Lea Frei «Emma und ihre Tochter»

Nele liebt ihre Mutter. Emma liebt ihre Tochter. Manchmal wie eine Mutter, manchmal ganz anders.
Emma findet ihre Tochter anziehend. Schon als sie kaum grösser war als eine Mandel. Obwohl sie sie nie gesehen hatte. Und wenn, dann hätte sie nur in ein unvollständig entwickeltes Gesicht blicken können. Sie war schwanger und alleine. Alleine mit ihrem Kind. Umgab es körperlich wie auch im Gedanken fest und warm. Hätte Emma ihr Befinden zu dieser Zeit schon zu formulieren versucht, wäre es ihr nicht möglich gewesen. Sie empfand in Zuständen, mit allen Sinnen. Deuten konnte sie das damals nicht. Es waren kleine, kurze Höhepunkte, wie die Empfindung großen Glücks, das einen aufschrecken lässt.
Sie genoss, dass etwas in ihr wuchs. Es fühlte sich wie ihr eigenes an. Ein Kind, flüsterte sie im Gedanken und dachte dabei nicht nur an eine neue Freude in ihrem Leben. Sie dachte dabei an einen neuen Sinn. Eine Unterhaltung, eine Aufgabe, an Befriedigung und an Glück. Sie bebilderte die Gedanken in ihrem Kopf. Spielen würde sie mit ihr. Sie morgens und abends mit Öl einreiben. Überall. Emma runzelte die Stirn. Wieso schwoll ihre Vulva warm an? Sie eilte in die Küche, machte sich einen Tee. Verunsichert schob sie die Gedanken von sich. Kann nicht sein, dass mich diese Vorstellung eben erregt hat, oder? 
In solche gedanklichen Sackgassen geriet sie öfter. Emma beunruhigte das.

Nele war fünf Monate alt. Emma legte sie jeden Morgen auf den Wickeltisch. Sie ölte ihr nacktes Baby ein, strich ihr über die Glieder, streckte ihren Rücken. Sie wagte es nicht mehr, ihrem Kind zwischen die Beine zu sehen. Die Zehen. Zu abnormal schienen ihr ihre Gedanken. Die Fingerchen. Emma hatte Angst. Sie hoffte, diese Lust würde verschwinden. Die Öhrchen. Woher kamen nur diese unnatürlichen Bedürfnisse! Die Kraft wich aus ihr. Ihre Knie beugten sich, trafen aufeinander. Sitzen. Toilette. Auszeit. 
Fast jeden Morgen musste Emma Pausen einlegen. Tränen unterdrücken. All das, was sie ihrem Kind schon angetan hatte! Es darf nie wieder geschehen. Sie bereute es zutiefst. Es ist mein Kind! Ein Kind! Ein Kind.

Nele war zwei Jahre alt. Sie spielte im Garten. An diesem Tag waren es Tierfigürchen aus Holz. Ein gelbes Sommerkleid. Emma beobachtete sie verliebt. Ihre Gedanken schweiften ab, hinterließen ein schlechtes Gewissen. Schuld. Dreck. Schmerz.
Ihr sehnlichster Wunsch war es, dass sie am nächsten Morgen ohne solche Gedanken aufwachen würde. Ihr Kind beschützen vor dem, was sie ihr in der Vergangenheit angetan hatte. Sie würde sich gerne bestrafen für diese schlimmen Dinge. Sie wollte damit aufhören müssen. Deswegen wurde sie stetig unvorsichtiger. Sie wollte gesehen werden. Erwischt werden. Demütigung erfahren. Es sollte ihr ausgetrieben werden, diese Gelüste und Taten.

Nele war drei Jahre alt. Sie sprach manchmal schon ganze Sätze. Zählen auf sieben. Aufs Töpfchen zeigen, Bescheid sagen, wenn sie etwas möchte. 
Eine Panik bedrängte Emma mehr und mehr. Ihr Kind formte sich zu einem Individuum, das selbst entscheiden konnte. Ein eigenständiger Mensch mit eigenen Bedürfnissen. Eigenen Interessen. Ein eigenes Universum. Emma kämpfte. Hielt immer länger stand. Die Übergriffe waren schnell und verkrampft. Voller Zwang. Voller Angst. Voller Ekel.

