Eva Strautmann «Farbklang»

Farbklang

Im strahlenden Licht
fremden Augenscheins
blendet sich wider stilles Verwesen grellen Nimmerseins
Sich zu erzürnen im weissen Klang entgangener Farbenpracht
lasse ich liegen eigene Weltenlosigkeit
Und gehe ich hinaus über himmlische Farbenpracht,
höre ich ein gelbes Stelzen
im farbdurchdrungenen Nimmerfliehen.

«Akt 1», Öl auf Leinwand, © Eva Strautmann



Im Schauen

Im Schauen
ohne einen Gegenstand,
eine grüne Wiese, still
im Nachholen,
von dem, was nicht gewesen ist,
eine Spur, wie das Unerhörte,
unverschämt, klingt
grämt sich in etwas hinein,
das keiner kennt und
verschwindet, gleich wieder
ohne ein Wort und wartet.
Lange

«Begegnungen», Öl auf Pappe, © Eva Strautmann



In den Höhen

das in die Höhe Schäumen,
das Hinausreichen, Hinüberreichen in das Andere, in die andere Welt?
Das Verlieren jedes einzelnen Schrittes im Stein, im festen Boden gedachter Körper?
Ein Hinübergleiten im Finsteren, im Verborgenen?
Das Herabglitzern erhabener Pracht,
ein Leuchten stummen Sonnenwinkels,
das warm und hoch alles verbietet, alles lichtet und alles auslöscht
im lauten Dämmer, im Sprechen über sich selbst,
ein Verzweifeln über nichts,
im Angesicht hoher Steinwände, kalter Felswände,
im Angesicht seiner Selbst, ohne Selbst,
im Fraglichen verloren….

 

Eva Strautmann lebte nach dem Abitur in Großbritannien. Sie ist Autorin, Künstlerin und Dozentin. Während des Studiums der Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin war sie zunächst als Tutorin und anschliessend als künstlerische Mitarbeiterin an der Hochschule der Künste Berlin tätig. Nach ihrer Tätigkeit als Regie-Assistentin am Berliner Ensemble folgte ein Umzug nach Frankfurt am Main. Im September 2005 hatte sie eine grosse Einzelausstellung in der Heussenstamm – Galerie am Römer in Frankfurt am Main unter dem Titel „Im Schreiben gehen – Im Malen schauen», bei der sie Bilder und Prosa-Texte kombinierte.

Webseite der Künstlerin

Hanna Sukare «Grün wird Weiß»

anfangen

„Der schwierigste Teil des Schreibens ist das Nichtschreiben“, sagt Ilse Aichinger(1). Vielleicht ist mir deshalb das Anfangen wichtig. Anfangen in dem nebligen Vertrauen, eines Tages wird aus der Ahnung ein Text werden. Am Anfang kann der Titel eines Bildes stehen, zum Beispiel Schwedenreiter. Manchmal schenkt mir ein Nachttraum den ersten und letzten Satz, wie für den Roman Staubzunge. Dieser Traum kam allerdings erst, nachdem ich mich zur Erforschung des Materials auf mehrere Reisen nach Polen begeben hatte. Womöglich war ich, als diese Traumsätze kamen, schon mitten drin in der Geschichte, über den Anfang weit hinaus.

Oft war Anfangen das Recherchieren in Archiven und Bibliotheken, weil ich etwa die Geschichte des Wehrmachtssoldaten Rechermacher erzählen wollte und dafür zuerst einiges über dessen militärische Laufbahn sowie über die Gefängnisse und Feldstrafgefangenenlager der Wehrmacht lernen musste. Der Anfang ist lesen: Bücher, Zeitungen, Stadt- und Fahrpläne, Rezepte, Landkarten, Theaterzettel etc. Anfang ist Anschauung gewinnen, zum Beispiel von dem Beruf des Brückenmeisters, der mir unbekannt war, bis ich den Schwedenreiter (2) kennenlernte. Zur Gewinnung dieser Anschauung trieb ich mich manchmal nachts auf Bahngleisen herum, die wegen der Reparatur einer Brücke gesperrt waren, oder ich geriet unter der Stadt in weitläufige Tunnels, die mir bis dahin unbekannt gewesen waren. Solche Ausflüge begeistern mich und lassen mich vergessen, dass ich einen Text vorbereite. Nach einiger Zeit türmt sich auf meinen Tischen das Material, meist zu viel.

Dann beginnt erst das eigentliche Anfangen, dem ich, wie Foucault sagt, „enthoben“ sein möchte, mich lieber, hinter meinem Rücken, ins Schreiben „verstohlen einschleichen“ würde. Foucault sehnt sich nach einer „Stimme ohne Namen“, die ihm „immer schon voraus war“ und in deren Fugen er sich „unbemerkt einnisten“ möchte, er spricht von seinem „Verlangen, nicht anfangen zu müssen“ (3). In diesem zweiten Anfang meldet sich eine Angst, vor dem Nichtkönnen, dem Versagen, vor endgültigem Scheitern. Gedanklich und körperlich umkreise ich mein Material, ähnlich einer Schwammerlsucherin, die in einem bestimmten Waldstück Schwammerln zwar vermutet, aber noch nicht sieht: Circumambulatio. Das Umkreisen erzeugt ein oft fast unerträgliches Spannungsgefühl – C.G. Jung hat das Phänomen beschrieben –, ich bin auf den potentiellen Mittelpunkt zwar konzentriert, kenne ihn aber noch nicht.(4) Ich taste mich voran, meistens blind. Verbales Schweigen (tacere) und die Abwesenheit von Lärm (silere), schreibt Roland Barthes, seien zur Aufrechterhaltung dieses „Zustands ohne Paradigma“ nötig.(5) Wird mir dieser Zustand zu streng, sticke ich, zum Beispiel das Umkreisen. Ich sticke, bis ich statt der Nadel wieder einen Bleistift – am liebsten den grünen Faber-Castell B – in die Hand nehmen will; ich sticke und schreibe (die ersten Textfassungen) mit der Hand. In der Anfangsphase umgibt ein „Zaun der Hoffnung“, wie Nietzsche ihn nennt (6), den inneren Raum. Es mag jener Raum sein, den die alten Griechen Temenos nannten. Dieser Zaun schützt mich, bis sich Sätze und Stiche gebildet haben, die eine mögliche Form andeuten.

I circle around, 78 x 65,5 cm, Seide und Leinen auf Leinen, Detail

Zuerst gestatte ich den Sätzen alles. Sie können als Fetzen daherkommen, gebrochen, gestottert, dürfen aus einem Wort bestehen oder sich verschachteln. Sie nehmen das Material vorerst schwammartig auf. Bald beginnt das Umschreiben. Bis zum letzten Satz bleibt das Schreiben dann Umschreiben, Überschreiben, Neuschreiben, Verwerfen, Neuschreiben, Umschreiben. „Zwischen der Haltung zu den wirklichen Personen und der Haltung zum Wort entscheidet sich der Satz, bis er, gänzlich erfunden, das wirklich Gewesene einigermaßen streifen kann“, beschreibt Herta Müller (7) die langsame Suchbewegung. Das Umkreisen, die Bewegung verwende ich hier nicht als bloße Metaphern. Zum Schreiben brauche ich nicht nur weiche Bleistifte, Ruhe und Papier, sondern auch bequeme Schuhe. Schuhe kommen in meinen Träumen vor, zwei der Exemplare habe ich gestickt. Hier eines, das mir (im Traum) in der Wiener Josefstadt geschenkt wurde. Der tägliche Spaziergang, möglichst ausgedehnt in unverbautem Gebiet und ohne Begleitung, fördert das Anfangen, fördert die gedankliche Suchbewegung, bringt Einfälle.

