Kümpel erlaubten, überall gleichzeitig zu sein. Aber kein Mensch hat je einen Zugang gefunden.
Eigentlich ein netter Mann, sagt meine Mutter, aber auch sie versucht, seine komplizierten Routen nicht zu durchkreuzen. Auch sie überlegt, was sie falsch gemacht haben könnte, wenn Kümpel in der Nähe ist.
Wir finden nicht heraus, wie er es macht. Warum er weiss, was wir treiben. Niemand von den Eltern will etwas mit dem kleinen schwarzen Buch zu tun haben, das er in seiner Schürzentasche mit sich trägt, einige behaupteten, dieses Büchlein existiere nur in unserer Fantasie.
Kümpel ist der Teufel. Ich weiss es.

(Auszug aus «Mein Bett gehört mir nur in der Nacht», mit freundlicher Genehmigung der Autorin)

Veronika Sutter, geb. 1958, aufgewachsen im Sihltal, veröffentlichte in früheren Jahren ein paar Kurzgeschichten. Beruflich arbeitete sie unter anderem als Buchhändlerin, Kulturveranstalterin und als Journalistin, studierte Kommunikationsmanagement und war für NGOs und soziale Institutionen tätig. Ihr Erzählband «Grösser als du«, der 2021 in der edition 8 erschien, wurde für den Schweizer Buchpreis nominiert. Im Herbst 2025 erscheint ihr neuer Roman «Mein Bett gehört mir nur in der Nacht». Veronika Sutter lebt mit ihrem Partner in Zürich.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Tabea Vogel

Jacob Strautmann «A conversation in poetry and paint»

Seit 2021 stehen die in Frankfurt lebende Eva Strautmann und der in Boston lebende Jacob Strautmann in einem kontinuierlichen Dialog und schaffen Gemälde und Texte, die sich mit der Arbeit des jeweils anderen, der Natur und der Politik ihrer jeweiligen Länder auseinandersetzen.

Die hier präsentierten Gedichte sind Teil einer Sammlung von über 40 Gemälde-Gedicht-Kombinationen, und ihre Arbeit wird fortgesetzt. Mit der Übersetzerin Kassi Burnett kann ihr Gespräch nun auf zwei Kontinenten «mitgehört» werden:

Goldene Pferde 35, Eva Strautmann

Past Self 

       after Goldene Pferde 35
       by Eva Strautmann

In the country
I was a fish

In green water
Lazy shade

Of rock and trunk
Creek worship

Plash of hoofs
Tongue and muzzle

When a blue hand
Circleted plucked

By the tail lifted me
Out of the whispering

Reflection grass
In the moonlight

To a slab of sandstone
Surprised the air a blade

I am an address
In the city now

I cross bridges
And speak bluntly

A draftsman’s pen
Drew vowels

Struts to box
Them in truss pylon

Piers evenly spaced
Red and green lights

Where all is movement
Prophecy but small

Horses here
Wear collars

Stand in boredom
As traffic passes

 

Vergangenes Ich 

       nach Goldene Pferde 35
       von Eva Strautmann

Auf dem Land
War ich ein Fisch

Im grünen Wasser
Träger Schatten

Von Fels und Stamm
Bach-Anbetung

Plätschern der Hufe
Zunge und Nüstern

Als eine blaue Hand
Mich kreisend pflückte

Am Schweif mich hob
Aus dem Geflüster

Spiegelgras
Im Mondschein

An einer Platte aus Sandstein
Überraschte die Luft – eine Klinge

Ich bin eine Adresse
Nun in der Stadt

Ich überquere Brücken
Und spreche unverblümt

Der Stift eines Zeichners
Zog Vokale

Streben, sie einzuschließen
Im Fachwerkpylon

Pfeiler gleichmäßig verteilt
Rote und grüne Lichter

Wo alles Bewegung ist
Prophezeiung nur klein

Pferde hier
Tragen Halsbänder

Stehen gelangweilt
Während Verkehr vorbeifließt

 

Goldene Pferde 25, Eva Strautmann

Marriage Photo 

       after Goldene Pferde 25
       by Eva Strautmann

I can’t keep up with our garden any longer,
Let the deer have it. I want to sit on the porch

And listen to your jokes, watch the shadow
Of the leaves feather your feathery hair.

In the backyard the horses stamp the ground,
Hungry, demanding one of us gets up first.

Neither of us will go.

 

Hochzeitsfoto

       nach Goldene Pferde 25
       von Eva Strautmann

Ich komme mit unserem Garten nicht mehr nach,
Sollen ihn doch die Rehe haben.
Ich will auf der Veranda sitzen

Und deinen Witzen lauschen, beobachten,
Wie der Schatten der Blätter
Dein Haar federnd befiedert.

Im Hinterhof scharren die Pferde den Boden,
Hungrig, fordernd, dass einer
Von uns zuerst aufsteht.

Keiner von uns wird gehen.

Goldene Pferde 29, Eva Strautmann

Constituents Jacob Strautmann

       after Goldene Pferde 29
       by Eva Strautmann

The meeting was mostly cheerful,
    The Chief was mostly kind.
Rain on the streets pours gray in the quay.
    A housefly lingers on a black armband.

Whistles and taxis, a text from the train,
    Traffic in pastures and swingsets wet –
Across the river, a short match is lit,
    Lords of the art of the balance sheet

Surrender least for least:
     And what of Summer’s Bounty?
In chain and asphalt, orange trees
     Clasp de facto sovereignty.

The zoo and stables at half-past two,
    The library building, the tenement:
News is a bone stuck bare in a throat.
    A barman nods and pours his pint.

Legions rebelled, the Great Hall declined,
    Ragweed, a rock ledge in the wind:
The meeting was mostly cheerful,
    The Chief was mostly kind.

 

Beteiligte Kassi Burnett

       nach Goldene Pferde 29
       von Eva Strautmann

Die Versammlung war meist heiter,
    Die Chefin war meist gütig.
Grau strömt Regen auf den Straßen zum Kai.
    Eine Fliege ruht auf einem schwarzen Armband.

Pfeifen und Taxis, eine Textnachricht aus dem Zug,
    Verkehr auf Wiesen und Schaukeln, nass –
Jenseits des Flusses ein kurzes Streichholz entzündet.
    Herren der Bilanzkunst.

Das Geringste dem Geringsten überlassen:
    Und was ist von Sommers Fülle?
In Ketten und Asphalt ergreifen Orangenbäume
    De facto die Herrschaft.

Zoo und Stallungen um halb drei,
    Bibliotheksgebäude, Mietshaus:
Nachrichten sind Knochen, bloß im Hals verkeilt.
    Ein Barmann nickt und schenkt sein Bier ein.

Legionen rebellierten, die Große Halle zerfiel,
     Brennnessel, ein Felsvorsprung im Wind:
Die Versammlung war meist heiter,
    Die Chefin war meist gütig.

 

Jacob Strautmann ist Autor zweier Gedichtbände: «The Land of the Dead Is Open for Business» (2020) und «New Vrindaban» (2024), beide bei Four Way Books. Seine Gedichte erschienen im Boston Globe, im Appalachian Journal, in „On the Seawall“, im Agni Magazine und in „Blackbird“. Er arbeitete in den Bereichen Theater, Verwaltung und Kommunikation an der Boston University, wo er 20 Jahre lang auch Kreatives Schreiben lehrte. Derzeit arbeitet er an einem Gedichtmanuskript, das sich mit der Kunst von Eva Strautmann auseinandersetzt.

Webseite des Autors

Kassi Burnett promovierte in Germanistik an der Ohio State University und absolvierte ein Fulbright-Forschungsstipendium am Rachel Carson Center der LMU München. Ihre Forschung verbindet Umwelt- und Disability Studies mit zeitgenössischer deutschsprachiger Literatur. Publikationen von ihr erschienen in Oxford German Studies, Non Fiktion und Studies in the Humanities. Sie unterrichtete Deutsch an der Ohio State University, der Denison University und der Middlebury Summer Language School. Zusätzlich zu ihrer akademischen Arbeit veröffentlichte sie journalistische und literarische Texte, u. a. in The Columbus Dispatch und Simplicissimus (Harvard). Heute arbeitet sie als Softwareentwicklerin in Atlanta, Georgia, und beschäftigt sich weiterhin mit Literatur und Übersetzung.

