Blick hinüber in mattes Weiss, Eierschalen, die brüten? Davor funkelnde Stachel, weitläufig vernetzt bis hinein in jede Membran verlorengegangener Körper. Totgestellt, am Schwanken über unebenes Weiss. Darunter schneeweiches Gestrüpp, voller zarter kleiner Ästchen, die hinausragen. Nein, kleine Baumstümpfe wie Finger aus der Erde am Stechen, lauthals `Du bist Schuld`. Dahinter auf dem Transit direkt ins Fegefeuer? Nein, lieber auf rot-blauem Teppich ins reichste Land der Welt. Vergessen werden im Funkeln brauner Scham, dann lieber Rennen, Wegrennen? Abwarten, bis der Schrei aus alter Wagnis von oben hallt und dumpf aufstößt in leerem Gras, versunken unter altem Wasser, am Baden in zu vielen Seen, stülpt sich die Stimme `Du bist Schuld`, springt im Galopp auf in den Himmel, unsichtbar geworden. Der Hall, das Summen, das Vergangene? Hinter den kohleschwarzen Vorhängen ganz weit hinten am Horizont, da kommt sie her, die Stimme. In die Schächte hineinspazieren an einem hellen Sonntagmorgen, in den Kabinen verschwinden, `Bitte Ihren Ausweis`, sich gegenseitig in die Augen greifen, dann vorbei an allen Kalaschnikows im Tränentunnel, hinaus blickend auf leere Straßen, graues Gefieder. Alles längst vorbei, gewesen, nur jetzt gerade hier, gleich ist alles wieder vorbei. Weg. Bis es trümmert von oben, von unten, von hinten, von vorne, bis es trümmert. Alles zertrümmert.
Abtraction Coloured, Öl auf Leinwand, 2025
Eva Strautmann lebte nach dem Abitur in Grossbritannien. Sie ist Autorin, Künstlerin und Dozentin. Während des Studiums der Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin war sie zunächst als Tutorin und anschliessend als künstlerische Mitarbeiterin an der Hochschule der Künste Berlin tätig. Nach ihrer Tätigkeit als Regieassistentin am Berliner Ensemble folgte ein Umzug nach Frankfurt am Main. Im September 2005 hatte sie eine grosse Einzelausstellung in der Heussenstamm – Galerie am Römer in Frankfurt am Main unter dem Titel „Im Schreiben gehen – Im Malen schauen», bei der sie Bilder und Prosa-Texte kombinierte.
Das Wetter hat kein Ende. Der Himmel ist glatt. Wenn hinter dem Himmel nichts ist nur Blau und Sonnenschein schönes Wetter – Tagelang, wochenlang geht es so.
Februar
Die Wolken brechen, als wären sie hart darüber reißt der Himmel schreit grell das Licht darunter liegt milchig die Stadt.
Ein Milan treibt zwischen den Giebeln kreuzt den Flug eines beschriebenen Papiers.
März
Sonniges Glück wird überschätzt.
Sagst ausgerechnet du?
Mit dem Glück ist es wie mit der Wolke am Himmel.
April
Tief hängt der Himmel und trieft Autos rauschen im Kreis.
Es rauscht in meinem Ohr.
Ein Funkeln drüben am Berg, eine Antenne vielleicht vor uns ein Rest Landstraße.
Mai
Das Karussell dreht singt vom Abendrot und wilden Pferden.
Wir lutschen an einem Herz und lachen, als ob die Lichter niemals löschten.
So flirrt die Nacht und zerrt an Sehnen, Nerven, Lüsten, bis sie reißen.
Ich glaube an Drachenschnüre und fürchte mich vor dem Sturzflug.
Aber wir fliegen nicht, wir hängen.
Wie ein Knäuel am Jo-Jo drehen wir ein drehen wir aus. Wir zwei im Blitzlicht, nackt.
Wir drehen uns schwindlig
vergessen die Schnur und halten uns fest, du an mir und ich an dir. Wir drehen uns atemlos.
Bis das Jo-Jo in die Leine fällt
bis wir nachfedern bis wir still hängen und die Sonne schwarz in den See fällt.
Juni
Nachts kommen sie aus Spalten und Ritzen huschen durch Rohre und Rinnen verschwinden
und lassen den Schwan auf der Wiese zurück.
Frisch gewaschen steht er im Scheinwerferlicht.
Wenn das Geschrei anhebt flattern sie, drehen, keifen.
Wer?
Die Verwandten der Ratten und Schwäne.
Juli
Schlamm wälzt sich uns entgegen dampft wir drängen uns auf den Dämmen. Ein Getöse hebt an. Ein Glockengeläut, ein Zittern in der Luft, ein Grollen. Die tiefste Glocke setzt aus stimmt wieder ein im Ohr verschwimmen die Klänge in die abrupte Stille hinein das Gurren einer Taube überlaut und wie von einem Band abgespult.
«Geschätzte Zuschauerinnen und Zuschauer, der Sommer liegt über uns. Wetter findet vorerst nicht statt.»
August
Der Alb hockt und wartet in verwirrenden Traumschluchten, verheddert sich in meinem Haar.
Papierflieger schweben am Himmel meines Kopfes und weichen den Schreien der Nacht aus. – Ich gehe die Milchstrasse lang.
Du und das Morgenlicht.
Hell wird’s erst, im Osten der Lastwagen hupt.
Die Welt ist wieder da.
September
Wasser rauscht durchs Wehr.
Wichtiges gerinnt zu Nichts. Der Schnee fällt zu früh dieses Jahr.
Im Schmelzwasser pickt ein Huhn.
Oktober
Scheinheilig legt sich Nebel über den Platz erstickt den letzten Sommertag.
Ich sticke den Sonnennebel auf ein Tuch.
November
Das ist Glück
wenn man einmal nicht erschlagen wird vom Totholz und einmal nicht ersäuft im Novemberregen und einmal nicht in die Leitplanke rutscht im ersten Schnee. Das ist Glück und Gnade, wenn man immer nicht stirbt.
