Milena Michiko Flašar «Gelbe Hände»

Es war ein Sommertag. Turmhohe Wolken. Ich lief – den Kopf im Himmel – von der Schule heim. Nach Hause kommen. Das war: Der Geruch von frisch gekochtem Reis. Die Stimme der Mutter. おかえりなさい. In diesem einen Wort war ich zu Hause, in seinem freundlichen Klang. Dem entgegenzulaufen – mit fliegenden Zöpfen – ist das, was ich heute unter „Kindheit“ verstehe: Kaum den Boden zu berühren. Mein Körper (noch keiner, dessen ich mir bewusst gewesen wäre) war leicht wie der eines Vogels.

An jenem Tag aber wurden mir die Flügel gestutzt und auch wenn ich es damals nicht vorhersehen konnte, war er ein Punkt (einer von vielen), von dem aus es kein Zurück mehr gab. Erwachsensein, das heißt wohl: Sich an derlei zu erinnern. Älterwerden: Es mit einem Lächeln zu tun. Das Grüppchen Kinder, das mir an jenem Tag den Weg versperrte, war – im Nachhinein betrachtet – das Abbild einer Welt, der es – so oder so – gegenüberzutreten galt.

„Hey, du!“ Jemand hatte mich am Ärmel gepackt. Aus dem Gebüsch rief es „Tsching-tschang-tschung“. Gefolgt von einem Kichern und einer Handvoll Kieselsteine, die quer durch die Luft auf mich herniederprasselten. „Zeig uns deine Hände“, hieß es. Ich streckte sie aus. „Die sind ja gelb!“, hieß es weiter. Mit Nachdruck: „Gelb!“ Aus dem Gebüsch rief es „Schlitzauge-Chinese-Bambusfresser!“ Dann ließ man mich laufen. Aber ich lief nicht. Ich ging. Zum ersten Mal lastete das Gefühl eines Unterschieds auf mir, der davor keine Rolle gespielt hatte, und zum ersten Mal schämte ich mich für die Besonderheiten meiner Herkunft und noch mehr für den Wunsch, normal zu sein, eine von denen, die im Gebüsch gesessen waren. Im Licht der Sonne betrachtete ich meine Hände. Sie waren tatsächlich gelb. Bis dahin waren sie einfach nur Hände gewesen. Hände zum Klettern, zum Graben, zum Sandburgenbauen. Dabei waren nicht sie es, die sich verändert hatten, sondern mein Blick, der soeben eine Kränkung erfahren hatte.

Mit diesem gekränkten Blick trottete ich heim. Es roch nach frisch gekochtem Reis. Die Stimme der Mutter. おかえりなさい. Mein Zuhause hatte einen Riss abbekommen, wie von einem kleinen, nicht messbaren Erdbeben. Ich sagte „ただいま“ und legte die Schultasche ab. Mein Körper (plötzlich wusste ich um ihn) war schwer. Ich spürte den Boden unter mir.

 

Anmerkungen:

おかえりなさい (Okaerinasai): Japanische Grußformel. Sagt man bei der Rückkehr eines Familienmitglieds. In etwa: Willkommen daheim.

ただいま (Tadaima): Japanische Grußformel. Sagt man, wenn man nach Hause kommt. In etwa: Bin wieder daheim.

 

Milena Michiko Flašar ist 1980 in St. Pölten geboren. Ihr Roman «Ich nannte ihn Krawatte» wurde über 100.000 Mal verkauft, als Theaterstück am Maxim Gorki Theater uraufgeführt und mehrfach ausgezeichnet. Er stand unter anderem 2012 auf der Longlist des Deutschen Buchpreises und wurde in zahlreichen Sprachen übersetzt. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in Wien. Eine Rezension ihres neusten Romans «Herr Katō spielt Familie» auf literaturblatt.ch lesen sie hier.

Beitragsbild © Helmut Wimmer.