Beitragsbild © Jacob Strautmann

Martin Prinz «Der Bäcker, der Mörder, die verschwundene Tote»

Er habe sie gefragt, ob mit Frau Habietinek nun eine Ruhe sei, da er von ihr gewusst habe, dass sie mit Habietinek schon einige Male Streit gehabt hätte. So gab die 33-jährige Maria Spuller ein Gespräch mit dem Bäcker S. während der Vorerhebungen zum Volksgerichtsprozess über die NS-Morde zwischen Rax und Schneeberg zu Protokoll. Das sei noch im März gewesen. Sie habe ihm geantwortet, dass es jetzt ganz gut gehe mit der Habietinek. Darauf habe S. gesagt, sie werde auch einmal Ruhe haben, denn nun laufe die Sache. Auf ihre Frage, welche Sache dies sei, konnte er das nicht sagen.

Als am 1. April die Rote Armee das Viadukt in Payerbach erreichte, war der Krieg in der Gegend zwischen Schneeberg und Rax vorbei. Die Rote Armee kontrollierte die Südbahn, hielt die Stellungen der Wehrmacht an den Abhängen von Schneeberg und Rax beschäftigt und fror die Front ein. Alles an Truppen, Logistik und Feuerkraft diente nun der Einnahme Wiens, die am 12. April gelang, sowie der Eroberung einer Pufferzone im Flach- und Hügelland westlich des Wienerwaldes, die man am 15. April 1945 mit der Besetzung St. Pöltens hergestellt hatte. Der Krieg war entschieden, auf weitere militärische Gefahren und Verluste konnte verzichtet werden. Im Schatten der Berge blieben die idyllischen Ortschaften Hirschwang, Edlach, Prein, Schwarzau und das nur eine leichte Straßenbiegung von dem Payerbacher Viadukt entfernte Reichenau als sich selbst überlassener Rest des NS-Staates übrig, in dem alles so weiterging, als wäre nichts geschehen.

Es sei am Ostermontag gewesen, dem 2. April 1945, als es geheißen habe, dass die Russen in Edlach seien, gab die Hausgehilfin Marianne Janscho an. Nachts habe es auf einmal heftig geklopft. Damals seien sie mit den Kleidern in den Betten gelegen. NS-Ortsleiter Plechard sei in Begleitung von noch anderen Männern herein und habe Frau Habietinek angeherrscht, ob sie glaube, sie könne machen, was sie wolle, nur weil sie Frau Hofrätin sei.
Daraufhin sei er gleich in den ersten Stock, sagte der 73-jährige Dr. Fritz Habietinek in seiner Zeugeneinvernahme, und habe die weiße Fahne eingezogen, die man wie andere bereits gehisst habe. Als er wieder heruntergekommen sei, seien die Männer wieder fort gewesen und seine Frau habe ihm vor Angst bebend mitgeteilt, der Ortsleiter habe ihr vor dem Verlassen des Hauses zugerufen, sie werde die erste sein, die man erschieße.
Warum Plechard diese Drohung gegen Frau Habietinek gemacht habe, fügte Marianne Janscho ihrer Aussage noch hinzu, wisse sie nicht. Danach seien sie alle, Herr und Frau Habietinek sowie die 10-jährige Enkelin, die aufgrund der Bombengefahr in Wien hier bei ihren Großeltern lebte, in die Steiermark geflüchtet, nach drei oder vier Tagen jedoch wieder zurückgekehrt. Marie Habietinek sei bald darauf von jungen SS-Männern geholt und nach Schwarzau im Gebirge gebracht worden, von dort sei sie am zweiten Tag wieder zurückgekommen. Dann sei sie erneut geholt, krankheitshalber aber wieder entlassen worden. Schließlich nahm man sie ein drittes Mal mit, um sie dann im Keller des Hotel Kaiserhof, dessen Pächter der genannte Plechard gewesen sei, zu erschießen.

Was sich zwischen Schneeberg und Rax in diesen fünfeinhalb Wochen abspielte – illegale Standgerichtsmorde, Verschleppungen und Erschießungen – wird in Medien wie Geschichtswissenschaft so gut wie immer als Endphaseverbrechen bezeichnet, und damit erneut verniedlicht. Bereits in den 50er-Jahren erlaubte die deutsche Justiz für derart bezeichnete Verbrechen, die unter dem Einfluss außergewöhnlicher Verhältnisse verübt worden wären, Strafmilderung oder gar Straffreiheit. Was in jenen Ortschaften und Kurgemeinden, die aufgrund ihrer Sommerresidenzen neben bäuerlicher Bevölkerung und der Handwerker- und Industriearbeiterschaft, Dienstleistungsgewerbe, Akademiker, Adlige, Militärs und Superreiche versammeln und damit einen breiten soziologischen Querschnitt nicht nur des gesamten Landes, sondern auch dessen Geschichte abbilden, in diesen letzten fünfeinhalb Wochen vor Ende des Nationalsozialismus wirklich geschah, war in den Verhältnissen einer nationalsozialistischen Gesellschaft nicht außergewöhnlich, sondern eine bis heute gültige Probe auf deren Exempel.

Marie Wammerl, aus der Besitzerfamilie des von Ortsleiter Plechard gepachteten Hotel Kaiserhof, sagte in ihrer Zeugenvernehmung als einzige Überlebende der zuerst im Eggl-Keller eingesperrten und im Kaiserhof erschossenen Frauen aus, es sei anzunehmen, dass Plechard, S. und Irschik bei der Aufstellung der Listen der Todeskandidaten mitgewirkt hätten. Und S., der ein intimer politischer Mitarbeiter von Ortsleiter Plechard gewesen wäre, sei gemeinsam mit diesem nach dem Einmarsch der Roten Armee auch aus Prein geflüchtet.
Weder mit Irschik noch mit Plechard habe er sich darüber besprochen, wer erschossen werden solle, auch habe er von den Erschießungen nur gerüchteweise erfahren. So verantwortete sich S., nachdem er am 28. Dezember 1945 von der Kriminalabteilung Bruck/Mur festgenommen worden war. Plechard habe er zwar gekannt, was dieser in der Partei gewesen sei, habe er nicht genau gewusst, vielleicht Zellenleiter. Wie in der Nachbarschaft üblich, sei er mit Plechard gut gewesen. Dass dieser ein scharfer Nationalsozialist gewesen sei, könne er nicht sagen. Auch dass alle Hingerichteten ausgesprochene Antinationalsozialisten gewesen seien, könne er nicht bestätigen, räumte nur bei Frau Eggl ein, dass sie öfter geschimpft habe, wüsste aber nicht, was Frau Habietinek vorgeworfen worden sei, auf die er nicht schlecht zu sprechen gewesen gewesen wäre, wie er eigens hinzufügte.
Als ihm die Aussagen Maria Spullers vorgehalten wurden, er habe ihr vor der Erschießung Marie Habietineks angegeben, sie werde von Habietinek bald eine Ruhe haben, und sich danach noch eigens bestätigen habe lassen, dass sie jetzt wohl eine Ruhe vor der alten Kanaille habe, gab S. zwar auf einmal zu, dass er selbst Zellenleiter im Ort gewesen sei, tat dies jedoch nur, um damit zu erklären, dass er Spullers Beschwerde dem Plechard weitergegeben habe, von dem er nun plötzlich wusste, dass dieser der NS-Ortsleiter gewesen sei.

Wie lebt die Gewaltgesellschaft eines Staates weiter, wenn der Staat ringsum immer weiter verschwindet? Die Antwort darauf wurde ab dem 1. April 1945 zwischen Schneeberg und Rax gegeben: Alte Rechnungen wurden beglichen, Neid oder Nachbarschaftsstreit mündeten in Denunziation. Innerhalb weniger Tage füllten sich die Listen. Vor allem Frauen standen darauf, das war das eine. Das andere waren die Patrouillen der Sonderkommandos auf der Suche nach Männern, die sich vor dem Volkssturm versteckten. Sie wurden festgenommen und vor ein Standgericht gestellt, dessen Besetzung selbst nach NS-Recht illegal war, wurden abgeurteilt, erschossen, geschändet und mit ihren malträtierten Körpern über Tage an den Stellen im Ort aufgehängt, wo alle vorbeikamen. Die Frauen hingegen, und die Alten, erschoss man heimlich in Kellern und vergrub sie nachts in schnell ausgehobenen Gruben.