Dezember
Nebelinseln überm See. Eine dunkle Gestalt segelt hinaus die Ohren voll Windgeheul
stürzt sich über den Rand der Welt wo sie die Morgenröte erwartet.
Die Welt hustet nur kurz, bevor sie verschluckt wird.
Januar
Müde klingt das Alphorn am oberen See.
Wir wissen, wenn wir lange genug an der Wand stehen und das Gesicht gegen Süden halten – dass irgendwann die Sonne uns trifft.
***
Wie es begann? In einem Café, das es heute nicht mehr gibt, schlug Eva vor, dass die eine was schreibt, und die andere schreibt daran weiter; Miniaturen, die in Streichholzschachteln passen, schwebten ihr vor, ich dachte an Renga, das japanische Kettengedicht. Aufs Wetter kam ich durch das Buch „Wolkendienste“ von Klaus Reichert, und ich mailte Eva, wie es wäre, über etwas so Flüchtiges wie das Wetter zu schreiben? Ja, schrieb Eva, und wenn der Anfang nicht passt, schneiden wir ihn später einfach wieder ab. So sprachen wir miteinander in Gedanken ständig übers Wetter, formulierten um, probierten aus. Der Kommentar zum Wetter liest sich jedenfalls Jahre später noch wie ein Meta-Text zu diesem kollaborativen Projekt. Mal ist vom Pieselwetter die Rede, vom Husten und Niesen, Nesseln und Schlingen, von seltsamen Gestalten, die über den See wabern –es ist hier und da eingeflossen in unser Wetterschreiben.
Bis ein Jahr um war.
Bis ich die Kleintexte in eine Datei packte und Eva mailte.
Einmal gab es auch eine dialogische Version, die wir wieder verworfen haben. Schliesslich haben wir uns in einer «Werkstatt-Session» zusammengesetzt. Haben herausgeschnitten und neu kombiniert und umformuliert, bis kaum noch zu sehen war, welche Szene, welches Bild wem eingefallen ist. Und dann haben wir über Fanzines und Leporellos und Möwen am Bellevue nachgedacht, so ist die vorliegende Fassung entstanden, ein vierhändiges Stück.
Alice Grünfelder, geboren im Schwarzwald, aufgewachsen in Schwäbisch Gmünd, studierte nach einer Buchhändlerlehre Sinologie und Germanistik in Berlin (FU, Magister Artium) und Chengdu (China), war 1997–99 Lektorin beim Unionsverlag in Zürich, für den sie 2004–2010 die Türkische Bibliothek betreute. Vermittelte und übersetzte von 2001-2010 Literaturen aus Asien. Seit 2010 unterrichtet sie Jugendliche, leitet Workshops rund ums Schreiben, Lektorieren und Übersetzen und ist als freie Lektorin tätig. Von Februar bis Juli 2020 war sie für ein Sabbatical in Taipei (Taiwan). Sie ist Herausgeberin mehrerer Asien-Publikationen, schreibt Essays, Erzählungen und Romane. Das Buch Wolken über Taiwan (Rotpunktverlag) stand 2022 auf der Hotlist der Unabhängigen Verlage.
Eva Roth ist 1974 geboren und in Schwellbrunn im Appenzellerland aufgewachsen. Später wohnte sie in Kreuzlingen und seit 2008 in Zürich. Sie schreibt Prosa und Theaterstücke für Kinder und Erwachsene. Von 1997 bis 2014 war sie als Primarlehrerin tätig, danach als Lektorin und Programmverantwortliche im Atlantis Bilderbuchverlag. Von 2009 bis 2011 besuchte sie den Lehrgang «Literarisches Schreiben» der EB Zürich, und 2018/19 war sie Teil des «Dramenprozessors» am Theater Winkelwiese Zürich. Seit 2023 ist sie freie Autorin, Lektorin und Übersetzerin. Sie hat zwei erwachsene Söhne und eine Tochter im Schulalter.
Vogelstill ist es in mir und wolkenschwer hängen die Gedanken in Himmeln die noch nicht erschlossen sind dem Winter will ich sein Eis abgraben schürfen vom Tag was tiefer als Kristalle liegt schwerer wiegt als Erde noch von Laub bedeckt vogelstill ist es in Himmeln die keiner kennt wo Eisluft vor sich sich hin treibt und die Zeit faltet wie Papier
Tomaten schneiden
Schneide die Zwiebeln, die Tomaten Scharfes Messer dringt nicht in mein Fleisch Roter Vogel über dem Haus fliegt ganz tief Ich bleibe hier, hier drin bis ich das Geräusch von Flügeln nicht mehr höre auf dem Dach
Wenn wir schliefen (Über Dächern Schnee)
Der Schnee auf den Dächern – nackt – die Konturen unscharf Wenn auch die Krähen stumm bleiben gibt es nichts mehr zu sagen
Wenn wir schliefen, wenn wir doch nur schliefen
Wer weiß schon wo wir hingehören wenn kein Wind mehr weht und alles so still ist
Wenn wir schliefen, wenn wir doch nur schliefen
Ein Haus aus Glas würde auch nicht mehr zeigen bei all› dem Weiß und Grau und Katzen hinter Schornsteinen sind unsichtbar
Wenn wir schliefen, wenn wir doch nur schliefen
Vielleicht, wenn wir schliefen, könnten wir die Farben sehen, wie sie wirklich sind
Wenn wir schliefen, wenn wir doch nur schliefen, träumten wir die Krähen bunt.
Astrid Ylva Dornbrach (1965) wurde sie in Pirmasens geboren und wuchs dort auf. Nach der Schauspielausbildung in München kehrte sie in die Pfalz zurück und arbeitet als freie Journalistin unter anderem für die Rheinpfalz. Heute lebt sie als Autorin mit ihrer Tochter in Berlin. Ihre Erzählungen und Romane spielen häufig in der Pfalz. Ihre Texte sind in einigen Anthologien veröffentlicht, beispielsweise in der WORTSCHAU.