Verirrt in Josefstadt, 121 x 121 cm, Seide und Leinen auf Leinen, Detail

verwandeln

Der Einfall lässt sich nicht ausdenken. Von außen fällt oder fliegt er ins Gehirn, ins Gemüt. Ein Windstoß kann den Einfall bringen, eine Geste, die Form eines Steinbruchs, der Laut eines Tieres, der Lichtpunkt auf einem Gegenstand, ein Stern auch oder die Nacht bringen Einfälle. Das geschieht oft. Und doch bleibt die Verbindung zwischen dem Außen und dem Innen so dunkel, dass niemand den Einfall bewusst erzeugen kann. Er bleibt Zufall, Geschenk von irgendwo, von irgendwas oder irgendwem, unentbehrlich fürs Schreiben. Aufmerksamkeit und Offenheit sind nötig, den Einfall wahrzunehmen und schnell genug zu Papier zu bringen, er entwischt leicht wie ein Hauch. Zu Papier bringen, das von außen ins Innere Gefallene zurück nach außen tragen, schreiben also. Das Geheimnis des Schreibens erinnert mich mehr und mehr an das Geheimnis der Transsubstantiation in der römisch-katholischen Messe: Oblate werde Fleisch, Wein werde Blut Christi, behaupten Gläubige. Wie die Gläubigen, die sich wandlungsfähige Oblaten auf der Zunge zergehen lassen, muss auch ich glauben. Vorbehaltlos muss ich glauben und vertrauen, dass aus sieben Buchstaben ein Lächeln wird.

Schreiben ist Stoffwechsel, Alchemie, Verwandlung. Damit ich überhaupt schreiben kann, muss ich mir den Versuch versagen, den Vorgang zu analysieren. Sobald ich frage: Wo entstehen die Buchstaben? Wie finden sie zusammen in ein Wort? Wie gelangt das Wort aus dem Gehirn durch den Kehlkopf in den Arm, in die Hand, aufs Papier? Sobald ich diese oder Thomas Manns Frage stelle: „Wie wird aus einer Sache ein Satz?“ (8), kann ich kein Wort mehr schreiben. Ich stocke und stecke fest. Das Schreibwunder darf ich ebenso wenig hinterfragen, wie die Entstehung der Milch: Grün wird Weiß, Festes flüssig, Unverdauliches (für manche) bekömmlich. Oder der Slibowitz. Sein Duft lässt mich vertrauen, dass dieser durchsichtig brennende Geist einmal als Festes, Kerniges an einem Baum hing, purpurn und süß. Das Schreibwunder zu ergründen, gleicht dem Versuch, herauszufinden, welcher Grashalm die Milch süß oder welche Zwetschke den Slibowitz mild gemacht hat. Literarische Chemie, unentschlüsselbar.

Das Ausgangsmaterial muss sich innerlich – den genauen Ort vermag ich nicht auszumachen, weiß nur, dass dies nicht allein im Kopf geschieht – langsam verdauen. Entlang eines Plots will ich nicht schreiben, es erschiene mir wie Malen nach Zahlen. Der Plot nimmt dem Schreiben sein Bestes, seine „ursprüngliche Bestimmung, der Ort einer Erfahrung, eines Versuchs zu sein“, wie Foucault angesichts seines Überdrusses an Büchern bemerkt, die konzipiert sind, lange bevor sie geschrieben werden. Beim Schreiben ohne Plot bleibt bis zum letzten Satz Ungewissheit, das Scheitern des gesamten Vorhabens ist möglich. Statt eines Plots verwende ich Figuren, kleine Figuren aus Holz oder Stoff, jede Geschichte hat ihr eigenes Personal.

Personal des Romans Staubzunge

Das Personal bleibt auf dem Schreibtisch, bis eine Geschichte ihr Ende gefunden hat. Mit dem Personal rede ich, wenn ich nicht weiß, wie die Geschichte weitergeht. Das Personal gibt Antworten. Erst wenn die Geschichte einmal ganz erzählt ist und handgeschrieben auf dem Tisch liegt, nehme ich bewusster Einfluss auf das Stoffwechselendprodukt: Ich übertrage den Text in den Computer, suche treffendere Ausdrücke, stelle Worte um, überprüfe die Anschlüsse zwischen den Sätzen, feile. Alles anfangs unbewusst Gesetzte sollte den Text nach der letzten Durchsicht verlassen haben. Das gelingt nie ganz. Selbst nach etlichen Überarbeitungen entdecke ich im gedruckten Text Worte oder Sätze, die mich stören. Diese Störungen sind nicht immer als Fehler zu bezeichnen, aber diese Textstellen habe ich offenbar nicht sorgsam genug überprüft. Mittels dieser Störungen sagt die Sprache: Ich bin die Meisterin, frei, ich lass mich nicht beherrschen. Ihren Primat anzuerkennen entlastet Schreibende ebenso wie die Bewusstmachung der Herkunft des Einfalls. Die wundersame Metamorphose der Wirklichkeit kann ich nicht ergründen, und doch hat sie mich immer wieder so beschäftigt, dass ich einmal ein Gedicht über sie geschrieben und ihr eine Stickerei gewidmet habe.

Aus den Händen der Luft

Du löst dich aus Dickicht
Und nimmst deinen Weg
Dir unbekannt
Du lässt dich ein mit dem Speichel
Einer Zunge vertraust du dich an
Und fällst in die Hände der Luft
Vereint macht ihr euch Lippen untertan
Und du setzt den Fuß ins Helle
Du Wort.

Dieses Gedicht widmete ich Marica Bodrožić, nachdem ich ihre Betrachtungen Das Auge hinter dem Auge. Über das Erscheinen des Wortes im Raum (9) gelesen hatte. Bodrožić hört nicht auf zu staunen, sie staunt über die Entstehung von Worten und Sätzen.

Innere Angelegenheiten, 94 x 71 cm, Seide und Leinen auf Leinen

Gerhard Fritsch verglich die Entstehung der Texte mit Winzerarbeit. Literatur sei gekelterte Trauer, meinte er. Das Keltern verändert nicht nur den Ausgangsstoff, sondern auch die Schreibende.

Einsamer und freier hat mich das Schreiben gemacht, auch unsicherer. Ist das letzte Wort geschrieben, kommt gleich die Frage, ob der Text nicht eine ganz andere Gestalt bräuchte, ob seine Sätze nicht klarer und einfacher sein könnten?

zweifeln

Routine stellt sich nicht ein. Jeder neue Textversuch macht mich wieder zur Anfängerin, zur Nichtkönnerin, ausgeliefert dem Nichtwissen. Mit jedem neuen Text wächst meine Unsicherheit. Und wieder meldet sich die Angst vor dem Nichtkönnen, dem Versagen, vor dem endgültigen Scheitern. Nicht nur die Sätze und die ihnen zugrunde liegenden Gedanken bezweifle ich, sondern das Schreiben selbst. Seit die Gewalt den Planeten wieder einmal epidemisch überzieht, ganze Landstriche verwüstet, Leiber und Lieben zerreißt, will mir Paul Flemings Sei dennoch unverzagt nicht mehr recht gelingen. Eine Figur meines Romans Rechermacher behauptet: Erzählt muss werden, hin zu den Gegenden jenseits der Angst etc. Ich zögere, dieser Behauptung zuzustimmen. Wozu noch Geschichten? Und Geschichten worüber? Unterhaltende lenken ab. Tröstende beschönigen. Politische ergreifen Partei. Berichte über die Gewalt verdoppeln die Realität, undsoweiter. Wozu noch Worte? Und wenn noch Worte, welche? Wäre es nicht dieser Zeit und meiner Ohnmacht in ihr angemessener, täglich der Toten zu gedenken, der Verwundeten und Obdachlosen? Schweigend. Doch Flemings Zeitgenosse, Andreas Gryphius, schrieb, dass ihm gerade „die scharfe Not die Federn in die Faust zwang. Bestürzt durch Schwert und Feuer, durch liebster Freunde Tod, durch Blutsverwandter Flucht und Elend“ beschrieb er in seinen Sonetten „was itzt kommt vor“. „Itzt“ meinte das 17. Jahrhundert, in dem Fleming und Gryphius lebten, jenes Jahrhundert, das in Europa nur neun Friedensjahre hatte.

