Raphael Schweighauser «Jeux d’esprit» – «Tschuldigung» 4

Sie wäre fast soweit, würde Mutter meinen. Würde die Tür hinter mir schliessen. Die lila Kugeln ihrer Kette würden mit jeder Bewegung lustig klacken. Ich durchliefe eine Wand aus schwerem Parfüm und kaltem Nikotin, hinein in die zu warme Stube. Würde vergessen, meine Schuhe auszuziehen, weshalb Mutter betonen würde, sie hätte stundenlang geputzt. Mutter würde mein Kinn halten, nach links und rechts drehen. Würde meinen, dass ich mich ruhig hätte rasieren können. Dass ich aussehen würde wie ein Mufti. Ich würde sagen, dass man das so tragen würde, dass etwas länger modern wäre. Ich würde die Schuhe ausziehen, mich auf das graumelierte Sofa setzen, zu Vater, der einen Tennismatch schaut.

Er würde mir zunicken. Würde fragen, ob ich denn keine Zeit gehabt hätte, mich zu rasieren. Dass er sich nicht sorgen solle, würde ich meinen, das Kamel wäre draussen angebunden. Was das denn zu bedeuten hätte, würde Vater wissen wollen und dann fragen, wie es beim Schaffen so liefe. Ich würde antworten «gut», und dabei nicken. Was er aber nicht sehen könnte, weil er den Aufschlag verfolgen würde. Ich würde Mutter fragen, ob ich ihr helfen könnte. Dass aber alles bereit wäre, würde sie meinen. Würde dann mit zwei Gläsern Weisswein auftauchen und mir eines in die Hand drücken. Ich würde es zögerlich nehmen, während Vater breitbeinig mit seinen Arbeiterhänden einen grossen Schluck Weizenbier nehmen würde.

Wie es denn so beim Schaffen liefe, würde sie wissen wollen. Und ich würde antworten «gut» und dabei nicken. Sie würde sich ein Stapel Chips Provençale in den Mund schieben, dabei die Handfläche unter den Mund halten. Würde dann Vater anstupsen, weil er sich am Gespräch beteiligen sollte. Was Vater aber nicht bemerken würde, weil auch der zweite Aufschlag zu weit links aufkäme. Worauf ich an meinem Weisswein nippen würde, der zu warm wäre. Mutter würde zittrig eine Zigarette anzünden, die Parisienne Jaune würde dabei mit jedem Zug in ihrem Mundwinkel auf und ab wippen. Dann würde sie kräftig daran ziehen. Ihre Kette würde dabei aufgeregt klacken, zu ihren Gesten applaudieren. Bevor sie wieder in die Küche gehen und nach dem Essen schauen müsste.

Der Tennismatch würde sich ziehen, weil beide sehr gut oder gleich schlecht spielen würden. Vater würde es hin und wieder kommentieren, mit jedem Schluck Bier häufiger. Würde manchmal aufschreien, was der Seich solle. Behaupten, er hätte ganz klar auf links gezielt, backhand. Ich würde nicken, meinen Blick zwischen Fernseher, Glastisch und meinem leeren Weinglas hin- und her wechseln, meinem sicheren Dreieck. Würde die Beine übereinanderschlagen wollen und es dann doch nicht tun, weil Vater dabei wäre. Würde irgendwann aufstehen, meinen, ich würde Mutter helfen wollen. Würde mir dann in der schmalen Küche Wein einschenken und die Flasche in den Kühlschrank stellen.

Würde sehen, dass Mutter draussen die ausgetrockneten, farblosen Hortensien inspizierte, mit einer frischen Zigarette in der Hand. Sie würde mir versichern, dass sie dieses Jahr besonders prächtig gewesen seien. Ich würde kurz heraustreten, die kalte Luft geniessen und auf dem Gartentischchen ein Trinkglas entdecken, gefüllt mit in Regenwasser ertränkten Zigarettenleichen. Dann würde mich Mutter wieder hinein scheuchen, weil es doch gleich Essen gäbe.

Ich würde mich an den Birkenholztisch setzen, mit meinem Weinglas, dass bereits wieder zur Hälfte geleert sein würde. Ich würde Mutters Bewegungen aus der Küche hören, das Öffnen und Schliessen der Backofentüre. Würde sie fluchen hören, wo denn der Weisswein wäre, «Nundefahne nomol!» Würde den Kommentator aus dem Fernseher und Vater aus der Stube hören. Während vor mir die rote Kerze bereits auf das weisse Tischtuch tropfen würde. Mutter würde Saucen auf den Tisch stellen und Mineralwasser in PET-Flaschen.

