Ruth Geiser „Tschuldigung“ 1

Frau Fichte hatte lange nachgedacht. Sie war daran, ihr Leben zu ordnen. Letztes Jahr war sie 85 geworden. Es war Zeit, sich um die ewigen Werte zu kümmern. Das Jahr neigte sich dem Ende zu. Vorher aber stand Weihnachten ins Haus. Für das Fest der Liebe hatte sie ein besonderes Projekt. Sie suchte nach dem zugehörigen Zettel. In letzter Zeit hatte sie für alles Postit Zettel geschrieben. Heja, mit zunehmendem Alter nahm das Gedächtnis ab. Sie heftete die Notizen an die Türrahmen ihrer Wohnung.
Für den Weihnachtszettel hatte sie rot gewählt, da war sie praktisch sicher. So ging sie von Tür zu Tür und las alle roten Zettel. Zweimal musste sie zwischen den Türen in die Küche zurück, um auf dem Tageszettel nachzulesen, was sie eigentlich suchte.

Schliesslich fand sie den dicht beschriebenen Zettel mit den Weihnachtsdetails. Er war grün. Macht auch Sinn, dachte sie.
Auf dem grünen Postit war eine Liste ihrer amourösen Beziehungen, von der Sandkastenliebe über den Schulschatz, zum Tanzkursverehrer und der Tennisplatzliebe. Danach war sie vier Jahrzehnte mit demselben Mann verheiratet. Sein Name war nicht auf der Liste, aber auf einem Grabstein im Zentralfriedhof.
Dann waren da noch zwei Namen: Ruedi Hugentobler und Ernst Gmünd. Die Erinnerung an diese beiden Herren war etwas verwaschen, dafür stand bei beiden eine vollständige Postadresse.
Frau Fichte wollte an Weihnachten nicht alleine sein. Die Idee war, dass sie eine Art Wiedervereinigung in die Wege leitete. Sie stellte sich vor, dass sie all ihren Liebhabern die Chance gäbe, mit ihr zu feiern. Die Idee kam ihr nach dem ABBA Film, den sie an einem Altersnachmittag im Kirchgemeindehaus gesehen hatte. Klar, der Film war nicht nur voller Lieder, sondern auch mit viel Klamauk und Drama. Das ging natürlich nicht an Weihnachten, aber gerade deswegen war es das richtige Datum für das Treffen. Schliesslich nannte man Weihnachten doch oft das Fest der Liebe.
Verschiedentlich hatte sie sich Szenen ausgedacht. Wer wird welche Rolle übernehmen? Wer ist der unterhaltsamste Erzähler? Wird die Romantik wieder aufscheinen im weihnachtlichen Kerzenlicht?
Sie kramte die Karten hervor. Es waren sechs Weihnachtskarten, wie sie von vielen versandt werden. Nur der Text, den sie entworfen hatte, war eher unüblich, aber für alle Empfänger derselbe.

Mein Lieber
Ich wünsche dir ein ruhiges und besinnliches Weihnachtsfest.
Wenn du magst, komm am Heiligabend bei mir vorbei.
Es gibt etwas Feines. Weder Gans noch Truthahn, aber was würzig Warmes.
Ich würde mich sehr freuen.

Angelika Fichte

Eigentlich wollte sie alle Karten gleichzeitig wegschicken. Sie begann mit den beiden, von denen sie die Postadresse hatte.
Währenddem sie die erste Karte schrieb, lief ihr schon der Speichel im Munde zusammen. Ein Tropfen davon fiel auf den eben geschriebenen Text, genau auf das f von freuen. Das Wort konnte jetzt mehrere Sachen heissen: „reuen“? “treuen“? „leuen“?
„Papperlapapp“, sagte Angelika steckte die Karte in den Umschlag und schrieb die Adresse darauf, dann kam die zweite Karte.
So, genug Büro für heute, ich will noch an die frische Luft, auf dem Spaziergang kann ich gleich die Karten einwerfen.
Sie kramte zwei alte Briefmarken hervor. Spucke hatte sie genug, nahm Schirm und Mantel und machte sich pfeifend auf zum Briefkasten.
Auf halbem Weg realisierte sie, dass sie I have a dream gepfiffen hatte. Sprunghaft und etwas beschämt wechselte sie zu Mama mia.