Ja, der Toten gedenken. Schweigend. Doch die Tage des hiesigen Friedens auch nützen für poetische Pirouetten. Beim Drehen und Kreiseln entstehen Gesten des Öffnens, Gebens und Umarmens, die auf ein selbstbestimmtes, zärtliches Leben verweisen. In dem nebligen Vertrauen, dass eines Tages aus der Ahnung ein Text wird, stets von Neuem anfangen.

Anmerkungen:
1
Simone Fässler (Hg.): Ilse Aichinger. Es muss gar nichts bleiben. Interviews. Wien 2011, S. 22
2 Hauptfigur von Sukares gleichnamigen Romans 
3 Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt a. M., 1991, S. 9
4 Carl Gustav Jung: Psychologie und Alchemie, Zürich 1944, S. 264f
5 Roland Barthes: Das Neutrum, Frankfurt a. M., 2005, S. 55 f
6 Friedrich Nietzsche: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, Stuttgart 1964, S. 50
7 Herta Müller: Die Anwendung der dünnen Straßen. Klagenfurter Rede zur Literatur, 2004 
8 Thomas Mann: Bilse und ich. In: Th. Mann: Gesammelte Werke, Bd. 9, Frankfurt a.M., 1925, S. 3–17
9 Marica Bodrožić: Das Auge hinter dem Auge. Betrachtungen. Otto Müller Verlag Salzburg 2015

Hanna Sukare, geboren 1957 in Freiburg im Breisgau. Seit ihrer Jugend lebt sie meistens in Wien. Für «Staubzunge» (2016) wurde die Autorin mit dem Rauriser Literaturpreis für das beste Debüt in deutscher Sprache ausgezeichnet und war mit «Schwedenreiter» (2019) auf der Shortlist für den European Union Prize for Literature. 2022 erschien ihr dritter Roman «Rechermacher«.

Beitragsbild © Milan Boehm

Kuno Roth «Allein mit dem Schreiben und mit sich in Irland»

Oktober 2023, dort oben im Nordwesten Irlands, an der Küste, entspricht das Wetter dem Vorurteil: Wind, Wolken, Regen und ab und zu die Sonne. Dort in Glencolmcille*, wo ich mich für vier Wochen zum lyrischen Schreiben niederlasse:

Nun stehe ich hier.
Habe mich 
an den Rand der Welt gestellt.
Blicke 
auf Klippen und das Meer
für Rückblicke, Einblicke, Ausblicke.
Augenblicke, die mir gehören.
Möge mich dieser Schatz 
auf Empfang stellen.

Empfänglich war ich der Wind- und Grautöne wegen namentlich auch für melancholische Stimmungen. Was zum Schreiben treiben kann:

Der Nebel nähert sich
auf leisen Pfoten.
Schleicht über den Hügel,
breitet seinen grauen Schal 
über Bucht und Dorf
aus.
Liegt auf der Lauer, 
lugt,
steigt unvermittelt ab.

Glencolmcille? Der Name Glencolmcille bedeutet ‘das Tal von Colm Cille’. Colm Cille ist einer der drei Schutzheiligen Irlands; ein Priester, der im 6. Jahrhundert eine Zeit lang hier lebte. Es gibt noch ein paar Spuren von ihm, zu welchen ein nach ihm benannter Pilgerweg führt. 
Mein Pilgern verläuft auf anderen Wegen. Man kann sie er-fahren: Die Strassen sind verkehrsarm, das mit dem Linksverkehr kriegt man hin. Man kann sie er-wandern: Eine der Wanderungen führt weglos nach Port. Und dort den Wellen zusehen und zuhören:

Kommt die Flut,
rollen die Kiesel uferwärts,
rollen zurück, lässt die Welle wieder locker,
reiben sich.
Glatt geworden vom vielen Rollen.
Die nächste Welle rollt sie abermals hinauf.
Das Meer als Sisyphus?
Nein, nur Meer.
Gelassen 
Dinge ins Rollen bringen.

Illustration: Markus Reich (Ausschnitt «zurück, lässt die Welle …)

Und einem Schaf zuzusehen, das sich unbeobachtet fühlt:

Das Schaf sucht 
maulunten
nach Grashalmen, 
kommt auf ein Stück Weide,
wie zuvor schon Mähscharen.
Es zupft und rupft und zupft.
Unablässig wie ein Friseur,
der einen weiteren Millimeter Haar
über seinen Kamm schert.

Es ist ein Pilgern abseits der ausgetretenen Pfade des Alltags. Offenen Sinnes absichtslos durch die Natur, sodann durch Wörter und Zeilen streifen, die aus der Feder tropfen. Äussere Landschaften, die sich zu inneren verdichten:

Eine Oase der Ruhe, trotz oder wegen dem Rauschen des Meeres und des Windes. Das Licht ändert sich minütlich. Eine atemberaubend schöne Gegend mit hohen Klippen, eine raue, heidenreiche Landschaft, die bei Sonnenuntergang himmlisch leuchtet, freilich eher selten:

Schreiben hautnah an der Sache. Zum Beispiel eine Krähe betrachten und plötzlich taucht eine Frage auf:

Man versteht nicht,
warum die Krähe im Regen 
und gegen den Wind fliegt.
Mühelos, scheint es.
Was gewinnt sie, das zu tun?
Längst ist sie weiter,
lässt den Gedanken,
den sie nicht hat,
beim Beobachter zurück.

Dieses Hautnahe machte es auch, dass ich Schreibblockaden kaum bemerkte. Ging es nicht weiter, ging ich nach draussen, streckte die Fühler aus und beobachte, was geschah. Ging das nicht, ging ich nach drinnen, Fühler weiterhin ausgestreckt: Auszeit ist auch Inzeit. 
Vier Wochen alleine mit mir und dem Schreiben und ohne News, sind ein enormes Privileg. Nicht immer nur einfach, die Stimmungen schwankten zwar nicht wie das Wetter, aber doch auch. 
Und ich hatte zwei Anker: Rückmeldungen von Zuhause und von Schreibfreund:innen sowie als Abwechslung die bereits verfassten Gedichte, die ich mitnahm und die fürs neue Buch noch gehobelt und geschliffen werden wollten.

* Glencolmcille ist zwar klein und abgelegen, und doch auch ein Kulturort mit einem Zentrum für gälische Sprache und keltische Kultur, einem Freilichtmuseum, einer Schafwoll-Manufaktur sowie zwei Pubs mit Musik am Wochenende. Und im Winterhalbjahr gibt es ein Angebot für einmonatige ‘Art-Residencies’ – Informationen bei stefanhofmann7@gmail.com.

Kuno Roth schreibt Gedichte, Aphorismen und Kolumnen (letztere bei Kampagnenforum und BVM). Seine letzten Veröffentlichungen sind «Im Rosten viel Neues» (Gedichte, 2016), «Aussicht von der Einsicht» (Aphorismen, 2018) sowie ‹KL!MA VISTA – Die Schneefallgrenze steigt› (2. Aufl. 2022, bei ProLyrica). Sein nächstes Buch – ‘seelensee’ mit u.a. einigen Gedichten aus Glen – erscheint im Herbst 2024.
Jahrgang 57, Dr. rer. nat., ehemaliger Chemiker, nunmehr Humanökologe, Experte für Lernprozesse sowie Schriftsteller, arbeitete zuletzt als Leiter des globalen Mentoring-Programms bei Greenpeace International. Zuvor war er 25 Jahre lang Bildungsverantwortlicher von Greenpeace Schweiz. Frisch pensioniert ist er weiterhin als Berater tätig und Co-Präsident von Solafrica.

Beitragsbild © privat

Waseem Hussain «Verhinderter Eklat an der XVII. Triennale Südasiatischer Hühnereinbalsamierer»

Wie alle drei Jahre haben sich auch heuer die Mitglieder des Südasiatischen Kongresses der Hühnereinbalsamierer (SAKHBAL) getroffen. Als Austragungsort ihrer diesjährigen Zusammenkunft hatte der Kongressvorstand das denkwürdige Fort Abbas bestimmt, welches auf halbem Weg zwischen Bahawalpur in Pakistan und Ganganagar in Indien liegt. Die Wahl des Austragungsortes war nicht zufällig, haben doch jüngere Ausgrabungen in und um Fort Abbas zum Teil gut erhaltene Überreste einbalsamierter Hühner zutage befördert, die auf ca. 3500 v. Chr. datiert sind und zu den kostbarsten Exemplaren ihrer Art zählen.