Ein Sonderkommando habe seine Frau verhaftet und sie in das Kellerzimmer des Postgebäudes gesperrt, in dem sich auch die Hausbesitzerin Eggl bereits unter den Eingesperrten befand, berichtete Herr Habietinek. Sowie Marie Wammerl, deren Mann erst eine Woche davor in Schwarzau erschossen worden sei. Ein Gendarm habe ihm gestattet, seiner Frau mittags und abends Essen zu bringen. Während sich Marie Wammerl als Zeugin nicht mehr ganz sicher war, wer sich schon dort befunden habe, als man sie in den Keller des Postgebäudes gebracht habe, jedenfalls sei eine ältere Frau dort gewesen, von der sie erst später erfahren habe, dass es Frau Habietinek war. Dann Frau Eggl, Frau Frindt aus Edlach, das Ehepaar Karasek, Frau Reifböck, und Frau Fischer sowie die Schwestern Waissnix und womöglich noch eine andere Frau. Der Raum sei auch tagsüber verdunkelt gewesen. Zur Verrichtung der Notdurft sei ihnen ein nicht gedeckter Kübel für Frauen und Männer in den Raum gestellt worden, der einen furchtbaren Gestank verbreitet habe.
Als er am dritten Tag zu Mittag mit dem Essen hingekommen sei, schilderte Habietinek, habe er die Tür versperrt vorgefunden. Er sei zu Ortsgruppenleiter Plechard gegangen, um zu fragen, was mit den verhafteten Frauen geschehen sei, worauf dieser ihm antwortete, die wären in der Früh mit einem Auto zum Kriegsgericht gebracht worden. Diese Meldung habe ihn beruhigt, da er wusste, dass gegen seine Frau nichts vorliege.
Zwei, drei Tage, nachdem alle Nazis bereits geflüchtet gewesen seien, habe ein Freund, der auch in der Prein wohnte, zu ihm gesagt, es wisse schon die ganze Prein, aber niemand traue sich, es ihm zu sagen, dass seine Frau bereits am dritten Tag ihrer Verhaftung erschossen und von Plechard eigenhändig in eine Grube geworfen worden sei.

Wie etliche Zeugen den Behörden bestätigen könnten, sagte S., sei er seit Anfang April ständig im Dienste des Volkssturms gestanden, und zwar in Hirschwang, wie er in jeder Befragung angab, als handelte es sich um ein Alibi. Erst am 29. April sei er angewiesen worden, als Volkssturmmann in die Prein zu fahren und für den dortigen Volkssturm Brot zu backen. Das habe er dann auch bis zum 5. Mai gemacht. Am 8. Mai sei die Rote Armee nach Prein einmarschiert. Erst Ende Juli oder August habe er dann in Bruck/Mur erfahren, dass in Prein vor dem Zusammenbruch mehrere Personen erschossen worden seien. Wohl habe er noch vor dem Zusammenbruch, als er Brot gebacken habe für den Volkssturm, in Prein über irgendwelche Erschießungen munkeln gehört, aber nichts Näheres erfahren.

Wozu sich Hitler im März 1933 von der demokratisch gewählten Volksvertretung noch alleine ermächtigen hatte lassen, war schließlich weit genug durch die gesamte Gesellschaft gedrungen, dass sie bis in ihre kleinsten Glieder sich das böse Geschäft von Unsicherheit, Bestrafung, Angst, Denunzierung und auch Mord als Ermächtigungsgesellschaft selbst besorgte. Am Ende funktionierte das so gut, dass nicht nur für die Opfer kein Entkommen mehr war, sondern auch die Täter passgenau verkörperten, was sie aus sich gemacht hatten. Sie hörten nicht einmal auf, als ringsum der Krieg bereits entschieden war. Zwang brauchte es dafür längst nicht mehr. Ihre Wahl zwischen Gut und Böse hatten sie gehabt, sie getroffen und nun blieben sie mit wenigen, viel zu wenigen Ausnahmen bis zum Ende an ihrem Platz im Getriebe, oft genug sogar darüber hinaus. Nahtlos funktionierte diese Mechanik selbst in den letzten Tagen noch. Kein Wunder, dass für die Morde an den Frauen und Alten in den Kellern niemand schuldig gesprochen wurde. Die einzelnen, die hier so lange wie möglich mordeten, denunzierten, verdeckten und schwiegen, waren darin als Gesellschaft aufgegangen.

Nur die 34-jährige Marie Landskorn, Mutter von vier Kindern und jüngste der 26. April 1945 im Eggl-Keller noch Eingesperrten, zählte am Vormittag dieses Tages weder zu den sechs über die Straße in den Kaiserhof geführten und dort erschossenen Frauen noch befand sie sich unter den später aus einer Grube neben dem Preiner Friedhof ausgegrabenen Leichen. Obwohl vor dem Volksgericht mehrere Zeugen bestätigten, dass Landskorn sich im Keller befunden habe, blieb sie verschwunden. Bis eine ihrer Töchter im Gasthaus Schiffauer, wo sie im benachbarten Nasswald als Dienstmädchen gearbeitet hatte, von einem betrunkenen Holzknecht, der dort Stammgast gewesen war, bedrängt wurde. Als der Mann ihren Namen erfuhr, konnte er offenbar nicht an sich halten und rühmte sich, 1945 gemeinsam mit einem anderen ihre Mutter getötet zu haben. Als von der Gendarmerie an der von ihm angegebenen Stelle gesucht wurde, fand man tatsächlich eine Frauenleiche. Doch anhand von Kopf, Knochenstücken, Resten von Kleidern und eines Teppichstückes habe die Großmutter des Dienstmädchens keine klärenden Feststellungen treffen können, zudem sei ihr von den Behörden nahegelegt worden, die Sache nicht weiter zu verfolgen.

Karl S. schließlich war seit dem 30. Juli 1945 wegen «Teilnahme an Mord» vom Gendarmerie-Hochgebirgsposten Prein steckbrieflich gesucht worden. Ausgerechnet der am 14. November dieses Jahres aus englischer Kriegsgefangenschaft zurückgekehrte Sohn der ebenfalls im Keller des Hotel Kaiserhof erschossenen Johanna Eggl traf ihn dann auf der Heimreise in einem Bäckerbetrieb in Bruck/Mur an, weshalb S. am 28. Dezember 1945 ebendort verhaftet wurde.
Im Volksgerichtsverfahren gegen die Hauptverdächtigen der NS- Mordgeschehnisse im Gebiet zwischen Rax und Schneeberg führte man ihn danach als Zeugen, da sein eigenes Verfahren wie auch jenes gegen den Gendarmen Irschik mit 17.10.1946 abgetrennt worden war. Per 7.11.1949 stellte man das Verfahren gegen S. aufgrund Erklärung der Staatsanwaltschaft, es bestehe kein Grund mehr zur weiteren gerichtlichen Verfolgung, gänzlich ein.

Er habe die Mutter dieses Mädchens umgebracht, musste der Holzknecht im Gasthaus sagen. Und Karl S. fügte vor dem Volksgericht eigens hinzu, er selbst sei auf Frau Habietinek nicht schlecht zu sprechen gewesen! Beide scheinen sie die Namen ihrer Opfer im Mund gebraucht zu haben, um nicht doch daran zu ersticken. Und wie ist das mit ihren Mitwissern, mit den Zeugen oder dem mutmaßlichen Mittäter im Fall Marie Landskorn? Wie ist das in all den Familien, jenen der Opfer, jenen der Täter, der Mitwisser und der anderen Schweigenden? In all den Ortschaften im Schatten der Berge.