Hinter der Haustür steht die Schwüle. In der Luft liegt ein hohes Sirren. Ein elektrisches Sirren wie Bauarbeiten. Eine Flex mit Wasserkühlung vielleicht. Ein Gerät in der Hand eines Wanderarbeiters. Unermüdlich tätig, sieben Tage, lange Tage. Zusehen, wie Blocks ausgeweidet werden. Zusehen, wie der Berg mit Türen und Zargen, mit Kloschüsseln und Waschbecken wächst. Wie die Berge verschwinden und neue Berge angehäuft werden. Paletten mit Material. Zusehen, wo bald neue Studenten einziehen können.
Ich gehe über den Campus. Ich gehe unter den Bäumen. Und Arbeiter sehe ich nicht. Ich gehe und treffe Konfuzius. Er wartet am Haupttor. Sagt, fordere viel von dir. Sagt, erwarte wenig von anderen. Sagt, erspare dir so viel Ärger. Ich nicke, ich gehe und sitze am Seerosenteich.
Das elektrische Sirren in der Luft, laut, als wäre es ein Flexkonzert. Ich blicke über den Teich und begreife, Bauarbeiter sind hier heute nicht. Schallplatten. Singmuskeln. Trommelorgane. (1) Es sind die unsterblich Geglaubten, die schon zur Han-Zeit als Zungenzikaden den Toten mitgegeben wurden, in der Hoffnung auf baldige Wiedergeburt. Es sind die Singzikaden. Die Männchen machen viel Lärm.
Dahin gehen, wo am Abend die roten chinesischen Zeichen in der Luft hängen. Am Nordtor unter den Augen der Uniformierten das Gelände verlassen, die Straße überqueren, erfahren, dass die Autos immer Vorfahrt haben und die Ampel kein Fußgängergrün zeigen wird. Vor der Glastür eines Ladens stehen, der wie geschlossen aussieht und bereits im Zurücktreten doch noch eine Bewegung drinnen wahrnehmen, als winke mir einer zu. Gegen die Tür drücken und eintreten. Da sitzt eine Frau an der Kasse und hält ihren Säugling auf dem Arm, den sie stillt. Und während ich mich im Laden umsehe und wähle und mich so gut es mit Gebärden geht, verständlich mache, trocknet sie dem Säugling den Kopf mit einem Papiertuch. Und während ich denke, jetzt wird sie das Kind von der Brust nehmen, gelingt es ihr auch mit dem Kind die Waren zu reichen, die Kasse zu bedienen, das Wechselgeld herauszugeben. Ich denke an Pu Yi, den letzten chinesischen Kaiser, wie er von seiner Amme als großer Junge gestillt wird. Ich denke an die Art Gallery unten am Meer mit den martialischen Darstellungen chinesischer Kämpfer, an den Soldaten, der schon tot, gestillt wird von einer Frau, einer Mutter. Pieta ohne Tränen.
(1) Singzikaden erzeugen mit Schallplatten und Singmuskeln ihre „Musik“, sie haben ein Trommelorgan ausgebildet. (2)Zikaden galten schon Platon (429-347 v. Chr.) als „Botschafter der Musen“ und „entkörperlichte Seelen“ . Etwas später datieren die aus Jade gesschnitzten Zungenzikaden (Han-Zeit, 206-220 v. Chr.), die man in China fand und dem Glauben an die Wiedergeburt Ausdruck verleihen.
Monika Littau «Von der Rückseite des Mondes. Chinesische Miniaturen» edition offenes feld, 2021
Monika Littau, 1955 geboren in Dorsten (D) schreibt u.a. Lyrik, Prosa, Romane und Kinderliteratur, erschienen sind mehr als 20 Einzelveröffentlichungen, zuletzt „Von der Rückseite des Mondes. Chinesische Miniaturen“ (2019), „Die sehende Sintiza“ (Roman, 2020) und „Manchmal oben Licht“ (Lyrik, 2021) sowie das „Lesebuch Monika Littau“ (2022). Für ihre Arbeit erhielt sie viele Auszeichnungen und Stipendien, bspw. den Förderpreis für Literatur des Landes Nordrhein-Westfalen und zuletzt den Bonner Literaturpreis (2021). Ihre Lyrik ist übersetzt ins Englische, Tschechische und Arabische.
Aus dem Stadtpark klingt leise Reggae-Musik verhaltenes Lebenszeichen in dämmriger Stille
wer wollte hier schlafende Hunde wecken sie scheinen alle begraben
versprengte Passanten schleichen durch die Gassen, in einer Kampfsportschule beginnt der Unterricht, morgen ist wieder Theater, dann geht es nahtlos weiter über Kopfsteinpflaster im Tänzelschritt Arm in Arm
Nietzsche erhebt sich von seinem Denkmal spricht mit Blei im Mund vom dionysischen Glück
dreht die Musik auf! würde er rufen, mit an der Pfeife ziehen und den Mond anheulen
wollt ihr denn alle begraben sein? und aus den Fenstern schauten die Neugierigen, ein Jurist des Gerichts stürmte herbei den morgigen Tag schon jetzt zu vergessen
sich selbst nicht mehr fremd sein, ob unter Gestrandeten im Park oder vor Ort Versandeten –
In deinen tränenfeuchten Augen ruht ein Blick, der schmerzlich, herzlich dir und mir verwehte Leiden, verlorne Stunden und zerronnen Glück zurückrief beiden. –
Tiergarten
Sie alle bleiben vor der Magnolie stehen sie ist die einzige Attraktion zwischen Pariser und Potsdamer Platz, Schloss Bellevue und Schöneberg
im Halbrund der hohen Eichen blüht sie zum Ostergruß dem japanischen Paar wie einer Gruppe dänischer Radfahrer, die hier posieren für ihr Souvenir und sie bedanken sich bei mir für das Bild
von der Luiseninsel klägliches Hundegewinsel eine schrille Stimme keifert und schreit
ich schaue in mein Buch lese den Stummfilm aus schwarz-weißen Zeichen ein stiller Souffleur vor dem Halbmond der Eichen ins eigene Spiel vertieft