Auf der Traktandenliste standen diesmal, neben routinemässigen Pendenzen wie die Wahl des Präsidenten und des Vorstandes des SAKHBAL, vor allem die Fragen einerseits nach der “wissenschaftlich korrekten” und andererseits der “zeitgeistig angemessenen Zusammensetzung” des Balsams. Das Thema ist bereits mehrmals in “Tikka”, der halbjährlich erscheinenden SAKHBAL-Publikation, aufgegriffen worden. Sowohl die darin veröffentlichten Forschungsberichte als auch die Leserbriefe, die in der jeweils nachfolgenden Ausgabe abgedruckt wurden, haben gezeigt, dass insbesondere die zweite Fragestellung die Expertengeister bewegt.

Grundsätzlich besteht der Balsam aus Rapsöl, Malzessig und Limettensaft, gemahlenem Gelbwurz, geriebenem Ingwer, Kreuzkümmel, zerstossenen Senf-, Pfeffer- und Korianderkörnern, Bockshornkleesamen, Chili, Zimtrinde, Knoblauch, Paprika, Zwiebeln und Salz; wer unorthodox war, gab zusätzlich roten, natürlichen Farbstoff dazu.

Vor nunmehr fünfeinhalb tausend Jahren war das Klima in Südasien deutlich milder als heute. Es soll die damaligen Südasiaten in ihrer Mentalität beeinflusst haben, sodass sie vor allem die scharfen Balsamzutaten geringer dosierten als ihre Nachkommen es heute tun. Die SAKHBAL-Mitglieder einigten sich darauf, eine für jede Epoche standardisierte Rezeptur verfassen zu lassen und diese bei ihrer nächsten Zusammenkunft in drei Jahren zu verabschieden. Nur am Rande sei erwähnt, dass dem Wetteifern, welche Universitäten welcher Länder, südasiatische oder nicht, damit beauftragt werden sollten, die Rezepte zu Papier zu bringen, unter “Varia” am Ende der Versammlung Raum eingeräumt werden musste.

In den antiken Hochkulturen Südasiens wurden Hühner in einem mehrere Stunden dauernden, von Schamanen und Priestern angeleiteten Ritual mit einem Balsam eingerieben und zu Ehren der darüber wachenden Göttin Murgdevi geopfert. Dies geschah, indem man eine ungefähr 21 mal 17 Zentimeter kleine Gruft aus der Erde hob, dort glühende Asche hineinlegte, auf diese die einbalsamierten Hühner platzierte und das Erdloch in einem bei Sonnenaufgang mündenden Zeremoniell zuschüttete. So hofften die Südasiaten von damals auf ein langes Leben, wenn nicht gar auf ein ewiges. Wie ernsthaft dieser Brauch gelebt wurde, zeigt die imposante Nekropolis einbalsamierter Hühner, die ein niederländisches Team von Archäologen vor rund sechzig Jahren unweit der südindischen Hafenstadt Cochin ausgegraben hat.

Der Kongress ist zweifellos unverzichtbar für die akademische Pflege der oft als “Orchideenfach” belächelten Wissenschaft der südasiatischen Hühnereinbalsamierung. Um so bedauerlicher ist es, dass es unter gewissen Mitgliedern des SAKHBAL bereits im Vorfeld der Triennale zu nutzlosen Differenzen gekommen war. Den Anstoss gab die Wahl des Kongressortes Fort Abbas. Dieses ist sowohl den Pakistanern als auch den Indern ein wichtiges Symbol ihres jeweiligen kulturhistorischen Erbes, wenn auch aufgrund politisch bedingt unterschiedlicher Geschichtsauffassung. Zwar waren sich die Experten von hüben wie drüben darin einig, dass die alte Festung zur Abwehr “extremistischer Gegner der Einbalsamierungsrituale” erbaut worden war, doch konnten sich die Experten nicht darauf einigen, ob es sich bei den Gegnern um fremde Invasoren aus Persien und vom Indischen Ozean her gehandelt hat, oder ob die Bedrohung von inneren Feinden zu erwarten war. Dass dies aber keine qualifizierte Debatte unter Historikern war, zeigt sich schon daran, dass sich die Streitenden über die Tatsache hinwegsetzten, dass die phalanx-ähnliche Anlage von Fort Abbas klar darauf hindeutet, dass der Feind von allen vier Himmelsrichtungen her erwartet wurde. Ebenso ist es aber belegt, dass die Herrscher von Fort Abbas drei parallel operierende, sich gegenseitig kontrollierende Innengeheimdienste unterhielten, um Überläufer und andere Verräter frühzeitig festzumachen.

Wie es scheint, waren auch die Organisatoren des XVII. Kongresses Südasiatischer Hühnereinbalsamierer bei ihrem Gezänk derselben Paranoia verfallen. Immerhin aber wurde ihrem offen ausgetragenen Streit ein so grosses Gewicht zuteil, dass die Veranstalter sich nun überlegen, die Triennale an einen Ort ausserhalb Südasiens zu verlegen. Als mögliche Alternative wird die portugiesische Kleinstadt Sines genannt, wo der Seefahrer Vasco da Gama geboren wurde. Dieser erwähnte nämlich in seinen indischen Tagebüchern “rot geschärfte Frangos”; das portugiesische Wort Frango heisst nichts anderes als Huhn.

Dem ganzen sei lediglich angemerkt, dass die Mitgliederorganisationen der übrigen südasiatischen Länder, also Afghanistan, Bangladesch, Nepal, Sri Lanka, Bhutan und die Malediven, sich aus dem Hahnenkampf ihrer beiden Nachbarländer herausgehalten haben. Man begegnete ihren Delegierten am Buffet mit den Tandoori-Spezialitäten.

Waseem Hussain, 1966 in Karachi, Pakistan, geboren, wuchs in Kilchberg am Zürichsee auf. Er war Gastdozent für internationales und interkulturelles Management und leitete die Stabsstelle Internationales im Rektorat einer Fachhochschule. In jungen Jahren kuratierte er Kunstausstellungen, organisierte kulturelle Veranstaltungen und drehte den mehrfach prämierten Kurzspielfilm “Larry”. Er war Mitglied der regionalen Expertengruppe bei Pro Helvetia sowie freier Südasienkorrespondent für Presse, Funk und Fernsehen. Aktuell lebt er als Autor und Songwriter nahe Zürich und schreibt an seinem ersten Roman.

Webseite des Autors

Nora Gomringer «In mir taucht der Krieg auf»

In
mir
taucht
der
Krieg
auf

Fragt: Du bist überrascht?

Ich sag: Na, der Form halber.

Sagt er: Ich hab Konjunktur. Schreib drüber!

Sag ich: Angeber. Hat Brecht schon.

Sagt er (mit lauter Monsterstimme):
Ich bin der Vernichter.

Sag ich: Du bist in mir ein Hall und Jammer.
Ich halt dich ein, werd innen schwarz,
bleib außen Alabaster, bis die Glut durch dringt.
Dann stehst du da. Verbrennst
die mir zu Hilfe eilen wollten.
So vermehrst du dich als Infektion,
Entzündung aller Wunden.

Sagt er: Du hast es dir schon ausgemalt.

Sag ich: Kenn’ dich wie Abel. Kenn’ dich doch ewig.

Sagt er mir (sanft an mich gelehnt, sein Atem köstlich, so warm im Nacken
alles wie immer alles, nicht ohne Melodie):
Ich bin der Funke.
Im Dunkeln bin ich der hellste Punkt.