Anmerkung des Verfassers: Am Abend des 24. April 2025 läutete bei mir das Telefon mit einer unbekannten Nummer aus den USA. Eine unverkennbar wienerische Stimme am anderen Ende und ein Name, den ich von einem Gespräch mit jemand anderem seit der Lesung in Reichenau bereits kannte. Die Stimme gehörte einer direkten Verwandten Marie Habietineks. Sie hatte die «Die letzten Tage» bereits zum zweiten Mal gelesen und wir redeten lange, es gab viel zu erzählen. Ganz am Ende fragte sie mich, ob ich mit ihr zu den Akten im Wiener Stadt- und Landesarchiv gehen wollte. Denn das einzige, das sie über den Mann wüsste, der damals Marie Habietinek denunziert hätte, sei dessen Beruf. Ich sicherte ihr meine Begleitung noch in derselben Sekunde zu, in der sie dessen Berufsbezeichnung bereits genannt hatte. Ich als Schreiber hatte wohl auf ganz ähnliche Weise wie sie als Leserin aus meinem Buch verdrängt, wie die Berufsbezeichnung jenes Mannes S. lautete, der bis an sein Lebensende in Prein an der Rax gelebt und auf demselben Friedhof wie Marie Habietinek bestattet worden war: Bäcker.

(erstmals veröffentlicht in «Die Presse»)

Martin Prinz «Die letzten Tage», Jung und Jung, 2025, 272 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-99027-415-6

Martin Prinz, geboren 1973, aufgewachsen in Lilienfeld A, lebt als Schriftsteller in Wien. Er schreibt Reisegeschichten, Drehbücher und Romane (u.a. »Der Räuber« und »Die letzte Prinzessin«). Zahlreiche Auszeichnungen, u.a. Drehbuch-Preis des Filmfestivals in Gijon.

Rezension «Die letzten Tage» mit Interview («Der Bäcker, der Mörder, die verschwundene Tote» ist ein Folgetext dessen.)

Rezension «Die unsichtbaren Seiten» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Lukas Beck

Elise Schmit «Kleine Farbenlehre»

Der zweite Eimer war einmal weiß. Er gehört zum Haus, er steht in der Ecke hinter den Fahrrädern. Dort steht auch ein Besen mit abgebrochenem Griff, eine Schneeschaufel, ein halbvoller Sack Streusalz. Die Fahrräder sind blau, im Prinzip, aber immer schmutzig; die Hausbewohner fahren über Feld- und Waldwege damit, kann man sich vorstellen, es kleben Schlammspritzer daran und manchmal Gras oder welkes Laub. Ich fege einmal über die Reifenprofile, ohne die Räder zu bewegen, ich fege die abgefallenen Erdkrumen unter den Gestellen zusammen, so gut es geht. Die Luft zieht unter der Hintertür herein, zerstreut den Schmutz und treibt ihn in neuen Anordnungen zusammen, fügt noch weiteren hinzu, Zigarettenstummel, Taubendreck, Grind von der Straße. Der Kellerraum gehört nicht zum Auftrag, aber es ist besser, ihn sauber zu halten, wenigstens einigermaßen, wenn es regnet vor allem, wenn feuchte Schuhsohlen die Brösel als Abdrucke im ganzen Haus verteilen.

Ich lasse Wasser in den zweiten Eimer laufen, obwohl er nicht mir gehört und nicht der Arbeit, das darf ich eigentlich nicht, das Eigentum der Hausbewohner ist unantastbar, aber den Eimer mit nach oben zu nehmen spart mir einmal Hinab und Hinauf, spart also Zeit, spart das Geld der Hausbewohner, so denke ich. Der Arbeitseimer glänzt speckig, neu und türkis. Unsere Eimer werden regelmäßig ersetzt, damit wir die Firma nicht blamieren. Sauber, sauber soll alles an uns sein, als wäre das eine ungebührliche Unterstellung, dass eine Putzfirma den Dreck anderer Leute aus den Häusern trägt. 

Meine Gummihandschuhe sind gelb. Es gibt auch grüne Gummihandschuhe, die sind besser, die liegen enger an und man rutscht nicht überall ab damit, aber die grünen Handschuhe sind teurer als die gelben, die müssten wir uns selbst mitbringen, wenn uns die gelben nicht gut genug seien, heißt es aus dem Büro, mit freundlichen Grüßen. Die gelben Handschuhe werden regelmäßig ersetzt. 

Die Eimer nicht zu voll, damit das Wasser nicht überschwappt und die Schultern nicht schon schmerzen, bevor man richtig angefangen hat. Ein Eimer mit Lauge, ein Eimer mit Wasser zum Nachwischen. Das Mittel kommt aus einer Flasche mit grasgrünem Etikett, das ist dem Kunden wichtig, sagt das Büro, dass wir etwas für die Umwelt tun.
Man fängt oben an. Oben in diesem Haus steht eine Garderobe auf dem Absatz vor der Tür, ein schmaler Schrank, ein Schuhregal. Ein Regenschirm lehnt an der Wand. Mobiliar im Gemeinschaftsbereich ist in all diesen Häusern untersagt. Wir verstehen das Problem und die Überlegung, knappe Wohnfläche, es geht nicht höher hinauf, also kein Durchgang, also stört man niemanden, so werden die sich das vorstellen, aber wir ärgern uns. Man braucht länger zum Wischen. Man kann sich die Beschwerden schon denken, die einem später das Büro mitteilen wird. Die Stelle mit dem Regenschirm spart man garantiert aus. Man muss aufpassen, dass man keine Dellen und Wasserflecken hinterlässt. Man muss sich diese Anzeichen von Wohnlichkeit ansehen, man muss sich jemanden unter diesen verblichenen Turnschuhen vorstellen, einen dünnen Mann stelle ich mir vor, mit sehnigen Armen und wochentags glattrasiertem Gesicht, einen Mann, der auch am Wochenende früh aufsteht, um durch den Park zu laufen in extra Sportkleidung, und gar nicht richtig ins Schwitzen kommt, stelle ich mir vor, und am Ende seiner Runde beim Bäcker Croissants holt für die Frau mit den drei Paar Stiefeln und das Kind, das hier auch wohnt und etwa sieben Jahre alt ist, kann man sich denken, ein blaues und ein braunes Paar Schuhe, Mädchen oder Junge, das weiß ich nicht, die Regenjacke hellrot, das ist uneindeutig, sein Kind oder nur das der Frau, oder umgekehrt, auch das weiß ich nicht, das will ich gar nicht wissen, dann beruht genug Nichtwissen auf Gegenseitigkeit. 

Die meisten Bewohner bekommen mich nicht mit. Wenn alles gutgeht, verschwinde ich in meiner Arbeit, bin wie nie dagewesen, Sauberkeit sieht man nicht, nur den Dreck. Wüsste man’s, wenn man die Eimer sähe? Was sagt der zweite Eimer über mich, was sagt das Einsparen von Anstrengungen, was sagt die Farbe meiner Gummihandschuhe? Vielleicht ist das offen, eine Kreuzung, an der alles Mögliche zusammenlaufen kann. 

Von rechts nach links, links nach rechts mit der Bürste, so die Treppenstufen hinab. Die Stufen sind dunkelgrau gefliest, man sieht jede Spur, wer sich Dunkelgrau ausdenkt für Treppen weiß nichts von Eimern und Gummihandschuhen, den Schmerzen im Nacken und im Kreuz. In diesem Haus muss ich mit klarem Wasser nachwischen, die Seifenlauge hinterlässt sonst Rückstände, und dann heißt es: die vom Putzdienst machen ihre Arbeit nicht, die schieben nur schnell den Dreck hin und her. Ich hebe den Fußabtreter auf und stelle ihn zusammengerollt auf die Kante, schiebe die Borsten und Krümel auf der Schaufel zusammen, die Schaufel ist aus neu glänzendem Plastik, türkis wie der Eimer. Ich wische eine klare Linie von der Tür bis zum nächsten Treppenabsatz. Der Fußabtreter ist sandfarben mit schwarzer Borte. In der Mitte steht ein einfältiger Spruch, der nicht mir gilt. Bevor ich gehe, werde ich den Fußabtreter zurücklegen, aber andersherum, so dass sich der Spruch der Person zuwendet, die aus der Wohnung hinaustritt, die hat mehr davon. 