ein Specht hämmert zur Pause mitten im ersten Akt, ein Rapper seines Fachs: drei schnabelschnelle Schläge BAUM BEAT BOX unermüdlicher Rave unter freiem Himmel
hunderte rosaweißlicher Blütenkelche applaudieren im Licht, leuchten auf im milde lächelnden Wind
der Souffleur verlässt die Bühne drei englische Damen suchen nach dem Weg, im Trippelschritt nie stehender Jogger
eine gescheckte Elsterkrähe trippelt in ihre Nähe doch nichts fällt für sie ab der Nächste kommt und bleibt vor der Magnolie stehen
wie ein Baum, der das Zittern nicht kennt denkt er sich Wurzeln, eine Aufenthaltsgenehmigung unter der Erde, Vorfahren, die einem das Leben schenken – nicht weiter denken
auf der Krim sind Freunde von ihm stationiert die Verteidigung seiner Doktorarbeit steht kurz bevor und dann geht es zurück in die Heimat, in ihren neuen unausweichlichen Grenzen
Die Augenweide nannte sie ihr Geschäft eine Mischung aus Café und Buchhandlung
wir kannten uns beim Namen sie verkleinerte ihren Laden blieb in Bücher gekleidet, eine stille Augenweide
der letzte Lehrling wurde ihr Nachfolger, ließ das Schaufenster aufblühen, die Wände streichen
sie selbst zog sich zurück, verschenkte ihre Bücher
heute ist sie mir auf der Straße begegnet und erkannte mich nicht
wie in der Verpuppung erstarrt, spannte sich ihr Anorak zur Hülle, hielt sie die Plastiktüte fest
ich lief nicht hinter ihr her, blieb in der Vergangenheit und sah ihrer Gegenwart nach, mit unsicherem Schritt über die Gleise
Straßenfest
Der Baum schmiegt sich ans Haus die Wärme seiner Steine Blütenäste greifen aus durch die gespannte Leine quer über den Asphalt flattern bunte Tücher zwischen den Ballons
ein Kind hält das andere fest, sie drehen sich im Kreis, kreiselkreideweiß
während die anderen hüpfen drei vor und zwei zurück, mit oder ohne Gummi ein Tanztheaterstück
„Jetzt bist du dran!“ zeigt ein Mädchen auf mich und alle lachen – auch ich
Februarmorgen am Rhein
Schillernde Schieferschatten, fließende Furchen
vom Grau des abziehenden Regens getränkt, wälzen sich unter der Last der Kähne Stromschnellen und -wellen durch die Tiefe des Tals
Ausläufer der Schmelze in den Bergen von Schnee und Gletschereis ausblutende Wunden immer schärferen Lichts
wie es von neuem durch die Wolken bricht blendend grell den Blick verengt, über den Flussteppich tanzt in Silberschleifen
als wären die Schiffe ohne Schwere und Kraft, nur behäbige Masse unbändiger Energie, Luftspiegelungen im Funkenschlag –
die Augen schließen vor dieser Wirklichkeit
in sich vor Anker gehen
Volkmar Mühleis, geboren 1972 in Berchtesgaden, lebt und arbeitet in Brüssel, wo er an der Kunsthochschule LUCA School of Arts Philosophie und Ästhetik unterrichtet. Zu seinen literarischen Buchveröffentlichungen gehören die Gedichtbände «Fête de la Musique» und «Gesichtsverlusterkennung» sowie das «Tagebuch eines Windreisenden» und die Novelle «Wasserzeichen».
Mutters Sprache lässt sich vermessen wie das Schnittmuster für ein leichtes luftiges Kleid. Oder wie für einen zu eng sitzenden steifen und unbequemen Anzug. Gefangen in Launenhaftigkeit, schwankend zwischen heiterer Fröhlichkeit und finsterer Unzugänglichkeit durchpflügt sie die Tage. Und dazwischen Leni, die kleine Tochter.
Mutters Sprache ist spitz wie Stecknadeln, welche den Stoff zusammenhalten. Die Worte ritzen Lenis Seele. Leni schaut und lauscht den Stimmen hinter der geschlossenen Glastür. Sie sitzt dort gemeinsam mit dem Hund und versucht, durch das mit Schlieren versetzte Türglas die verschwommenen Umrisse der Mutter und der Gestalt einer weiteren Person zu erkennen. Mutter jagt Hund und Leni von der Glastür weg, sie ist mit Kundschaft beschäftigt.
Mutters Sprache zerschneidet Lenis Tag in Aufstehen, Mittagessen, Nachhausekommen und Schlafengehen. Dazwischen, wenn sie nicht draussen unterwegs ist, liegt Leni auf dem Rücken in ihrem Zimmer und beobachtet durch das Fenster die die vorbeiziehenden weissen Wolkengeschöpfe. Sie zeichnet die Umrisse in ihrem Kopf nach: ein Fisch, ein Teufel, ein Drache, eine Maus, ein Hund. Für Leni sind es glückliche Tage, sie kennt nichts anderes.
Abendessen gibt es dann, wenn der Vater nach Hause kommt. Danach richtet sich Mutters Tageszeit. Der Tisch wartet, gedeckt mit drei Tellern. Leni ist überzeugt, in der falschen Familie zu leben. Vielleicht ist sie adoptiert, denkt sie.
Immer, wenn Mutter mit Kundschaft beschäftigt ist, bleibt Leni sich selbst überlassen. Ihr Reich befindet sich draussen. Sie turnt an der Teppichstange oder verbringt die Zeit vor dem alten Speicher. Durch den breiten Spalt über der Türschwelle spähend und ohne etwas zu erkennen, versucht sie sich vorzustellen, was im Innern des alten kleinen Hauses wohl sein könnte. Welche Geschichten sich dort abgespielt haben könnten, schlimme vielleicht oder auch frohe. Darüber vergisst Leni die Zeit. und die Mutter muss sie suchen, zusammen mit dem Hund an der Leine.