(aus Nora Gomringer «Gottesanbieterin», Voland & Quist, Berlin, Dresden & Leipzig, 2020)
Immer öfter lässt sich Nora Gomringer die Gretchen-Frage stellen, sie antwortet in Essays, Reden, Geschichten und natürlich: in Gedichten. Das geschieht oft komisch und mit einem Augenzwinkern, ihr und jedes Gläubigsein ist persönlich. Die Lyrikerin hat sich zuletzt mit irdischen Ängsten, Krankheiten und Phänomenen des Oberflächlichen beschäftigt, doch das Metaphysische wohnte dem schon immer inne – und denken wir an Gomringers Wanderung mit einem lispelnden, über die Einsamkeit des Menschen sprechenden Hermelin, so wundert es kaum, dass erneut eine tierische Begegnung Auslöser für die in diesem Band versammelten Gedichte ist: Schon vor vielen Jahren traf die Dichterin auf eine riesige Heuschrecke im US-amerikanischen Hinterhof ihrer damaligen Gastfamilie: die Gottesanbeterin. Es war diese einstündige Begegnung des Schweigens, die Gomringer zur Hinterfragung des irdischen Seins und der Vielgestaltigkeit von Religion gebracht hat, jenem »geschmacksverstärkenden, mal verträglichen, mal unverträglichen Glutamat des Seins«. (Verlagstext)

 

Liebesrost

Liebesrost
Über Nacht
Bist du oxidiert
Neben mir

Hast auf mich reagiert
Bist rostig geworden
Du sagst
Golden
Ich lecke an deinem Hals
Du schmeckst wie der
Wetterhahn

(aus Nora Gomringer «Mein Gedicht fragt nicht lange reloaded», Voland & Quist, Dresden & Leipzig. 2015. S. 168)
Nora Gomringers Gedichte sind viel herumgekommen. Daher haben sie Sieben-Meilen-Stiefel an den Versfüßen und manchmal einen recht breitbeinigen Gang. Dazu eine laute Stimme und manchmal ganz schön viel Attitüde. Doch manche von ihnen haben Katzensohlen, zarte, bebende Haut, sind verweht, fast noch bevor sie ausgesprochen wurden, sind zum Still-für-sich-Lesen statt zum Deklamieren geeignet. (Verlagstext)

Nora Gomringer, geboren 1980, hat zahlreiche Lyrikbände vorgelegt und schreibt für Rundfunk und Feuilleton. Neben zahlreichen anderen Auszeichnungen sowie Aufenthaltsstipendien in Venedig, New York, Ahrenshoop, Nowosibirsk und Kyoto wurde ihr 2012 der Joachim-Ringelnatz-Preis für Lyrik zuerkannt. 2015 erhielt sie den Ingeborg-Bachmann-Preis und 2019 war sie Max-Kade-Professorin des Oberlin College and Conservatory in Ohio. 2022 wurde Nora Gomringer mit dem Else Lasker-Schüler-Preis ausgezeichnet. Nora Gomringer lebt in Bamberg, wo sie das Internationale Künstlerhaus Villa Concordia als Direktorin leitet.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Judith Kinitz

Rudolf Bussmann «Wem wäre er nicht auf die Nerven gegangen»

Wem wäre er nicht auf die Nerven gegangen? Er mit seiner Fragerei? Wer hätte sich nicht früher oder später von ihm abgesetzt? Wäre geflohen vor seinen Fragen, die uns nichts angingen, uns mit seinen Sorgen quälten, von uns Antworten erwarteten, die niemand zu geben wusste? Können Sie sich vorstellen, was das heißt? Diese Fragerei von früh bis spät? Dieses aufsässige Fordern nach Antwort? Wären nicht auch Ihnen die Nerven durchgegangen? Hätten nicht auch Sie einen Punkt gesetzt? Ihn ins Leere laufen lassen mit seinen Fragen?
Was hätten Sie getan an unserer Stelle?
Warum antworten Sie nicht?

(erschienen in «Popcorn», Waldgut 2013)

Rudolf Bussmann, 1947 in Olten geboren, studierte Germanistik, Romanistik und Geschichte. Nach der Promotion bildete er sich zum Gymnasiallehrer aus und war an verschiedenen Berufs- und Höheren Fachschulen tätig. Er schreibt Romane, Kurzprosa, Lyrik und ist als Herausgeber und Übersetzer tätig. Zuletzt erschienen sind «Eine Brücke für das  Gedicht, 75 zeitgenössische Gedichte befragt von Rudolf Bussmann» (2014) und «Das andere Du», Roman (2016). Rudolf Bussmann leitet Schreibseminare und Lesezirkel, er lebt in Basel. 

Rudolf Bussmann «Verheißenes Land», Gedichte, edition bücherlese, erscheint im März 2024

Rudolf Bussmann «Verheißenes Land», Gedichte, edition bücherlese
Die Passkontrolle ist vorbei, die Passagiere treten ins Mittagslicht. Die Reise durch Israel und Palästina beginnt. Sieben Tage dauert sie. Vorbei an Barrieren, Grenzposten, Mauern führt sie auf die Zinnen einer Altstadt. Sie führt in die bunte Vielfalt eines Suks, sie führt in das Quartier orthodoxer Gläubiger, sie führt in besetzte Gebiete. Eine verlassene Mühle kommt in den Blick, die Stimme eines Vertriebenen ist zu hören, eine schattige Eiche lädt zum Verweilen ein. Das Ich, unterwegs zu Fuß, mit Auto oder Bus, wird gewahr, wie sich ihm ein alter Kulturraum öffnet, der keine festen Grenzen kennt und in vorbiblische Zeiten zurückreicht. Gleichzeitig wird es von der politischen Hochspannung, die das Land im Griff hat, erfasst.
Rudolf Bussmann hat Israel und die Westbank 2018 bereist und die Niederschrift des Buches vor dem Überfall der Hamas vom Oktober 2023 beendet. Seine Gedichte begegnen den Widersprüchen und Konflikten mit einer Sprache, die in starken Bildern Schönheiten genauso wie Abgründe dokumentiert. Sie holen die Vision vom verheißenen Land aus der Versenkung und versuchen ihr in einem eindrücklichen Statement neue Konturen zu geben. 

Rezension «Der Flötenspieler», edition bücherlese

Webseite des Autors

Beitragsbild © Ayse Yavas

Ursula Fricker «Topografie der Kindheit – Über kleine und große Bedürfnisse»

Unsere Mutter ist vor zwei Monaten ins Altersheim gezogen, und mein Bruder hat mir aus ihrer letzten Wohnung eine Kiste mitgebracht, randvoll mit Dingen, die man ungerne einfach entsorgt. Fotoalben, Schulzeugnisse, Briefe, außerdem eine Wanderkarte: UNTERSEE HEGAU-RHEIN. Es ist diese Karte, die er, kaum hat er die Kiste hingestellt, rausfischt und sie wie eine besonders fette Beute auf den Tisch klatscht. Und dabei grinst. Oder lächelt. Eine Wanderkarte 1: 50`000, 1963 herausgegeben vom Verkehrsverein Untersee und Rhein, Verkaufspreis: Fr. 3.50/DM 3.30. Sie ist speckig-vergilbt und alle Falzkanten wurden irgendwann mit Klebestreifen verstärkt, die sich an verschiedenen Stellen längst wieder gelöst haben. 

Riechst du das?, fragt mein Bruder und hält sich die Karte unter die Nase. Gib her, sage ich. Und tatsächlich. Das Papier riecht noch, was, wonach? Es riecht nach Lavendel, Sandelholz, eine Komponente Leder (Wanderschuhe). Es riecht nach dem Rosmarin-Öl, mit dem Vater sich abends die Hände einrieb. Mühelos hat der Geruch die Zeiten überdauert – mein Bruder ist jetzt in seinen Sechzigern, ich unwesentlich jünger. Vorsichtig, als wäre dieses fragile Gebilde unendlich kostbar, falte ich es auseinander. Und da liegt sie, die Topografie unserer Kindheit. 

Jeden Samstagabend saß Vater am Wohnzimmertisch über die Karte gebeugt und plante Routen. Er plante die Wege, die uns am Sonntag alle unsere Kräfte kosten sollten. Es waren nicht einfach Spaziergänge, nach denen ihm der Sinn stand, es waren Gewaltmärsche, die ihn und uns allwöchentlich an den Rand der Erschöpfung brachten, nicht selten darüber hinaus. Bei Einbruch der Nacht stolperten wir noch immer durch irgendeinen Wald, weil Vater sich zeitlich verkalkuliert oder wir uns schlicht und ergreifend verirrt hatten. Trotz Karte. Es war, als ob er sich jeden Sonntag erneut die überragende Leistungsfähigkeit seines Körpers beweisen müsste. 