Von rechts nach links, links nach rechts mit der Bürste, weiter die Treppenstufen hinab. Nicht zu fest, nicht so, dass die Bürste gegen die Kanten knallt. Die Türen bleiben zu, aber manche melden sich im Büro, das ist zu laut, sagen sie, das stört uns beim Verrichten wichtiger Dinge. Dabei bin ich allein gar nicht laut. Wenn er mitkommt, dann ja, wenn er nicht auf mich hört, wenn ich sage, er müsse stiller sein, wenn er, was er immer tut, die Teppiche kommentiert und die Schuhe, die Namen auf den Klingelschildern. Er kommt zum Helfen mit, wie er sagt, damit mir die Arbeit schneller von der Hand gehe, damit meint er nicht, damit ich schneller fertig sei und Zeit hätte für Eigenes, Spaziergänge oder Sport oder was die Leute in ihrer Freizeit tun, sondern dass ich danach außerhalb der Firma Aufträge annehmen, mehr Geld verdienen könne, das meint er, dass wir „uns was leisten“ könnten, zum Beispiel eine Reise zu den Eltern oder einen größeren Fernseher oder vielleicht irgendwann ein Auto, das nicht alle paar Wochen einen neuen Schaden hat. Der Fernseher interessiert mich nicht und mit dem Auto lässt er mich dann doch nicht fahren, nicht einmal zum Supermarkt. Wozu es denn Busse gebe, wozu denn unnötig Benzin verfahren, der Bus halte doch alle halbe Stunde fast direkt vor der Tür. Sein Auto ist grau, er nennt die Farbe „metallic“. Das Auto wäscht er jeden zweiten Samstag ab, auch im Winter, er hat extra Schwämme und Lappen dafür. Danach ist er gut gelaunt. Er fährt zu seinen Freunden und lässt mich mit seinen Kindern allein. Ich müsse nichts machen, sagt er, ich könne gern fernsehen, die Kinder kämen allein zurecht und schließlich habe jedes ein Zimmer für sich, ein eigenes Zimmer, das habe es in unserer Kindheit nicht gegeben. Er sagt das, als wüssten Kinder nicht, was ein Dachboden sei, und als müsste er nicht im Wohnzimmer auf dem Sofa schlafen. Er sagt es, als wären wir alt jenseits von Wünschen für die Zukunft.

Der Fernseher nimmt das halbe Wohnzimmer ein, ein großes schwarzes Fenster ins Nichts. Wenn er keine Aufträge habe, müsse er sich beschäftigen, sagt er, aber bewegen könne er sich nicht, weil ihm von der Arbeit die Anstrengung noch in den Knochen stecke, ganz tief in den Knochen, das könne ich mir gar nicht vorstellen, diese Müdigkeit immerzu. Ich sage nichts. Ich koche und putze und beziehe die Betten neu.

Manchmal, wenn wir uns vertragen, setze ich mich neben ihn und sehe, was er sieht auf dem großen Bildschirm. Manchmal bringe ich ihm ein Bier aus dem Kühlschrank und nehme mir auch eins. Wenn die Mutter uns sähe, sagt er dann, wie wir hier sitzen. Wie wir hier sitzen, sage ich, wie wir die Flaschen ohne Untersetzer auf den Tisch stellen, das gäbe schön Streit. Dann lachen wir beide. 

Sie dürfen Ihren Mann nicht mit zur Arbeit bringen, heißt es aus dem Büro, aber er ist nicht mein Mann, er ist mein Bruder, einen Bruder wird man nicht los, schon gar nicht, wenn man das Haus der Eltern mit ihm teilen muss, weil es sonst nicht geht, weil man leider sogar Geld braucht, bevor man sich ein Haus aufteilen kann, das einem schon gehört. 

Für die letzten beiden Treppen lasse ich frisches Wasser in die Eimer laufen, denn unten ist es schmutziger als oben, dort kommen mehr Menschen vorbei, einfache Rechnung. Wenn jetzt nur niemand hinausmuss. Wenn jetzt nur niemand hereinkommt und über die feuchten Fliesen stapft. Aus der Wohnung im Erdgeschoss riecht es nach Essen. Eine Frau singt ein Lied aus dem Radio mit. Leise, leise wische ich an der Türkante vorbei, damit sie mich nicht hört und mir einen Kaffee anbietet. Sie hat das schon mehrfach versucht und sah ehrlich enttäuscht aus, als ich den Kopf schüttelte. Das Büro gestattet solche Pausen nicht. Wir sollen die Bewohner in Ruhe lassen. Was, wenn euch jemand sieht, wie ihr Geld verdient mit Kaffeetrinken, heißt es. Das könne man sich als Firma nicht erlauben. 

Ich schwenke beide Eimer sorgfältig aus, auch den alten, der zum Haus gehört. Auf dem Weg nach oben wische ich mit einem sauberen Lappen das Geländer ab. Das machen nicht alle. Einige nehmen mit Bedacht den schmutzigen Lappen und freuen sich, wenn sie an die Bewohner denken, die sich an ihrem eigenen Dreck festhalten beim Treppensteigen. Ich sehe das nicht ein, einen Schaden zuzufügen, dessen Erfolg man nicht überprüfen kann. Ich lege die Fußmatten zurück. Ich bin fast fertig. Die Kellertür steht noch offen, ich muss noch meine Jacke holen und meine Handtasche. Meine Jacke ist alt, wer zieht sich auch schön an zum Putzen, und die Handtasche praktisch. Ich betrachte kurz meine Hände, die sind aufgequollen, ein bisschen grau an den Gelenken, und tun weh. 

Entschuldigung, sagt die Frau beim Eintreten, es tue ihr sehr leid, aber sie müsse nach oben. 

Die Frau trägt einen hellen Wollmantel und eine Handtasche, die ich aus einer Reklame kenne. Sie hält inne, als warte sie auf meine Erlaubnis.
Ist trocken, sage ich, kein Problem.

Die Mülltonne müsse ich nicht in den Keller tragen, sagt die Frau und lächelt, die könne ich gern draußen stehen lassen, ihr Mann kümmere sich am Abend darum, ich müsse die nicht schleppen.

Die Mülltonne gehört nicht zum Auftrag, für die bin ich nicht zuständig. Ich hätte sie auch so stehen lassen.

Danke, sage ich. Ich warte, bis sie ihre Wohnungstür schließt und wische noch schnell die Stufen nach, bevor ich gehe. 

Elise Schmit «Stürze aus unterschiedlichen Fallhöhen«, Hydre Éditions, 2019, 135 Seiten, CHF 23.90, ISBN 978-3-95602-187-9

Elise Schmit wurde 1982 in Luxemburg geboren und ist dort aufgewachsen. Sie hat Germanistik und Philosophie an der Universität Tübingen studiert. Nach zwei längeren Aufenthalten in Tübingen und einem kürzeren in Paris lebt und arbeitet sie seit 2012 wieder in Luxemburg. Mehrfach wurden ihre Texte beim Concours littéraire national in Luxemburg ausgezeichnet, unter anderem die Erzählung «Im Zug». «Stürze aus unterschiedlichen Fallhöhen» ist ihre erste eigenständige Buchveröffentlichung.

Beitragsbild © Boris Loder

Helmut Blepp «Variationen über März»