Wenn es regnet, oder nach dem Mittagessen muss Leni in ihrem Zimmer bleiben. Sie richtet dann Räume in Kartonschachteln ein und stellt sich vor, sie würde darin leben. Allein, oder zusammen mit ihren Stofftieren. Sie erzählt ihnen die Geschichten, die sie erfindet. Sie handeln von kleinen Reichen, Inseln, die sich unter einem Baum oder auch mitten in einem See befinden. Um diese Inseln schwimmen Monster, die sich unter ihrem Bett verstecken. Die Mutter erzählt Leni auch Geschichten, abends, im Bett. Leni will dieselbe Geschichte immer wieder hören. Es ist die Geschichte eines Mädchens, dass die Noten auf der Blockflöte nicht spielen konnte, weil ihre Finger die Löcher nicht in der der richtigen Reihenfolge decken konnten oder sich die Löcher hurtig wegduckten, bevor die Finger sie fanden. Die Flötenlehrerin, eine der Mutter ähnelnde Frau mit seltsamen Unterrichtsmethoden verlor die Geduld und schleuderte das hölzerne Instrument durch das Zimmer. Leni staunt, dass die Flöte dabei nicht zerbrach und die Geschichte damit gut ausging. Doch Mutter will diese Geschichte nicht erzählen, sie gefällt ihr nicht, sagt sie.
Am Tag ist es plötzlich totenstill in der Wohnung. Leni öffnet leise die Zimmertür, dahinter liegt Mutter reglos auf dem Teppichboden. Leni schleicht sich ins Zimmer, setzt sich neben die still daliegende Gestalt und wartet. Mutter bewegt sich nicht. Lebt sie noch? Leni beginnt sich zu fürchten. Vielleicht ist die Mutter tot und Leni und der Hund sind dann ganz allein. Vorsichtig berührt sie den Arm der Mutter. Keine Reaktion. Lenis Angst um die Mutter wächst, sie versucht herauszufinden, ob sie noch atmet. Dabei weckt sie die schlafende Mutter, ihre Stimme zerreisst die Stille wie ein Stück Papier. Leni ist erschrocken und glücklich zugleich, die wütenden Worte der Mutter sind nicht schlimm, weil sie ja lebt und weiterhin auf Leni und den Hund aufpassen kann.
Draussen vor dem Fenster sitzt bereits die Dunkelheit wie ein grosses, pelziges Tier. Leni darf fernsehen. Mutter muss mit dem Hund noch raus, Leni will nicht mit, sie will diesen Film fertig schauen. Als der zu Ende ist, stellt Leni den Fernseher aus. Sie ist allein in der Wohnung. Leni wartet auf die Mutter und den Hund, dass sie endlich zurückkommen.
Keiner kommt. Der Schlüssel steckt im Schlüsselloch. Leni wartet hinter der Tür, spielt am Schlüssel, bis sich dieser dreht. Jetzt ist die Tür verschlossen. Mutter und der Hund können nicht mehr in die Wohnung, und Leni kann nicht raus. Leni spürt, wie das Monster unter ihrem Bett hervorkriecht, um sie zu fangen. Mit zittrigen Fingern nestelt Leni panisch am Schlüsselbund. Der Schlüssel will sich nicht zurückdrehen lassen, so verzweifelt sie es auch versucht.
Leni klettert auf den kleinen Balkon im ersten Stock und über das Geländer. Das Rufen ihrer Kinderstimme nach der Mutter versinkt in der pelzigen Dunkelheit des Abends. Sterne blinken, als Leni über das Geländer klettert und in die Tiefe springt, der Mutter entgegen.
Textile Collage Bader 4/1
Béatrice Bader *1968 ist visuelle Kunstschaffende und Erzählerin des Unaussprechlichen, arbeitet an der Schnittstelle von Kunst und Sprache. Ihre Werke sind wie Fenster in verborgene Welten, geprägt von einer feinen Sensibilität für das Flüchtige und das Bleibende. Ob in Bildern oder Worten – sie sucht das, was hinter den Dingen liegt, das Unsichtbare, das wir fühlen, bevor wir es verstehen. Als Autorin erzählt sie Geschichten, die den Alltag mit Poesie durchdringen, und als Künstlerin verwandelt sie Gedanken in Formen und Farben. Ihre Werke sind ein Dialog zwischen dem Innen und dem Aussen, der Stille und dem Klang. Béatrice Bader lädt ein, innezuhalten – und für einen Moment die Welt neu zu sehen.
Wolfgang Klein, geboren 1958 in Wien, aufgewachsen in Niederösterreich, Abschluss der HTL Wien für heute bereits antiquierte Nachrichtentechnik (Wahlscheibentelefon, 1 Computer für alle Wiener Schulen,…), lebt seit 2004 mit Familie (Ehefrau, Husky- & Mischlingshündinnen) im Wienerwald. Autodidakte künstlerische Tätigkeiten: mit Schrift kombinierte Malversuche, auch Keramiken, vorwiegend jedoch schreibend: Dramulette, Kurzgeschichten, Lieder, Poesie, Lyrik.