Vater würde seinen Platz einnehmen, während der Fernseher weiterliefe. In einer halben Stunde käme ein Fussballmatch, würde er meinen und dabei den Rotwein entkorken. Ich würde den getrockneten Bund Hortensienblüten beiseiteschieben, um Platz zu schaffen. Schliesslich würde Mutter mit dem Filet Wellington kommen, es präsentieren und sogleich zerschneiden, es auf unsere Teller hieven, mit der braunen Sauce bedecken. Wer denn jetzt wieder die Hortensien verschoben hätte, würde Mutter wissen wollen. Vater würde allen Rotwein einschenken. Abgelenkt vom Applaus der Kugeln, der Parfumwerbung aus dem Fernseher, «femme fatale, c’est moi!» und der tropfenden Kerze würde ich es verpassen, Vater vom Rotweineinschenken abzuhalten.

Ich würde ihm schliesslich erklären müssen, dass ich noch fahren müsste und dass Rotwein nicht so meins wäre. Er würde meinen, ich sollte nicht so tun. Den Weissen hätte ich auch hinuntergespült. Und würde fragen, seit wann ich denn keinen Rotwein trinken würde. Ich würde es bereuen, erklären zu müssen, dass ich Roten noch nie gemocht habe. Weshalb Vater fragen würde, weshalb ich immer so kompliziert sein müsste. Ich wäre dann wieder vorsichtig genug, darauf nicht zu antworten. Stattdessen würde ich im Kartoffelstock herumstochern. Was Mutter bemerken und meinen würde, was das denn sollte, ob ich nicht warten könnte. Wo ich denn aufgewachsen wäre, würde sie meinen. Ich würde die Gabel zur Seite legen und die roten Wachsflecken auf dem Tischtuch fixieren. Vater würde anstossen wollen und das Glas heben.

Und überhaupt, was gäbe es sonst Neues, würde Mutter wissen wollen. Ob ich eine Freundin hätte. Ich würde dann den Kopf schütteln. Aber weil Vater sein Filet Wellington in noch mehr Sauce ertränken würde, könnte er es nicht sehen. Er würde sagen, ich sollte meiner Mutter antworten. Dass es eine ganz normale, eine legitime Frage wäre, würde er meinen. Weil er das Wort legitim in der Arena sagen hörte und es gebildet tönte. Ich würde sagen, dass ich eben keine Freundin hätte. Weshalb Mutter meinen würde, es hätte sie doch nur wundergenommen. Dass sie doch noch fragen dürfte. Weshalb ich immer so privat wäre, würde sie meinen. Ihre Stimme würde sich überschlagen, höher und schriller werden. Nie würde ich von mir erzählen, würde sie meinen, dass ich sie beide ausschliessen würde. Sie würde behaupten, ihr wäre der Appetit vergangen, mir die Schuld geben, dass sie jetzt doch noch eine rauchen müsste, obwohl sie heute keine mehr rauchen wollte.

Sie würde aufstehen, eine Zigarette anzünden, im Staccato daran ziehen. Sie würde in den brachliegenden Garten schauen, zu den toten Hortensien. Vater wäre bereits wieder in der Stube und würde den Anpfiff schauen. Auf dem Tisch wäre die Kerze zur Hälfte abgebrannt. Das Filet Wellington würde kalt sein. Sauce, Erbsen und Kartoffelstock würden ungekostet danebenliegen. Ich würde aufstehen, die Schuhe anziehen. Würde das Geschenk nicht unter die geschmückte Nordmanntanne in Rot-Gold legen, sondern auf das kleine Tischchen im Gang, neben Schlüsselbund und Rechnungen. Kurz warten, ob ich vielleicht noch Mutters Stimme oder Vaters Rufe hören würde. Würde das Lexikon an ungesagten Wörtern hinunterschlucken. Würde dann die Türe öffnen und hinausgehen. Ich würde draussen stehen, meinen Atem sehen und von der nächtlichen Ruhe überfordert sein. Ich würde zum Auto gehen, den Motor starten, auf leeren Strassen nach Hause fahren.

Wenn ich jetzt auf die runde Türklingel drücken würde.

Raphael Schweighauser lebt in Luzern. Der 32-Jährige schreibt hauptsächlich Kurzgeschichten und besucht derzeit den Lehrgang Literarisches Schreiben an der Schule für Angewandte Linguistik in Zürich. Falls der gebürtige Basler ausnahmsweise kein Buch zur Hand hat, keine Tasten drückt und Texte hervorbringt, arbeitet der ausgebildete Soziologe in der Raumentwicklung und beschäftigt sich mit stadtentwicklerischen Fragen.

Illustration © leale.ch