Nun war wandern damals ja noch keine besonders coole Freizeitbeschäftigung. Meine Klassenkameradinnen und Kameraden fuhren samstags, natürlich im Auto, mit ihren Eltern ins Shoppi nach Spreitenbach, sonntags schliefen sie lange, es gab ein üppiges Mittagessen, man spazierte maximal eine Stunde dem Rhein entlang und gegen vier Uhr gab es schon wieder Kaffee und Kuchen. Abends Fernsehen. Wir hingegen standen bei jedem Wetter vor sieben Uhr auf, um den Zug nach Immendingen oder Tuttlingen nicht zu verpassen. Im Rucksack Vollkornbrot, Äpfel, Möhren. Und die Karte.

Unser ökologischer Fußabdruck, hätte man dergleichen damals schon gekannt, wäre sozusagen Unternull gewesen; wir waren Vegetarier, industriell verarbeitete Lebensmittel waren tabu. Wir hatten kein eigenes Haus, besaßen weder Fernseher noch Auto, fliegen kam selbstverständlich nicht in Frage. Ein gutes Leben war für unseren Vater das Gegenteil dessen, was die Mehrheit in den siebziger/achtziger Jahren als gutes Leben empfand. Statt für mehr, war er für weniger. Oder: Er wollte immer mehr vom Weniger.

Heiß und innig war dabei sein Hass auf die degenerierten Massen, wie eine Monstranz trug er seine Minderheitenposition vor sich her, und er bestand darauf, auch noch innerhalb des Kreises der paar Veganer und Vegetarier, die es damals gab, eine Minderheit zu sein. Für ihn war niemand ernst zu nehmen, der auch nur das winzigste Bisschen kompromissbereiter war als er. 

Warum hatten wir uns nicht gewehrt, frage ich mich. Warum hat sich mein Bruder nicht eines Sonntagmorgens trotzig auf den Boden gesetzt: Nein, keine Lust, heute komme ich nicht mit. Oder Mutter: Ich will aber jetzt auch endlich ein Auto! Unvorstellbar. Sünde wäre das gewesen. 

Seine Obsession sicherte unser Vater ab mit einer Art Moral. Mit einer Moral der totalen Vernunft, die er ganz exklusiv für sich beanspruchte. Schaut mal, sagte er beispielsweise, der saure Regen! Und zeigte auf eine Tanne mit wunderbar grün sprießenden Trieben. Wie kann ein vernünftiger Mensch, fügte er hinzu, heutzutage noch Auto fahren und die Luft verpesten, während der Wald verreckt. Wir sahen hin, wir versuchten, gelbe Stellen zu finden im grünen Nadelkleid des Baumes, Zeichen der Krankheit, des Verfalls, wir wollten gelbe Stellen entdecken, unbedingt. Ja, dort, rief mein Bruder und dann sah ich es auch, ganz deutlich: gelbe Stellen im großen Grün. Und froh waren wir, nicht schuld am Verderben des Waldes und dem absehbaren Verderben einer Menschheit zu sein, die, meinte Vater, das Verderben mehr als verdient hat. 

Aber er hatte doch recht, sage ich, wegen der Umwelt, heute ist das doch keine Frage mehr, manchmal muss man halt extrem sein, damit was in Gang kommt, oder nicht? Mein Bruder beugt sich über die Karte. Erinnerst du dich, als noch Dampfloks fuhren, sagt er, statt einer Antwort, und legt den Finger auf den Bahnhof Tuttlingen. Ja, sage ich, Dampfloks, die haben ja auch krass die Luft verpestet. Du soo klein, zeigt er mit der flachen Hand knapp überm Boden. Was du für einen Aufstand gemacht hast, wenn wir von einem Wagen in den anderen mussten. Seitlich diese dicken schwarzen Gummiwülste, über die scheppernde Blechbrücke, während Dampf durch die Zwischenräume hochfauchte. Ich erinnere mich nicht. Du hast gebrüllt, lacht er, zetermordio, wir mussten aussteigen und außen rumgehen. Und das findest du jetzt lustig, sage ich. Damals war mein Bruder ja wesentlich älter als ich, vier Jahre. Ich erinnere mich noch immer nicht, aber glaube ihm. Und bin erstaunt, dass ich derart unvernünftig Theater gemacht haben soll – und auch noch Erfolg hatte damit. So gnädig, weiß ich, wäre Vater ein paar Jahre später nicht mehr gewesen, grob hätte er mich über das Blech gezerrt, klar, war ja schließlich keine Hölle, nur Physik. Ein paar Jahre später hätte ich das verstanden. 

(Erstmals erschienen als Carte Blanche im „Kulturtipp“)

Eine Frau, mitten im Leben, ist bereit, für die Kunst alles aufzugeben – sogar sich selbst. «Fangspiele» ist ein packend erzählter Roman über manipulative Macht und die bestürzende Bereitschaft, ihr zu verfallen. Erscheint im Frühling 2024!

Ursula Fricker, 1965 in Schaffhausen geboren, hat bisher fünf Romane veröffentlicht, u.a. ihr viel beachtetes Debüt «Fliehende Wasser» (2004), «Außer sich» (2012), nominiert für den Schweizer Buchpreis, und «Gesund genug» (2022). Die in der Märkischen Schweiz bei Berlin lebende Autorin wurde vielfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Georg Fischer Kulturpreis der Stadt Schaffhausen. Für Fangspiele erhielt sie einen Werkbeitrag der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia und den Brandenburgischen Kunst-Förderpreis für Literatur.

Ursula Fricker «Lügen von gestern und heute», Rezension auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Ayse Yavas

Noreen Sheikh «Was wir uns nicht erzählen»

Ich werde dich eines Tages fragen, wer mein Vater war.
Vielleicht bei einem Abendessen zwischen zwei Bissen, oder vielleicht zwischen Tür und Angel. Du wirst dich im Stuhl zurücklehnen, das Essen sorgfältig kauen. Du wirst es so lange kauen, bis du eine Antwort gefunden hast. Eine für mich zugeschnittene Antwort, oder vielleicht sogar die ganze Wahrheit auf einmal. Happen für Happen.
Vielleicht wirst du mich fest an dich drücken und mit feuchten Augen den Spuren der Regentropfen folgen, die an die Fensterscheibe prasseln.
Der Regen wird dich erinnern. An Zeiten, in denen es häufig regnete und niemand auf der Strasse tanzte und sich darüber freute. Vielleicht wirst du mir, wie schon so oft, von den Jahreszeiten erzählen. So klar und prägnant wie sie einst waren. Jede für sich.

Sie werden wiederkommen, wirst du mir sagen.

Die Erde wird sich erholen, wirst du mir mit Nachdruck versichern. Jetzt, da viele von uns fort sind. Ganz bestimmt.

Du wirst deine Hände verwerfen, dir eine Strähne aus dem Gesicht streifen und dich entschuldigen. Entschuldigen, dass du abgeschweift bist. Ich werde mich fragen, ob du das tatsächlich bist, oder du einfach deine Gefühle vor mir verbergen wolltest. Vielleicht kam Sehnsucht über dich, wie schon so oft. Das Heimweh nach einer alten Heimat. Ein sicheres Zuhause, das schon längst keines mehr war.

Vielleicht hat der Regen mit meinem Vater zu tun.

Ich weiss, dass er ihn am Tag seiner Abreise das letzte Mal sah. Er konnte ihn nicht spüren, nicht riechen, vielleicht nicht einmal hören. Nur sehen. Und sich erinnern wie es war.
Vielleicht, werde ich mich fragen, vielleicht hielt er einen Moment inne, um sich diesen einen Augenblick einzuprägen. Ich werde mich fragen, ob er auch heute noch an diesen Moment zurückdenkt, wenn er die feinen Eiskristalle auf dem roten Staub sieht. Sieht, wie sie aus dünnen Wolken niederrieseln.