Ich hab mich verirrt Wimperntusche vergessen Auf der Treppe Das Fenster ließ sich nicht Schließen der Vorhang Klemmte als Segel Tuch im Rahmen ich musste Auf einen Stuhl steigen Um die Flatter zu machen Kann viel erzählen Von munteren Monden Verschütt gegangenen Verben verloren Geglaubten Schlüsseln Kann auch behaupten Ich spiele bloß mit Der Zeit wenn der Abend Lang genug wird
Innen
Ohne Sonne werfen Wir weniger Schatten Aufeinander dann Wird es wärmer Ich kann dich erkennen Du bist leichter Als Wind du drehst Mir am Glücksrand
Auftritt
Unter der Brücke Weht es mich durch In unvermutete Richtungen Ich soll mich erinnern An große Sprünge Gedächtnis Lücken übertreten dabei Komme ich eigentlich aus Dem Eishaus habe dort Zucker Statt Wasser getrunken und Aufgepasst dass der Überschuss Zeit nicht aufs Kleid tropft Du siehst aus als wolltest du Mir als erster begegnen Nur einmal in diesem Leben Auf meinen Ostmund Setze ich einen Rotstift an Den du für voll nehmen sollst Du hörst ihn glitzern Während ich rede
Glasfasern
In deinen Armen Schleppst du eine Reißprobe Durch die Idylle Sehnen sind am Zerspringen Wir sollten eigentlich Nicht davon sprechen Was du am Sonntag machst Dass Wandern Kein Sport ist Dass wir uns beide Zu schwer sind du solltest Eigentlich gar nicht Mit mir über Sehnen sprechen
Unberührbar
Kopierer geben den Geist auf Was wir schreiben lässt sich kaum Drucken nichts Schwarzes will halten Auf einem Weiß das unter ihm bricht Die Geduld des gesamten Papiers Hängt nur noch an einem Faden Keine Silbe hat deine Augen
Knapp über Null
Zu kühl für die Jahreszeit Sagen sie warten mit Gurkensetzlingen Der Eisheiligen wegen Du gießt Wasser ins Glas es könnte sich Glatt eine Schicht drauf bilden Ich werde eine Clematis pflanzen sag ich Streif deinen Kosmos du siehst Mich an von der Seite als würde sich was Lichtes bestätigen das du Schon lange über mich weißt und nie Ganz glauben konntest
(bisher unveröffentlichte Gedichte)
Franziska Beyer-Lallauret, geboren 1977 in Mittweida, wuchs im sächsischen Muldental auf und studierte in Leipzig Germanistik und Französisch. Nach längerem Aufenthalt in der Bretagne lebt sie heute mit ihrer Familie als Deutschlehrerin und Autorin in Avrillé bei Angers an der Loire Sie schreibt sowohl auf deutsch als auch auf französisch, bzw. überträgt ihre deutschen Texte wie bei ihren beiden letzten Gedichtbänden («Falterfragmente / Poussière de papillon» und «Lauschgoldfisch / Brise Âme», beide dr. ziethen verlag Oschersleben 2022 und 2025) eigenständig ins Französische. Auszeichnungen: Ulrich-Grasnick-Lyrikpreis 2021 (1. Preis), Shortlist des Bonner Literaturpreises 2021, Finalistin beim Lyrikpreis Meran 2022. Mitglied der internationalen Lyrikgesellschaft Leipzig e.V., des Friedrich-Bödecker-Kreises und des PEN Deutschland.
wir sind manchmal doch weiter voneinander entfernt als ich gerne glauben möchte. Sie w i s s e n, weshalb Sie schreiben, wenn Sie sagen: „Wir sind kleine Gefäße, die an einem Ozean nippen. Mein Bestreben als Autor ist es, diesem wilden Exzess Ehre zu erweisen.“ Was für ein Vorhaben! Ich beneide Sie darum. Dagegen komme ich mir vor, als säße ich nackt – wie Victorine Meurent auf Edouard Manets Bild Frühstück im Freien –zwischen lauter sorgfältig gekleideten Damen und Herren, die einen kulturellen Dialog führen, der nicht (wie bei Manet) unter Gleichrangigen, sondern über meinen Kopf hinweg stattfindet. „Chi-Ball“, „Chakra“, „kosmische Verlängerungsschnur“? Sie zweifeln daran, David, aber Sie haben in bestimmten Lebenssituationen Erfahrungen damit gemacht. Respekt! Da kann ich nicht mitreden. „Wörter sind dünn“, sagen Sie. Aber warum kommt mir so vor, als gehorchten sie Ihnen aufs Wort? Mir steht diese Sicherheit nicht zur Verfügung. Ich träume nachts oft, vor einem Schrankkoffer zu stehen, ohne darin etwas zu finden, was mich kleidet. Dann schau ich an mir herunter und erschrecke vor meiner Nacktheit. Wenn ich aufwache oder durch ein Museum gehe oder durch die diversen Kanäle zappe, die uns umwerben, begegne ich diesem Moment des Erschreckens überall wieder. Meine Lage ist die, nackt zu sein, denke ich manchmal. Nackt begegne ich mir auf vielen Bildern. Und in vielen Sätzen. Dort ist auch häufig von Dingen die Rede, die ich nicht verstehe. Was ist richtig und was falsch? Wer bestimmt den Dresscode? Ich habe keine Antwort darauf und gehöre selten „dazu“. Bei meiner Suche nach einem Gegenüber ist es wohl meine Aufgabe, austariert zu werden von einem mich musternden Blick. Oder es gibt erst gar keinen Blickkontakt. Dafür fehlen mir die Worte. Sie gehorchen mir einfach nicht.
Wie gerne würde ich hin und wieder Mondschein-Romantik vermitteln. Sie sagen, Sie hofften dies nicht zu tun. Warum nicht? Steht Mondschein nicht jedem Dichter, der den Eigengeruch der Nacht aus der Lichtverschmutzung bergen will? Da ist sie wieder: die Sehnsucht. Auch nach Mondschein-Romantik. Ich male mir immer noch das Paradies Schlaraffenland Arkadien aus. Kann einfach nicht die Finger davonlassen. Vielleicht bin ich ernsthaft krank und habe wieder zu viele Äpfel gegessen. Vielleicht lebte ich gesünder, wenn ich das Angebot des freundlichen Clubs akzeptierte, der mich bei sich aufnehmen möchte. Das Problem ist nur, dass ich nichts anzuziehen habe, um mich dort vorzustellen.
Gerade komme ich aus Paris zurück, wo ich erneut zwei Monate verbrachte. Wie schon vor zwei Jahren, als Sie und ich uns zufällig dort über den Weg liefen. Dieses Mal liefen mir ständig Soldaten in kugelsicheren Westen über den Weg, Maschinengewehre im Anschlag. Der Ausnahmezustand war überall sichtbar. Ich grüßte die Soldaten, die vor unserem Haus standen, und sie grüßten zurück. Aus welchem Land kommen Sie, fragten sie nach einer Weile des Grüßens erstaunt, denn sie waren es nicht gewohnt, gegrüßt zu werden.