Variationen über März Ich habe mich selbst im Baum gekreuzigt. Danach bin ich zur Menschheit hinabgestiegen, um eine zu rauchen. Jede Passion braucht ihre Pausen. Ich widerstehe Erniedrigungsgewohnheiten, indem ich nicht widerstehe. Das verwirrt meine Feinde. Wird ein Doktor krank, dann geht er zum Professor. Wird ein Priester krank, dann geht er zum lieben Gott. Werde ich krank, dann habe ich nichts zu lachen. In der Mittagspause stehen wir gerne in der Sonne und rauchen. Wir machen Wölkchen mit unseren Zigaretten, und nachmittags regnet es dann. Die Kartoffelfeuer im Herbst habe ich geliebt. Sie waren voller Geschichten, und ich konnte mir heimlich wünschen, wer brennen sollte. Ich habe natürlich nichts wahr gewünscht. Mein Freund ist außerhalb der Klinik krank. Da hat er viel mehr Möglichkeiten, verrückt zu sein. Sonntags ist frei, deshalb eignet sich der Sonntag zum In-der-Wiese-Liegen. Wir sind gebadet und gekämmt und kichern, wenn dicke Mädchen vorübergehen. Sie verraten nicht, wohin sie gehen, aber sie geben Antwort. Wenn ich eine Zeit lang ganz stark über etwas nachdenke, werde ich meistens traurig wegen all der Dinge, über die ich jetzt nicht habe nachdenken können, obwohl sie es verdient hätten. Woran arbeiten Sie gerade? Kenne ich – Irrtümer? Nein, keine Irrtümer, nur Folgerichtigkeiten: Wenn ich beim Essen das dicke Küchenmädchen beobachte, werde ich folgerichtig hart. Beobachtet sie mich, kriege ich folgerichtig Angst. Wenn ich als Kind Fragen beschwieg, wurde ich folgerichtig geschlagen, wenn ich sie beantwortete, auch. Seither halte ich mich vage. Es gibt Gewächse, die in mir im Gewächshaus wachsen. Gehe ich nach draußen, um zu rauchen, wachsen sie nur noch in mir. Im Schlafsaal verdorren sie. Ich denke, also spinn ich – auch so eine Falle, in die man tappt, um zu gefallen. Mit dem Stationsarzt rede ich nur noch ungern. Er hat Mundgeruch. Dafür kann er nichts. Aber seine Hände verschränkt er immer über seinem Bauch. In dem Moment, in dem er sie hebt, könnte etwas aus seinem Kittel hervorquellen. Wenn ich mir vorstelle, mir nichts vorzustellen, ist das eine schöne Vorstellung. Mein Vater hatte strenge Augenbrauen und bedrohliche Falten um den Mund. Auch wenn er nichts sagte, habe ich ihm sicherheitshalber gehorcht. Mein erster Aufenthalt in diesem Haus war unerfreulich. Ich musste mein Fenster nicht schließen, weil es in den Rahmen genagelt war. Ich musste meine Tür nicht absperren, weil einer da draußen den Schlüssel hatte. Ich aß nur, was mir gereicht wurde von der Dicken mit dem Holzlöffel. Ich machte Pipi in die Flasche und Groß auf die Pfanne. Ich konnte mich nicht mal kratzen, weil sie mich angebunden hatten. Ich durfte nicht mehr schlagen. Ich durfte nicht mehr treten. Aber ich durfte nach oben schauen, wo das Windrad meine Luft austauschte. Es machte ein Geräusch den ganzen Sommer lang. Das redete mit mir. Sonst niemand. Beim Busfahren habe ich mich immer verliebt, jeden Morgen und jeden Nachmittag. Ich schaute dann die Frauen an, die zustiegen, und wenn sie wieder ausstiegen, dachte ich daran, wie es wohl gewesen wäre, mit ihnen eine Familie zu gründen. Mütter werden stets überschätzt, weil sie alles dafür tun, überschätzt zu werden. Meine Mutter hat alles für mich getan, sagte sie immer. Zum Dank habe ich mehr für meine Mutter getan, als sie aushalten konnte. Da habe ich sie überschätzt. Sie kommt nur noch selten. In der Fabrik mit all den Fließbändern und Arbeitern waren die Maschinen und die Menschen kaum voneinander zu trennen. Sobald ich arbeiten wollte, liefen alle weg. Ich hatte Mühe, die Pausen einzuhalten. Der Kündigungsgrund war wohl beiderseitiges Unbehagen. Polizisten sind gut. Sie bringen wieder in Ordnung, was die Verrückten verbrochen haben. Manchmal brauchen sie einen Knüppel dazu. Pfleger haben keine Knüppel, aber sie sind gefährlicher. Sie sind auch da, wenn man schläft und üble Streiche träumt. Erinnerungen erheitern, wenn man sich vorstellt, es seien die Erinnerungen eines anderen. Ich stelle mir vor, dass ein depressiver Mitpatient, der mich nicht leiden kann, sich daran erinnert, dass ich wegen übermütigen Verhaltens fixiert worden bin. Das ist sehr erheiternd, denn mein depressiver Mitpatient weiß ja nicht, was ich für ihn erinnere. Ich habe mit dem Gärtner über einen Wechsel in die Schreinerei gesprochen. Wenn ich eine Säge handhaben kann, ohne mich oder andere damit zu verletzen, werde ich vielleicht als geheilt entlassen. Der Gärtner ist da skeptisch. Er kennt sich halt nur mit Pflanzen aus. Das Lachen ist gut, wenn man Mitlacher an seiner Seite hat. Begeht man das Lachen allein, so ist es mutig. Die Ärzte haben die Macht, mit mir zu machen, was sie wollen. Ich kann machen was ich will, ich bleibe immer machtlos. Das dicke Küchenmädchen lässt sich küssen, aber nicht von mir, obwohl ich drei Zigaretten spendiert habe. Vielleicht helfen Süßigkeiten besser. Es gibt schwere Arbeiten im Gewächshaus und schwierige. Meine Arme eignen sich nur für die Schwierigen. Ich beobachte das Wachsen der Sämlinge. Die Insassen gehen vorsichtig miteinander um. Sie wissen ja, dass sie krank sind, weil sie es jeden Tag gesagt kriegen. Manchmal fallen ruppige Worte. Manchmal wird es zotig, auch bei mir. Aber das kommt, weil ich Soldat gewesen bin. Die reden so. Aufpassen muss man bei Freundlichkeit, die ist immer ärztlich verschrieben. Der Vater war oft sehr böse. Da kam ich ihm gerade recht. So hatte er jemanden, den er für seine Bosheit bestrafen konnte. In der Speisekammer war es ganz dunkel. Ich malte mir Lichter aus, bis er mich zum Essen holte. Wir saßen alle vor der Suppe und dankten dem Herrgott. Man sollte das Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel aus dem Gemeinschaftsraum entfernen. Wenn ein Patient verliert, ärgert er sich und meint, er sei krank. Das kann nicht zur Gesundung beitragen. Der Mensch muss ja arbeiten, weil er sonst verrückt wird. Aber warum müssen wir dann in der Klinik arbeiten? Als Oberschüler hatte ich keine Freundin, aber ich trug Präservative bei mir, bis Mutter sie beim Waschen entdeckte und Vater sie mir verbot. So sollte eine Freundin verhütet werden. Ich gehe zu den Terra-pie-Stunden wegen der Bodenhaftung, die man mir verschrieben hat. Der Sitzungsleiter fragt uns höflich, wie es uns denn heute geht, aber rauchen dürfen wir nicht. Für die Schule trug ich einen Mittelscheitel, damit mein Hirn den unnützen Lehrstoff besser von dem wichtigen trennen konnte. Wenn ich nachmittags nach Hause, ging, trug ich den Kopf schief. Die alten Professoren unterscheiden sich von den jungen Ärzten durch die dickeren Brillengläser. Die riesengroßen Augen dahinter gehen mir bis auf den Grund meines Aufenthalts. Meine Lebensläufe ändern sich situationsbezogen. Wer falsche Spuren legt, ist schwerer zu fassen. Die Liebe ist groß, aber die Leute sind so klein. Wie soll das zusammenfinden?

Helmut Blepp, geboren 1959 in Mannheim, lebt in Lampertheim/Hessen. Studium der Germanistik und der politischen Wissenschaften, selbstständig als Trainer und Berater in Arbeitsrechtsfragen. Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften, in Anthologien und WordArt-Ausstellungen. Vier Lyrikbände bei Eric van der Wal und Edition Desire & Gegenrealismus.

Beitragsbild © privat

Eva Strautmann «Hinüber»

Blick hinüber
in mattes Weiss,
Eierschalen, die brüten?
Davor funkelnde Stachel,
weitläufig vernetzt bis hinein in jede Membran verlorengegangener Körper.
Totgestellt, am Schwanken über unebenes Weiss.
Darunter schneeweiches Gestrüpp,
voller zarter kleiner Ästchen,
die hinausragen.
Nein, kleine Baumstümpfe wie Finger aus der Erde am Stechen,
lauthals `Du bist Schuld`.
Dahinter auf dem Transit direkt ins Fegefeuer?
Nein, lieber auf rot-blauem Teppich ins reichste Land der Welt.
Vergessen werden im Funkeln brauner Scham,
dann lieber Rennen, Wegrennen?
Abwarten, bis der Schrei aus alter Wagnis von oben hallt und dumpf aufstößt in leerem Gras,
versunken unter altem Wasser, 
am Baden in zu vielen Seen,
stülpt sich die Stimme `Du bist Schuld`,
springt im Galopp auf in den Himmel,
unsichtbar geworden.
Der Hall, das Summen, das Vergangene?
Hinter den kohleschwarzen Vorhängen ganz weit hinten am Horizont, 
da kommt sie her, die Stimme.
In die Schächte hineinspazieren an einem hellen Sonntagmorgen,
in den Kabinen verschwinden, `Bitte Ihren Ausweis`,
sich gegenseitig in die Augen greifen, dann vorbei an allen Kalaschnikows
im Tränentunnel,
hinaus blickend auf leere Straßen,
graues Gefieder.
Alles längst vorbei,
gewesen,
nur jetzt gerade hier, gleich ist alles wieder vorbei.
Weg.
Bis es trümmert von oben, von unten, von hinten, von vorne,
bis es trümmert.
Alles zertrümmert.