Am 24. Dezember gegen Abend war eine besondere Stimmung in den Stadtbussen. War es Fröhlichkeit, Feierlichkeit, Erleichterung, Aufgeräumtheit, Versöhnlichkeit oder eine Mischung aus allem?
Ein älterer Mann in gepflegter Kleidung sass ganz vorne mit einem Blumenstrauss auf dem Schoss. Drei Stationen nach ihm stieg ein Mann in ähnlichem Alter zu. Sie verliessen den Bus an derselben Haltestelle. Sie musterten einander beim Aussteigen. Beide schlugen denselben Weg ein. Eine Weile war nicht klar, wer der schnellere war, wer sich überholen lassen würde und wer als erster gehen würde. Als sie vor demselben Haus abbogen und sich auf die Haustüre zubewegten, entfuhr dem einen ein „Eh!?“
Der andere war schlagfertiger und erwiderte: „Auch eingeladen?“
„Ja“, sagte der erste, „aber wohl nicht bei derselben….“, er zögerte… „nicht in derselben Wohnung!“
Aber beim Klingelknopfwählen kollidierten ihre Zeigefinger. Und beide im selben Augenblick: „Tschuldigung!“
Im Lift dann eindringlicheres Mustern und dann schallendes Gelächter. „Bei der Engelhaften!“, schrie der eine halberstickt zwischen den Lachsalven, die sein Zwerchfell strapazierten. „Ja klar unterm Fichtenbaum“, plapperte der andere. In bester Laune fanden sie sich vor Frau Fichtes Wohnungstür, klingelten und warteten.
Darf ich mich vorstellen? Ruedi!“
„Sehr erfreut, ich bin der Ernst.“
Nach mehrfachem Klingeln öffnete sich die Türe ein Spalt und ein grauer Haarbusch war zu sehen. Eine barsche Stimme sagte: „Ich brauche nichts!“
Und schon wollte sich die Türe wieder schliessen. Aber Ruedis robuster Schuh machte das unmöglich. Er hatte jahrelang im Aussendienst gearbeitet.
„Angelika, du hast uns doch eingeladen!“, flötete er durch den Türspalt.
„Und wenn Engel rufen, kommen die Hirten“, schob Ernst nach.
Zögerlich öffnete Angelika die Tür. Schliesslich wimmelte die Welt von Enkelbetrügern. Aber die zwei schienen nicht sehr kriminell.
Als ob sie ihre Gedanken erraten hätten, zogen beide wie ferngesteuert die Einladung aus der Brusttasche. Angelika war beruhigt.
Mit einem unauffälligen Rundumblick erfasste Ruedi die Lage und entfernte sich ein paar Schritte, nahm das Handy ans Ohr und bestellte drei Pizzen.
„Sag mal Angelika, hättest du vielleicht eine Flasche Wein, die ich für dich entkorken könnte? Schliesslich haben wir allen Grund zum Feiern,“ bemerkte Ernst.
„Was feiern wir denn?“ Angelika war noch nicht in Stimmung.
„Es ist Weihnachten und wir haben uns lange nicht gesehen!“, erklärte Ernst mit Engelsgeduld.
Angelika gab ihm den Kellerschlüssel. Ernst kannte die Verhältnisse. Sein Gedächtnis liess nichts zu wünschen übrig. Er kam mit drei verstaubten Flaschen zurück.
Von da an ging’s rund. Ruedi fragte nach etwas Musik und Angelika legte die grössten Hits von ABBA auf.
Sie sangen mit und abwechslungsweise tanzten sie mit Angelika, während der andere das Vokale unterstützte.
Die Pizzen trafen ein, waren lecker und wurden bis auf den letzten Krümel verspeist.
Die dritte Flasche wurde entkorkt.
Die Stimmung ging durch die Decke.
Ruedi schlug das Stripp-Spiel vor. Sie spielten es in der Tanzversion und hatten einen Heidenspass.
Es ging gegen elf Uhr, da klingelte es.
Plötzlich Ruhe. „Kommt noch jemand?“
„Aufmachen Polizei!“
Das klang dringend.
Mit einer lasziven Bewegung nahm Angelika das Tischtuch, bedeckte ihre Blössen und machte auf.
„Tschuldigung!“ Dem Uniformierten versagte die Stimme.
„Geht’s auch leiser ?“
Schallendes Gelächter aus der Wohnung.

„Keine Sorge, wir sind bald durch!“

Ruth Geiser, geboren 1956 von  Roggliswil LU, Ausbildung zur Primarlehrerin, unterrichtete als Primarlehrerin, 1984 Diagnose Parkinson, Studium Geschichte, Englische Literatur und Europäische Volksliteratur, Assistenz bei Professor Schenda, Europäische Volksliteratur, unterricht Englisch und Geschichte an Gymnasien, Fachhochschule und in der Erwachsenenbildung, Aufgabe der Berufstätigkeit aus gesundheitlichen Gründen 2005, schreibt Gedichte, Kurzgeschichten, sowie autobiografische Texte.

Illustration © leale.ch