Aus Deutschland, antwortete ich. Sie lächelten. Deutschland nimmt so viele Flüchtlinge auf. Verwandte von uns. Freunde, sagten sie. Traten höflich auf dem schmalen Gehweg zur Seite, wenn sie mich sahen. Da glaubte ich einen Moment lang, im Paradies angekommen zu sein. Wertgeschätzt zu werden, weil das Land, in dem ich lebe, etwas gelernt hat aus seiner Vergangenheit. Wären da nur nicht die ständig wiederkehrenden Anschläge auf Asylantenheime. Im Feuerlegen kennt mein Heimatland sich gut aus.
In Paris lief ich mir die Füße wund. Die Stadt überwältigte mich ohne Angabe von Gründen. Der Ausnahmezustand ließ sie außerdem ganz anders aussehen als beim letzten Aufenthalt. Kontrollen am Gare du Nord. In den Kaufhäusern. Absperrbänder. Terrorwarnung. Keine endlosen Touristenschlangen vor den zentralen Sehenswürdigkeiten. Abgeriegelte öffentliche Grünflächen, wo ich vor zwei Jahren noch flanierte. Was ich wiedererkannte, war architektonische Grandiosität neben Verfall. Eleganz neben Obdachlosigkeit. Stinkende Abfälle neben üppig blühenden Kamelien in struppigen Hinterhöfen. Schon nach wenigen Ausflügen musste ich mich ins Atelier zurückziehen. Meine Füße streikten. Ich streifte mir Schwimmflossen über und tauchte ab. Las in Jean-Pierre Abrahams Buch „DerLeuchtturm“ über das Leben und die Einsamkeit weit draußen im Atlantik.
„Ohne mir dessen bewusst zu sein, bin ich in die stumpfen Seelen alter Seemänner vorgedrungen…Ich wüsste zu gerne, ob sie auf hoher See jenen Moment erlebt haben, da die Haut dünn, endgültig lichtdurchlässig wird.“
Gedankenträgerin, Tusche auf Papier 2019
Jean-Pierre Abraham öffnet mit einer weit ausholenden Handbewegung das Fenster zur Stille. Sie wird zum Leuchtturm vor der Küste der Bretagne. Nach der Lektüre gab ich jeden Plan auf, etwas Bestimmtes fertigstellen zu wollen. Wochenlang studierte ich das Moos auf dem Haufen rostiger Fahrräder vor meinem Fenster. Hatte Besuch von einer einzelnen Taube, die immer auf exakt derselben Stelle des gegenüberliegenden Daches ihr Revier in Besitz nahm. Hörte aus dem Tanzstudio nebenan Übungen in Schreitherapie. In der Waschküche lernte ich ein junges finnisches Genie kennen. Ein Komponist, der seine Mütze tief über die Augen gezogen hatte, gab mir den Link zu seiner ersten Symphonie. Am Ende des Waschprogramms murmelte er entschuldigend so etwas wie „zeitgenössische Musik findet wenig Zustimmung“ und verschwand nahezu völlig unter seiner Mütze. Direkt neben meinem Atelier lag ein russisches Studio. Dort malte Olga Tänzerinnen in Pastelltönen. Da uns eine gemeinsame Sprache fehlte, verständigten wir uns mittels gefüllter russischer Eier und Baguette. Olga beschrieb mir ihre Bilder, indem sie fliegende Bewegungen mit den Armen machte und die Hand aufs Herz legte. Sich die Augen rieb, als müsse sie weinen, wenn sie von Abreise zu sprechen schien und auf ihr Gepäck zeigte.
Ich tauchte noch tiefer in meine Skizzenbücher und hatte das Gefühl, die Seine in meinen Ohren rauschen zu hören. Wahrscheinlich war ich längst auf den Grund des Flusses gesunken, über mir nichts als bleigraues Wasser, durch das sich Ausflugsboote schraubten. An Deck spiegelte sich der Himmel in chinesischen Selfies. Jemand hatte mit weißer Farbe einzelne Worte auf die Trottoirs der Brücken zur Île Saint- Louis und Île de la Cité gestempelt: Ich bin, stand dort oder: Vernunft.Traum.
Vier Worte reichen, um Philosophie auf die Straße zu bringen! Das begeisterte mich. Vier Worte, die wirksamer sind als jede Vorschrift im deutschen Straßenverkehr. Die Franzosen bauen auf ihren Descartes wie auf solide Brückenpfeiler, die bis in die Moderne reichen.Hier trägt kaum jemand einen Fahrradhelm, fährt niemand auf dem Gehweg, auch wenn es keine Fahrradwege gibt. Rote Ampeln und Fahrspuren dienen lediglich als grobe Orientierung. Trotzdem funktioniert der Verkehr.Selbst Kinder überqueren die Straße bei Rot und niemand regt sich darüber auf. Ich nahm den Bus zum Jardin des Plantes, um mich von der Frage abzulenken, weshalb so ein Verhalten bei uns undenkbar wäre. Erschöpft vom Stadtlärm ließ ich mich auf eine Parkbank fallen.
Asseyez-vous, je vous en prie et parlez moi d`amour (Setzen Sie sich und erzählen Sie mir von der Liebe)
las ich auf einem kleinen Metalltäfelchen, das an unauffälliger Stelle auf der Sitzfläche der Bank angebracht worden war. Was für eine Begrüßung! Leichtfüßig sprang ich auf und verliebte mich sofort in weitere Parkbänke, wo spendable Pariser für ihren finanziellen Beitrag zum Erhalt des Gartens eigene Gedanken oder bemerkenswerte Zitate hinterlassen dürfen. Mancher Besucher nickte mir amüsiert zu, weil ich vor den Bänken kniete, um die herzstärkenden Mittel auf den kleinen Täfelchen abzuschreiben. Es sind zu viele, um sie hier alle wiederzugeben. Am besten kommen Sie selbst noch einmal nach Paris und testen die Wirkung, wenn Sie im Botanischen Garten von Bank zu Bank schlendern wie durch ein durch Fantasie geschütztes Areal. Hier ist vieles möglich, was außerhalb der Mauern, die den Park umschließen, schon wegen des Ausnahmezustands schwer vorstellbar ist.