Abtraction Coloured, Öl auf Leinwand, 2025

Eva Strautmann lebte nach dem Abitur in Grossbritannien. Sie ist Autorin, Künstlerin und Dozentin. Während des Studiums der Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin war sie zunächst als Tutorin und anschliessend als künstlerische Mitarbeiterin an der Hochschule der Künste Berlin tätig. Nach ihrer Tätigkeit als Regieassistentin am Berliner Ensemble folgte ein Umzug nach Frankfurt am Main. Im September 2005 hatte sie eine grosse Einzelausstellung in der Heussenstamm – Galerie am Römer in Frankfurt am Main unter dem Titel „Im Schreiben gehen – Im Malen schauen», bei der sie Bilder und Prosa-Texte kombinierte.

Webseite der Künstlerin

Beitragsbild © privat

Eva Roth und Alice Grünfelder «Das Wetter in einem Jahr», ein Langgedicht

Januar

              Das Wetter hat kein Ende.
Der Himmel ist glatt.
              Wenn hinter dem Himmel nichts ist
              nur Blau und Sonnenschein
              schönes Wetter – 
Tagelang, wochenlang geht es so.

 

Februar

Die Wolken brechen,
als wären sie hart
darüber reißt der Himmel
schreit grell das Licht
darunter liegt milchig die Stadt.

              Ein Milan treibt zwischen den Giebeln
              kreuzt den Flug eines beschriebenen Papiers.

 

März

Sonniges Glück wird überschätzt.

              Sagst ausgerechnet du?

Mit dem Glück ist es wie mit
der Wolke am Himmel.

 

April

Tief hängt der Himmel und trieft
Autos rauschen im Kreis.

              Es rauscht in meinem Ohr.

Ein Funkeln drüben am Berg, eine Antenne vielleicht
vor uns ein Rest Landstraße.

 

Mai

Das Karussell dreht
singt vom Abendrot und wilden Pferden.

Wir lutschen an einem Herz und lachen,
als ob die Lichter niemals löschten.

              So flirrt die Nacht
              und zerrt an Sehnen, 
              Nerven, Lüsten, bis sie reißen.

Ich glaube an Drachenschnüre
und fürchte mich vor dem Sturzflug.

              Aber wir fliegen nicht, wir hängen.

Wie ein Knäuel am Jo-Jo
drehen wir ein
drehen wir aus.
Wir zwei im Blitzlicht, nackt.

Wir drehen uns schwindlig

vergessen die Schnur und 
halten uns fest, du an mir und ich an dir.
Wir drehen uns atemlos.

              Bis das Jo-Jo in die Leine fällt

bis wir nachfedern
bis wir still hängen 
und die Sonne schwarz in den See fällt.

 

Juni

Nachts kommen sie aus Spalten und Ritzen 
huschen durch Rohre und Rinnen
verschwinden

              und lassen den Schwan auf der Wiese zurück.

Frisch gewaschen steht er im Scheinwerferlicht.

              Wenn das Geschrei anhebt
              flattern sie, drehen, keifen.

Wer?

              Die Verwandten der Ratten und Schwäne.

 

Juli

Schlamm wälzt sich uns entgegen 
dampft
wir drängen uns auf den Dämmen.
Ein Getöse hebt an. 
Ein Glockengeläut, ein Zittern in der Luft,
ein Grollen. Die tiefste Glocke setzt aus
stimmt wieder ein 
im Ohr verschwimmen die Klänge 
in die abrupte Stille hinein das Gurren einer Taube 
überlaut und wie von einem Band abgespult.

              «Geschätzte Zuschauerinnen und Zuschauer,
              der Sommer liegt über uns. 
              Wetter findet vorerst nicht statt.»

 

August

              Der Alb hockt und wartet
              in verwirrenden Traumschluchten,
              verheddert sich in meinem Haar.

              Papierflieger schweben am Himmel meines Kopfes
              und weichen den Schreien der Nacht aus.
              –
              Ich gehe die Milchstrasse lang.

Du und das Morgenlicht.

              Hell wird’s erst, 
              im Osten der Lastwagen hupt.

Die Welt ist wieder da.

 

September

Wasser rauscht durchs Wehr. 

              Wichtiges gerinnt zu Nichts.
              Der Schnee fällt zu früh dieses Jahr.

Im Schmelzwasser pickt ein Huhn.

 

Oktober

              Scheinheilig legt sich Nebel
              über den Platz
              erstickt den letzten Sommertag.

Ich sticke den Sonnennebel auf ein Tuch.

 

November

Das ist Glück

              wenn man einmal nicht erschlagen wird vom Totholz
              und einmal nicht ersäuft 
              im Novemberregen
              und einmal nicht in die Leitplanke rutscht
              im ersten Schnee.
              Das ist Glück und Gnade, 
              wenn man immer nicht stirbt.

 

Dezember

              Nebelinseln überm See.
              Eine dunkle Gestalt
              segelt hinaus
              die Ohren voll Windgeheul

stürzt sich über den Rand der Welt
wo sie die Morgenröte erwartet.

Die Welt hustet nur kurz,
bevor sie verschluckt wird.

 

Januar

              Müde klingt das Alphorn
              am oberen See.

Wir wissen, wenn wir lange genug
an der Wand stehen und das Gesicht
gegen Süden halten –
dass irgendwann die Sonne uns trifft.

***

 

Wie es begann? In einem Café, das es heute nicht mehr gibt, schlug Eva vor, dass die eine was schreibt, und die andere schreibt daran weiter; Miniaturen, die in Streichholzschachteln passen, schwebten ihr vor, ich dachte an Renga, das japanische Kettengedicht. Aufs Wetter kam ich durch das Buch „Wolkendienste“ von Klaus Reichert, und ich mailte Eva, wie es wäre, über etwas so Flüchtiges wie das Wetter zu schreiben? Ja, schrieb Eva, und wenn der Anfang nicht passt, schneiden wir ihn später einfach wieder ab. So sprachen wir miteinander in Gedanken ständig übers Wetter, formulierten um, probierten aus. Der Kommentar zum Wetter liest sich jedenfalls Jahre später noch wie ein Meta-Text zu diesem kollaborativen Projekt. Mal ist vom Pieselwetter die Rede, vom Husten und Niesen, Nesseln und Schlingen, von seltsamen Gestalten, die über den See wabern –  es ist hier und da eingeflossen in unser Wetterschreiben.

Bis ein Jahr um war.

Bis ich die Kleintexte in eine Datei packte und Eva mailte.

Einmal gab es auch eine dialogische Version, die wir wieder verworfen haben. Schliesslich haben wir uns in einer «Werkstatt-Session» zusammengesetzt. Haben herausgeschnitten und neu kombiniert und umformuliert, bis kaum noch zu sehen war, welche Szene, welches Bild wem eingefallen ist. Und dann haben wir über Fanzines und Leporellos und Möwen am Bellevue nachgedacht, so ist die vorliegende Fassung entstanden, ein vierhändiges Stück.