Lautlos und sanft.

Vielleicht wird ihm ein Gedanke kommen.

Lautlos und sanft.

Ich werde dich fragen, ob er von mir gewusst hatte. Ob er mich wortlos beiseitegeschoben und heimlich in die Sterne getragen hatte.
Du wirst lächeln, aber nur mit dem Mund, nicht mit den Augen, und meine Hand streicheln. Vielleicht wirst du auch deinen Blick senken und nervös an den Knöpfen deines Kleides herumspielen. Vielleicht wirst du schweigen, werden wir schweigen. Darüber, was ich schon weiss, oder auch nicht. Ob ich dir vom Brief erzählen soll, werde ich mich fragen. Abgegriffen und versteckt in deiner Schublade. Eine letzte Nachricht an dich, bevor mein Vater in die neue Welt hinaustrat.

Bevor der Regen eine Erinnerung wurde.

Bevor wir eine Erinnerung wurden.

Du wirst den Brief erkennen. Wirst vorsichtig eine Hand drauflegen, wie ein schützendes Schild. Du wirst mir seinen Inhalt erzählen. Wirst mir erzählen, was ich schon weiss und was nicht.
Von der Erde, wie sie vor langer Zeit war, und wie sie damals war, als es für meinen Vater das letzte Mal regnete.
Und wie sie nach der grossen Reise der Männer und Frauen war.

Wie sie nach meinem Vater war.

Vielleicht wirst du mir beichten, dass du hättest mitgehen können. Dass mein Vater hätte bleiben können. Dass eure Hoffnungen in unterschiedliche Richtungen liefen. Deine zur bekannten Welt, der Erde. Seine zu den Sternen, in die Weiten der Galaxie.

Ob du mich wortlos an ihm vorbeigeschoben hattest, werde ich dich fragen. Ob du mich heimlich in dir getragen hattest.

Wirst du es mir je sagen?

Ich lebe auf einem blauen Planeten, der einst noch blauer war. Den ich so nicht kenne und vielleicht so nie kennen werde.
So wie ich auch meinen Vater nie kennen werde, fern auf einem roten Planeten.

Wir müssen reden, du und ich. Eines Tages.

Noreen Sheikh, geboren 1989 in Rorschach SG, lebt mit ihrer Familie in einem 1000-Seelendorf im Kanton St. Gallen. Die begeisterte Amateur-Balletttänzerin widmet sich nebst dem Muttersein nun ganz dem Schreiben. Sie absolvierte an der Migros Klubschule St. Gallen den Kurs Drehbuch schreiben. Derzeit besucht sie den Lehrgang Literarisches Schreiben an der Schule für Angewandte Linguistik (SAL) in Zürich und arbeitet an ihrem ersten Roman. Ihre Geschichten handeln von alltäglichen Tragödien, von Höhen und Tiefen, die das menschliche Dasein ausmachen.

Beitragsbild © Noreen Sheikh

Heidi Engel «Goldene Herzen» – «Tschuldigung» 10

Seit einer Woche bereitet Josephine das Weihnachtsfest vor. Alles muss seine Richtigkeit haben. Paul, ihr Mann, legt großen Wert darauf.
Heute an Heiligabend wird mit ihrem Mann Paul und den beiden Kindern Maria und Thomas gefeiert. Am ersten Weihnachtstag mit ihren Eltern und Geschwistern und am zweiten Weihnachtstag mit Pauls großer Familie.
Im ganzen Haus duftet es nach Zimt, Orangen und frisch gebackenem Konfekt. Überall sind Nippes aufgestellt. Selbstgebastelte Sterne hängen von der Decke und an den Fenstern sind Klebebilder angebracht. Ab Mitte November bis Ende Dezember läuft beständig Weihnachtsmusik, dass einem die Ohren abfallen.

Nach dem Mittag geht Paul mit den Kindern auf dem Markt, um einen Tannenbaum auszusuchen. Das hat eine lange Tradition. Schon Paul ging mit seinem Vater auf Tannenbaumschau. Dieser wiederum mit seinem Vater. Das reicht weit zurück und Paul ist stolz darauf.
Josephine holt derweil den Schmuck vom Dachboden. Sie entscheidet sich für die goldenen Kugeln. Die Kugeln in Silber und Bordeaux bleiben wohl verstaut in ihren Kisten.
Die von Großvater gezimmerte Holzkrippe samt Holzfiguren und den Baumschmuck stellt Josephine im Wohnzimmer auf das Sofa.
Sie steckt gerade die letzte rote Kerze in den Kerzenhalter, als die Tür auffliegt und Maria hereinstürmt. Sie bringt Kälte und die ersten Schneeflocken mit. Alle befürchteten, dass es dieses Jahr erneut grüne Weihnachten geben würde.
»Mama! Wir haben einen riesen Baum ausgesucht. Du wirst staunen.« Ihre Wangen und die Nase sind rosig ab der Kälte.
Paul und Thomas bugsieren das Ungetüm ins Wohnzimmer.
»Eine Blautanne hatten wir noch nie. Das habt ihr toll gemacht.« Josephine drückt beide Kinder an sich und gibt Paul einen Kuss.
»Möchtet ihr eine heiße Schokolade, bevor ihr die Tanne schmückt?«
»Ou ja!« Die Kinder flitzen in die Küche und eine lachende Josephine folgt ihnen. Paul bleibt zurück und befreit die Tanne aus dem Netz.
Nach der Stärkung kehren sie lachend ins Wohnzimmer zurück. Alle bleiben sie am Türrahmen stehen und bestaunen die Tanne, deren Eleganz erst jetzt zum Tragen kommt. Paul kniet unter den Zweigen und justiert den Stamm im extra dafür vorgesehenen Ständer.
»Steht sie gerade?«, fragt er in die Runde.
»Perfekt!«, echot es im Chor.
Maria inspiziert die Kiste und rümpft umgehend die Nase. »Ich will nicht die goldenen Kugeln!« Sie verschränkt die Arme und stampft mit dem Fuß auf. »Ich will die Bordeauxfarbigen.«
»Entschuldige Maria, aber ich dachte, wir wechseln jedes Jahr die Farbe. Das hatten wir gestern besprochen. Mit der Zeit wird es langweilig, wenn wir immer dieselben nehmen.«
»Mir egal. Ich will Bordeaux.«
Josephine möchte über die Weihnachtszeit kein nörgelndes Kind. Zumal ihr Ältester bis jetzt noch keine Flausen im Kopf hat. Daher holt sie die gewünschten Kugeln.
Wenige Minuten später kehrt sie zurück.
»Die Farbe der Kerzen passt nicht zu den Kugeln.« Die fünfjährige Tochter stemmt die Hände in die Hüfte und schiebt die Unterlippe vor.
»Ich habe keine anderen. Tut mir leid. Wir müssen mit diesen vorlieb nehmen, ob du willst oder nicht.« Sie wirft hilfesuchend einen Blick zu ihrem Mann, doch der verlässt im selben Moment den Raum. Toll!
»Ich will Glitzer.«
»Du kannst sie mit deinen Zauberstiften anmalen.«
»Juhuu!« Hüpfend springt die Kleine davon, um die Stifte zu holen.
Glück gehabt, denkt sich Josephine.
Thomas hängt die Kugeln auf, welche Maria mittlerweile vergessen hat. Zu beschäftigt ist sie mit dem Bemalen der Kerzen. Zufriedene Minuten, bei denen das wohlige Weihnachtsgefühl in Josephine aufflammt. Leise verlässt sie das Zimmer, um sich einen Tee zu gönnen.
»Der Josef gehört nicht dahin. Da kommen die Könige. Mamaaaaa! Thomas macht alles falsch. Mamaaa!«
»Nein, das ist korrekt.«
»Was ist den nicht okay?« Josephine kniet sich zu den beiden Kindern hin. Die vorherige Idylle dauerte gerade mal eine Tasse Tee aufbrühen.
»Kuck doch.« Marias Patschhändchen zeigen auf den Josef.
»Ja, der steht nicht an den für ihn vorgesehenen Platz.« Sie blickt ihren Sohn an. Sein spitzbübisches Grinsen verrät ihn sofort. »Maria, du darfst die Figuren umordnen. Danach machen wir uns frisch und ziehen die neuen Kleider an.«