Nous arrivons toujours à l`endroit où nous sommes attendus. (Wir kommen immer da an, wo wir erwartet werden)
Fast hätte ich den riesigen versteinerten Wirbelknochen übersehen, der wie ein Meteorit aus dem All in ein Blumenbeet gestürzt zu sein schien und als eine Art Mahnmal daran erinnert, dass Mensch und Natur irgendwann eine Einheit bildeten.Gehörte der Wirbelknochen einst einem Pottwal? Ich weiß es nicht, aber zusammen mit Pfingstrosenduft, Buchsbaumornamenten und Orangerien ergab sich ein Szenario, das mir den Kopf verdrehte. Das Paradies schien kurzfristig um die Ecke zu liegen. Fast greifbar nah. Mag sein, dass dieses Drehen des Kopfes die nötige Haltung ist, um den Glückszustand wahrzunehmen, den ich so oft vermisse. Wer stets absprungbereit lebt und das Aroma von frisch gepflückten Zitronen fast vergessen hat, wird schnell mutlos. Ich nahm mir vor, auf dem Rückweg eine Tarte Pommes et Compote zu kaufen. Diese unvergleichliche Köstlichkeit müssen Sie unbedingt probieren. Auf einen knusprigen Mürbeteigboden wird zentimeterdick Apfelmus gelöffelt und mit hauchdünn geschnittenen leicht karamellisierten Apfelscheiben belegt. Ich schicke Ihnen das Rezept gern zu. Ein Biss davon genügt, und Sie sind…..Sie wissen schon wo.
à bientôt
Johanna
«Schreiben ist eine Art von Luftwiderstand», von Johanna Hansen illustriert
(Aus einem deutsch-amerikanischen Schriftwechsel, den Johanna Hansen mit dem Schriftsteller David Oates aus Portland/Oregon über zwei Jahre lang führte. Das Buch erschien im Wortschau Verlag mit dem Titel «Schreiben ist eine Art von Luftwiderstand».)
Johanna Hansen, Schriftstellerin, Malerin, Herausgeberin, Studium der Germanistik und Philosophie an der Rheinischen Friedrich-Wilhelm-Universität Bonn. Lebt in Düsseldorf. Zunächst Sprachlehrerin und Journalistin. 1991 Beginn der künstlerischen Tätigkeit. Seit 1993 zahlreiche Ausstellungen. Seit 2008 literarische Veröffentlichungen als Einzelpublikation, in Literaturzeitschriften, Anthologien und auf Literaturplattformen. Seit 2013 zusammen mit Wolfgang Allinger Herausgeberin der Literaturzeitschrift wortschau. Mehrfache Auszeichnungen. Zuletzt Lyrikpreis Feldkirch 2024.
Sandrine. Notate. Nicht-lineare Erinnerungen eines weiblichen Ichs
„Man kann nicht ohne Liebe lesen. Wenn man schon zuvor ein Bild von einem Text hat, dann weist man ihn ab.“ Hélène Cixous
Ihr Atem ist so leise wie ein Hauch Gänsedaunen. Jetzt, da die Zeit in stehenden Gewässern friert, kann sie die kommenden Verwerfungen spüren. Sie schrauben sich um eine gedachte Achse. Das Gefühl dazu findet sich an keinem Strang. Wie ein Fresko legt es sich auf die Haut. Schicht um Schicht, feucht vermalte Erstarrung.
Erste Texturen falten sich auf. Bislang stets scharfe Umrisse geben die Konturen frei. Eine Art Vorgebirgszone legt sich vor ihr aus, deren Mitte sich ins Freie wölbt, ein Eigenleben führt. Sandrine könnte eine jede sein. Ihr Tagwerk rutscht ins Monochrome ab. Endlos verschleifen sich die Tage, verkürzen sich. Drehen sich nach ihr um.
Paris. Die weiße Wohnung an der Île de la Cité. Je ne suis pas là, ma chère. Die Zeit streckt ihre Fühler aus. Eine Nummer wählen. Dem Rauschen zwischen den Freizeichen lauschen. Laufmaschig zum Quai de Montebello. Taxi!
Rückwärts. Der Steg über den Main. Wasser, das über das Geländer greift. Wände, die auf Tuchfühlung gehen. Flashbacks. She’s like a rainbow. Keine Schonung überdeckt das Danach: Stoßkanten, Risse und ein Verlust, der keiner ist.
Vorwärts. London. Chalk Farm Studios. You are so funny! Stay like this. Peking Duck bei Mr. Chow. Teppiche sind Tagebücher. Sie dämpfen die Gegenwart, mischen sie mit Staub und dem Schlaf der anderen. Abflug.
Französische Provinz. Sandrine inmitten einer Herde Maneches. Waagerecht langgezogene Pupillen, schwarze Köpfe. Sie mischt sich ins wollige Feld: offenporig, körperlos. Voilà.
Zurückspulen. Germersheim. I take you to the backside of the moon. Brachlandig liegen. Furche an Furche. Gleichschaltung zweier Wesen. Augen auf! Es gibt immer ein Dazwischen.
Vorspulen. Zeit ist ein Hüpfspiel. Himmel und Erde, dazwischen Störstellen und haufenweise Glück. Sandrine ist nicht der Diminutiv von Alexandrine.
Jane Wels «Schwankende Lupinen», edition offenses feld, 2024, 80 Seiten, CHF ca. 27.90, ISBN 978-3-7597-2115-0
Jane Wels, 1955 geboren in Mannheim, Magister-Studium der Erziehungswissenschaften, Entwicklungspsychologie und Medienwissenschaften, 1989 erste Lesung im Heine-Haus Düsseldorf, 2024 Debüt mit „Schwankende Lupinen“, Hrsg. Jürgen Brôcan, edition offenes feld, diverse Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften,Anthologien und Online-Magazinen.