Nele war dreieinhalb Jahre alt. Sie erzählte ihrer Mutter, dass sie vor ein paar Tagen im Wald einen Igel aus einer Kastanie und zwei schwarzen Beeren gebastelt habe, als sie zu zweit spazieren gingen. Da wurde es Emma klar: Ihre Tochter war nun in der Lage, sich zu erinnern. Der Gedanke, sie könnte sich an die letzten Übergriffe erinnern … Emma ging auf die Toilette. Sie übergab sich. Sie übergab sich erneut. Dermaßen angewidert.
Diese Erkenntnis brachte Änderung.

Nele ist heute zwölf Jahre alt. Sie und ihre Mutter Emma liegen nebeneinander auf einem Strandtuch. Schulter an Schulter lesen sie getrennte Bücher. Jede in ihrem eigenen Universum. Emma schielt hin und wieder hinüber, wenn ihre Tochter die Seite umblättert. Den erhaschten Textfragmenten nach muss es sich um eine Liebestragödie handeln. Irgendwie berührt sie das außergewöhnlich stark. Sie senkt ihre Arme. Dort wo das Buch nun ihren Bauch berührt, genau dort schmerz es sie. Sie schließt die Augen, bewegt ihre Pupillen nach unten. Rot ist es. Unterdrückte Tränen.
Mein eigenes Kind. Ein Kind. Ein Kind. 
Nele legt ihr Buch zur Seite. Mama? Wieder ins kalte Nass? lacht sie. Mhm schluckt Emma. Nele schlüpft in den Schwimmreifen, blickt ihre Mutter fordernd an, wie es Kinder eben tun, dann laufen sie zusammen ins Meer. Das Wasser ist wärmer als sonst. Nach wenigen Metern springt Nele auf, klammert sich an die Arme ihrer Mutter. Eine Qualle! An Land! Schnell! 
Emma wird von ihrem Kind ans Ufer zurückgezerrt. Nele läuft lachend zum Strandtuch und beginnt weiterzulesen. Wie groß sie schon ist, denkt Emma noch immer im Wasser stehend. Tatsächlich, es schweben ungewöhnlich viele Dinge in den seichten Wellen, stellt sie fest. Quallen kann sie keine sehen. Sie schmunzelt. Der sonst so gut aufgeräumte und überwachte Strandteil ist heute wilder als üblich. Emma klammert sich an den Reifen, watet erneut ins Wasser. Sie weint. Vor Freude. Ihre Tochter interessiert sich für Liebe. Ihre Tochter will mit ihr auf demselben Strandtuch liegen. Und das Beste, es sind die Quallen, wovor sie Angst hat. Nicht vor ihr. Nicht vor der eigenen Mutter.

Emma läuft weiter. Bald hat sie keinen Boden mehr unter den Füssen. Der Blick zum Strand zurück fühlt sich fremd an. Er fühlt sich so unecht an wie der Blick durch eine Kamera. 
Ein hässlich großes Gebäude ragt weiß aus der Düne. Emma paddelt mit den Füssen. Trotz den heißen Temperaturen wirkt der weiße Beton kalt. Sie paddelt schneller. Sie hasst diese Glaskuppel auf dem Dach. Eine suggerierte Freiheit. Emma schlägt im Wasser um sich.
Dann, zwischen Schirmen und Sand erkennt sie einen weißen Kittel. Emma beginnt zum Ufer zurück zu schwimmen. Nele! Sie holen sie jetzt schon? Sie gräbt ihre Füße heftig in den nassen Boden, um voran zu kommen. Die weiße Person erreicht das Strandtuch. Das dumpfe Geräusch des aufgeschäumten Wassers, wenn ihre Oberschenkel die Wasseroberfläche brechen. Nele steht auf. Die Tasche gepackt. Emma umklammert den Ring mit dem rechten, hebt den linken Arm zum Gruß. Sie tropft. Bis, bis nächste Woche dann? 
Ihre Tochter umarmt sie. Ein ruhiger, zustimmender Blick. Dann die weiße Stimme. Ihre Medikamente, Frau Obers. Es ist 18 Uhr.

Lea Frei (24) ist dabei, ihr Bachelorstudium an der Hochschule Luzern in Illustration abzuschliessen. Sie arbeitet leidenschaftlich an Comics, in denen sie sich mit Themen wie Beziehungen, deren Konsequenzen und zwischenmenschliche Kommunikation auseinandersetzt.