© Donat Bräm

Alice Grünfelder, geboren im Schwarzwald, aufgewachsen in Schwäbisch Gmünd, studierte nach einer Buchhändlerlehre Sinologie und Germanistik in Berlin (FU, Magister Artium) und Chengdu (China), war 1997–99 Lektorin beim Unionsverlag in Zürich, für den sie 2004–2010 die Türkische Bibliothek betreute. Vermittelte und übersetzte von 2001-2010 Literaturen aus Asien. Seit 2010 unterrichtet sie Jugendliche, leitet Workshops rund ums Schreiben, Lektorieren und Übersetzen und ist als freie Lektorin tätig. Von Februar bis Juli 2020 war sie für ein Sabbatical in Taipei (Taiwan). Sie ist Herausgeberin mehrerer Asien-Publikationen, schreibt Essays, Erzählungen und Romane. Das Buch Wolken über Taiwan (Rotpunktverlag) stand 2022 auf der Hotlist der Unabhängigen Verlage.

Webseite der Autorin

@ Micheline Oehler

Eva Roth ist 1974 geboren und in Schwellbrunn im Appenzellerland aufgewachsen. Später wohnte sie in Kreuzlingen und seit 2008 in Zürich. Sie schreibt Prosa und Theaterstücke für Kinder und Erwachsene. Von 1997 bis 2014 war sie als Primarlehrerin tätig, danach als Lektorin und Programmverantwortliche im Atlantis Bilderbuchverlag. Von 2009 bis 2011 besuchte sie den Lehrgang «Literarisches Schreiben» der EB Zürich, und 2018/19 war sie Teil des «Dramenprozessors» am Theater Winkelwiese Zürich. Seit 2023 ist sie freie Autorin, Lektorin und Übersetzerin. Sie hat zwei erwachsene Söhne und eine Tochter im Schulalter.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Astrid Ylva Dornbrach «Wenn wir schliefen»

Vogelstill

Vogelstill
ist es in mir
und
wolkenschwer
hängen die
Gedanken
in Himmeln die
noch nicht
erschlossen sind
dem Winter
will ich sein
Eis abgraben
schürfen vom
Tag
was tiefer als
Kristalle liegt
schwerer wiegt
als Erde noch
von Laub
bedeckt
vogelstill
ist es
in Himmeln
die keiner
kennt
wo Eisluft
vor sich
sich hin treibt
und die Zeit
faltet
wie Papier

 

Tomaten schneiden

Schneide die Zwiebeln,
die Tomaten
Scharfes Messer dringt
nicht in mein
Fleisch
Roter Vogel über
dem Haus fliegt
ganz tief
Ich bleibe hier,
hier drin
bis ich das Geräusch
von Flügeln nicht
mehr höre
auf dem Dach

 

Wenn wir schliefen
(Über Dächern Schnee)

Der Schnee auf den
Dächern –
nackt –
die Konturen
unscharf
Wenn auch die
Krähen stumm
bleiben
gibt es nichts mehr
zu sagen

Wenn wir schliefen,
wenn wir doch
nur schliefen

Wer weiß schon
wo wir hingehören
wenn kein Wind
mehr weht
und alles so
still ist

Wenn wir schliefen,
wenn wir doch nur
schliefen

Ein Haus aus Glas
würde auch nicht
mehr zeigen
bei all› dem
Weiß und Grau
und Katzen hinter
Schornsteinen sind
unsichtbar

Wenn wir schliefen,
wenn wir doch
nur schliefen

Vielleicht,
wenn wir schliefen,
könnten wir die
Farben sehen,
wie sie wirklich
sind

Wenn wir schliefen,
wenn wir doch
nur schliefen,
träumten wir
die Krähen bunt.

Astrid Ylva Dornbrach (1965) wurde sie in Pirmasens geboren und wuchs dort auf. Nach der Schauspielausbildung in München kehrte sie in die Pfalz zurück und arbeitet als freie Journalistin unter anderem für die Rheinpfalz. Heute lebt sie als Autorin mit ihrer Tochter in Berlin. Ihre Erzählungen und Romane spielen häufig in der Pfalz. Ihre Texte sind in einigen Anthologien veröffentlicht, beispielsweise in der WORTSCHAU.

Beitragsbild © Astrid Ylva Dornbrach

Monika Littau «Von der Rückseite des Mondes. Chinesische Miniaturen»

Sirren

Hinter der Haustür steht die Schwüle. In der Luft liegt ein hohes Sirren. Ein elektrisches Sirren wie Bauarbeiten. Eine Flex mit Wasserkühlung vielleicht. Ein Gerät in der Hand eines Wanderarbeiters. Unermüdlich tätig, sieben Tage, lange Tage. Zusehen, wie Blocks ausgeweidet werden. Zusehen, wie der Berg mit Türen und Zargen, mit Kloschüsseln und Waschbecken wächst. Wie die Berge verschwinden und neue Berge angehäuft werden. Paletten mit Material. Zusehen, wo bald neue Studenten einziehen können. 

Ich gehe über den Campus. Ich gehe unter den Bäumen. Und Arbeiter sehe ich nicht. Ich gehe und treffe Konfuzius. Er wartet am Haupttor. Sagt, fordere viel von dir. Sagt, erwarte wenig von anderen. Sagt, erspare dir so viel Ärger. Ich nicke, ich gehe und sitze am Seerosenteich. 

Das elektrische Sirren in der Luft, laut, als wäre es ein Flexkonzert. Ich blicke über den Teich und begreife, Bauarbeiter sind hier heute nicht. Schallplatten. Singmuskeln. Trommelorgane. (1) Es sind die unsterblich Geglaubten, die schon zur Han-Zeit als Zungenzikaden den Toten mitgegeben wurden, in der Hoffnung auf baldige Wiedergeburt. Es sind die Singzikaden. Die Männchen machen viel Lärm. 

© Monika Littau

Nordtor

Dahin gehen, wo am Abend die roten chinesischen Zeichen in der Luft hängen. Am Nordtor unter den Augen der Uniformierten das Gelände verlassen, die Straße überqueren, erfahren, dass die Autos immer Vorfahrt haben und die Ampel kein Fußgängergrün zeigen wird. Vor der Glastür eines Ladens stehen, der wie geschlossen aussieht und bereits im Zurücktreten doch noch eine Bewegung drinnen wahrnehmen, als winke mir einer zu. Gegen die Tür drücken und eintreten. Da sitzt eine Frau an der Kasse und hält ihren Säugling auf dem Arm, den sie stillt. Und während ich mich im Laden umsehe und wähle und mich so gut es mit Gebärden geht, verständlich mache, trocknet sie dem Säugling den Kopf mit einem Papiertuch. Und während ich denke, jetzt wird sie das Kind von der Brust nehmen, gelingt es ihr auch mit dem Kind die Waren zu reichen, die Kasse zu bedienen, das Wechselgeld herauszugeben. Ich denke an Pu Yi, den letzten chinesischen Kaiser, wie er von seiner Amme als großer Junge gestillt wird. Ich denke an die Art Gallery unten am Meer mit den martialischen Darstellungen chinesischer Kämpfer, an den Soldaten, der schon tot, gestillt wird von einer Frau, einer Mutter. Pieta ohne Tränen.   

(1) Singzikaden erzeugen mit Schallplatten und Singmuskeln ihre „Musik“, sie haben ein Trommelorgan ausgebildet.  
(2)
 Zikaden galten schon Platon (429-347 v. Chr.) als „Botschafter der Musen“ und „entkörperlichte Seelen“ . Etwas später datieren die aus Jade gesschnitzten Zungenzikaden (Han-Zeit, 206-220 v. Chr.), die man in China fand und dem Glauben an die Wiedergeburt Ausdruck verleihen.  

 

Monika Littau «Von der Rückseite des Mondes. Chinesische Miniaturen» edition offenes feld, 2021

Monika  Littau, 1955 geboren in Dorsten (D) schreibt u.a. Lyrik, Prosa, Romane und Kinderliteratur, erschienen sind mehr als 20 Einzelveröffentlichungen, zuletzt „Von der Rückseite des Mondes. Chinesische Miniaturen“ (2019), „Die sehende Sintiza“ (Roman, 2020) und „Manchmal oben Licht“ (Lyrik,  2021) sowie das „Lesebuch Monika Littau“ (2022). Für ihre Arbeit erhielt sie viele Auszeichnungen und Stipendien, bspw. den Förderpreis für Literatur des Landes Nordrhein-Westfalen und zuletzt den Bonner Literaturpreis (2021). Ihre Lyrik ist übersetzt ins Englische, Tschechische und Arabische.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Monika Littau