Peter Rottmeier „Die vergesslichen Könige“

Sie alle drei brachen auf, dem leuchtenden Stern zu folgen: der Linden-König, der Birnbaum-König und der Fichten-König. Und alle drei kamen mit ihren Dienern aus ganz verschiedenen Richtungen auf Kamelen und Pferden daher. Der Stern mit dem langen Schweif führte sie zusammen. Etwas Grosses musste sich ereignet haben, wenn die drei Weisen die Botschaft des Himmels richtig gedeutet und verstanden haben. Davon waren sie überzeugt und der Gwunder liess ihnen keine Ruh. Miteinander legten sie alle fortan den weiteren Weg zurück.»Wenn sich ein Komet mit hellem Schweif am Himmel zeigt, ist ein ganz besonderes Kind geboren worden. Ein Wunderkind, umgeben von lauter Strahlen», so berichten die alten Bücher.

Der Sternenschein führte sie durch die Wüste voller Sand, dann mit Steinen durchsetzt. Und schliesslich trafen sie auf Hirten, die ihre Schafe und Ziegen an den kargen Hängen am Wüstenrand weideten. Die Hirten wussten von der Niederkunft eines Kindes zu berichten. Arme Leute seien es, welche keinen Platz in einer Herberge fanden und sich mit einem einfachen Stall bei Ochs und Esel begnügen mussten. Miteinander zogen sie weiter, ein Hirte voraus und einige vorwitzige Schafe begleiteten die Wanderschar. Und siehe da! Einem Stern gleich zog von allen Seiten Gross und Klein zu einem Stall draussen auf dem Felde. Je näher sie zum Ort des Geschehens kamen, umso wärmer wurde ihnen ums Herz und immer heller erleuchteten die Laternen die Nacht. «Da musste es sein!» «In diesem lumpigen Stall? Tatsächlich!» Alle drei Weisen streckten ihre Nasen durch einen Spalt zwischen den Brettern und erblickten ein Kind, in Windeln gewickelt. Die Mutter trug es sorgfältig in den Händen und legte es zurück ins Stroh in der Krippe. Der Vater stand mit dem Hirtenstab in der Hand breitspurig daneben, sichtlich stolz über den neuen Erdenbürger. Die drei Weisen aus dem Morgenland sahen sich an und alle drei waren überzeugt: «Das muss es wahrlich sein, das Kind, das für die Menschen dieser Welt Grosses tun wird, ein König soll es sein.»

Ihre Blicke kreuzten sich abermals und es lief ihnen kalt den Rücken hinunter. «Aber wo haben wir die Geschenke für diesen König, der viel grösser sein wird als wir?» Angezogen vom leuchtenden Stern sind sie ihm Hals über Kopf gefolgt. Wer hat denn da schon an Geschenke gedacht? Vergessen, einfach vergessen! Trotzdem wagten sie, sich dem Kinde zu nähern. Ganz verlegen meinte der Lindenkönig: «Ich schenke dir im Sommer meine Blüten, damit du würzigen Tee trinken kannst gegen den Durst oder wenn du krank bist.» «Und ich schenke dir im Herbst die süssesten Birnen meines Baumes.» «Mit meinem Holz kannst du einen neuen Stall bauen, damit die ganze Familie anständig wohnen kann; und noch etwas: es riecht so wunderbar nach Harz.» Wohlklingende Worte waren das – und sie standen halt trotzdem da mit leeren Händen vor dem neuen kleinen König.

Da griff der Fichtenkönig mit seinen langen Armen zum Himmel und holte den wegweisenden, hellen Stern samt Schweif herab auf die Erde. Ein wenig verbrannte er sich dabei schon seine Finger. Der Birnbaumkönig hielt den Stern auf seinen Armen, der Fichtenkönig sorgte sich behutsam um den Schweif und der Lindenkönig schenkte dem Kind halt nur eine leere Schachtel. Etwas verlegen kniete der Birnbaumkönig nieder und streckte dem Kind den leuchten Stern entgegen und lüftete dabei das Geheimnis dieser eigenartigen und wundersamen Gabe: «Ich schenke dir den hellen Stern, der uns den Weg zu dir gezeigt hat. Dazu kommt vom Fichtenkönig der leuchtende Schweif und der Lindenkönig bringt eine Schachtel mit, damit du alles schön versorgen kannst. Und immer dann, wenn du rundum Freude bereiten willst, packst du den Stern und den Schweif aus und er beginnt immer wieder zu leuchten. Wenn du damit dein und andere Herzen öffnest, wird es rundum warm und hell. Und du wirst sehen, du brauchst die Schachtel gar nicht erst zu schliessen. Unsere Welt kann dein Licht im Dunkel immer und überall so gut gebrauchen.»

Und im Einklang wünschten sie dem kleinen, grossen König: «Ein heller Stern möge über dir leuchten und dich begleiten auf all deinen Wegen, wohin sie dich auch immer führen mögen.» Und das wünschten sie sich auch gegenseitig und zogen mit ihrem Gesinde und mit den Tieren zurück zu ihren Lieben – erfüllt von tiefem Glück, strahlend wie Sterne in dunkler Nacht, wie der kleine grosse König.

Peter Rottmeier, geb. 1942, lernte Schriftsetzer/Hausgrafiker, wurde Reallehrer und Schulleiter und wirkt seit Jahrzehnten als Holzschneider und grafischer Gestalter. Daneben betätigt sich Peter Rottmeier als Führer im thurgaueschen Kloster Fischingen.
 

Webseite von Peter Rottmeier (Autor und Künstler)