Um fünf Uhr stehen alle chic angezogen vor dem Weihnachtsbaum. Die Geschenke, welche mit Schleifchen und buntem Papier um die Wette glitzern, sind geschmackvoll unter dem Baum verteilt.
»Bevor wir die Geschenke öffnen, möchte ich, dass wir ein Lied singen. Oder trägst du, Maria, zuerst ein Stück mit der Blockflöte vor?«
»Ich will nicht!«
»Na gut, dann singen wir.« Josephine räuspert sich und stimmt ›stille Nacht, Heilige Nacht‹ an.
»Halt!«, ruft Thomas.
»Ich will mit meiner Gitarre ein Lied vortragen.«
»Gerne.«
»Dann spiele ich Blockflöte.«
Thomas stimmt die ersten Noten an und Maria fängt kurz darauf an. Natürlich nicht dasselbe Lied. Das wäre zu schön gewesen.
»Kinder, Kinder. Bitte eines nach dem anderen.«
»Ich zuerst!«
»Nein, ich. Mami hat mich zuerst gefragt.«
»Aber du wolltest nicht und nun bin ich dran.«
»Neeeeiiiiinn!«
Thomas zieht an Marias Haaren und sie fängt an zu weinen.
»Könnt ihr nicht an einem einzigen Abend ohne Streitereien auskommen?«, fragt Paul.
»Ich habe gar nichts gemacht«, meint Thomas. Der zwei Jahre älter als seine Schwester ist.
»Warum weint dann Maria?« Paul blickt von einem Kind zum anderen.
Er zuckt mit den Schultern.
»Was riecht hier verbrannt?« Ihr Mann streckt seine Nase in die Höhe und schnuppert. Umgehend ist der Streit vergessen.
»Oh nein!« Josephine eilt in die Küche. Ein bissiger Rauch empfängt sie. Sie hält sich den Ärmel vor Mund und Nase. Derweil öffnet sie mit der freien Hand den Backofen und zieht den Braten – wenn man es noch so nennen darf – heraus.
»Mist!« Mit verschränkten Armen steht sie vor dem Kohlenstück.
»Und was essen wir nun?« Paul ist zu ihr getreten.
»Entschuldige. Das ist mir noch nie geschehen.« Josephine fährt sich durch die Haare. »Wir müssen uns wohl mit den Beilagen begnügen.« Sie versucht, zu lächeln, was eher einer Grimasse gleichkommt.
»Aber der Braten hat Tradition.«
»Meinst du, das weiß ich nicht?«, gibt sie schroff zurück.
»Du brauchst mich nicht anzuschnauzen.«
»Entschuldige bitte. Ich …«
»Mamaaaaaa! Der Baum brennt.«
Wie von Taranteln gestochen, rennen sie ins Wohnzimmer. Während sie das Sofa passieren, greift Josephine reflexartig zur Decke und wirft sie über den Baum. Dieser verliert sein Gleichgewicht und fällt zu Boden. Abgebrochene Kerzenstücke und Kugelteile schauen unter der Decke hervor.
»Meine schönen Kerzen sind kaputt«, schreit Maria. »Du hast die Kerzen und die Kugeln kaputt gemacht.« Ihre Augen füllen sich erneut mit Tränen. Unglaublich, was das Kind an Augenpipi produzieren kann.
»Entschuldige, aber sonst hätte das Wohnzimmer Feuer gefangen. Hättest du das gewollt?«
»Und was ist mit den Geschenken?«, will Thomas wissen.
»Paul, schau bitte nach.« Josephine ist zu aufgewühlt.
Die Worte lösen ihn aus seiner Starre. Er hebt die Decke an und holt die Pakete hervor.
»Sind alle ganz. Zum Glück.«
»Gut.« Josephines Herzschlag beruhigt sich. Immer wird an ihr herumgenörgelt, obwohl sie den gesamten Haushalt zusammenhält. Sie fühlt sich leer. Würde sich am liebsten ins Bett verkriechen. Aber sie muss stark bleiben. Stark für zwei Kinder und ein großes.
»Ich habe Hunger. Wann gibt es zu essen?«, will Thomas wissen.
»Ich habe auch Hunger«, jammert Maria.
»Was gibt es denn nun? Der Braten ist verkohlt. Nur Beilagen ist langweilig«, zetert Paul.
»Pizza?«
»An Heiligabend?« Thomas sieht sie mit großen Augen an.
»Warum nicht?«
»Was ist mit der Tradition?«, will ihr Mann wissen.
»Die holen wir Morgen und Übermorgen nach.«

Die Tanne steht wieder an ihrem Platz. Die versengte Seite nach hinten gekehrt und diesmal ohne Kerzen. Davor ist eine Decke ausgebreitet. Darauf steht der Salontisch mit vier Fußschemeln.
Josephine legt gerade die Teller und das Besteck auf den Tisch, als es klingelt. Die Kinder eilen zur Tür. Pizza an Heiligabend, wann gab es das denn?
»Würdest du bitte die Rechnung begleichen?«
»Was?«
»Die Rechnung.«
»Natürlich.« Paul erhebt sich und geht zur Tür.
Die Kinder tragen stolz die Kartonschachteln ins Wohnzimmer.
»Riech mal Mama.«
»Lecker.«

Die Pizzen sind gegessen. Nun warten die Geschenke, die während des Essens von neugierigen Kinderaugen taxiert wurden.
»Ich zuerst!«
»Nein, ich zuerst.«
»Kinder! Zuerst die Mama. So wie wir es besprochen haben.«
Perplex sieht Josephine zu ihrem Mann. Noch nie durfte sie als Erste ein Geschenk auspacken. Selbst an ihrem Geburtstag haben die Kinder für sie die Präsente ausgepackt.
Thomas überreicht ihr eine kleine Schatulle. »Mama, ich möchte mich bei dir bedanken und entschuldige mich, dass ich nicht immer lieb zu dir bin.«
Josephines Augen glänzen. Sie öffnet die Schatulle und entnimmt einen goldenen Anhänger in der Form eines T.
»Vielen lieben Dank mein Schatz. Lass dich drücken.«
»Nun ich!« Maria legt ihr sorgfältig eine selbstgebastelte Schachtel aus Papier in die Hand. »Mami. Danke, dass du mir das Essen kochst und die Wäsche machst. Und mich badest und mir vorliest.«
Josephine bekundet Mühe, die Tränen zurückzubehalten.
»Und ich versuche, nicht mehr böse zu werden. Entschuldige.«
»Mein Schatz.« Sie drückt den kleinen Wonneproben an sich.
»Du hast mein Geschenk noch nicht geöffnet!«
»Sofort.«
Zum Vorschein kommt erneut ein goldener Anhänger. Aber diesmal als M.
Die Tränen bahnen sich ihren Weg. Glücklich schließt sie die Kinder in die Arme.
»Mein Liebling.« Paul kniet vor sie hin. Die Kinder zwischen ihnen. »Ich entschuldige mich bei dir, dass ich dich zu wenig unterstütze und du den Haushalt alleine meistern musst. Ich weiß das sehr zu schätzen. Auch wenn ich es nicht immer zeige. Ich hoffe, du weißt das ganz tief in dir drinnen.« Er räuspert sich. »Kinder, darf ich kurz die Mama umarmen? Ihr dürft nachher wieder.«
Murrend schälen sie sich aus Josephines Armen.
»Mein Liebling. Als kleine Aufmerksamkeit möchte ich dir diese Kette umlegen.« Er öffnet eine größere Schatulle. Zum Vorschein kommt eine goldene Kette mit zwei Anhängern, J und P, sowie fünf kleinen Herzen.
»Würdest du mir bitte die beiden Geschenke der Kinder überreichen?«
Paul fädelt die Anfangsbuchstaben und die Herzen geschickt auf. Am Ende ist ein Herz, ein Buchstabe, ein Herz, ein Buchstabe und so weiter aufgereiht. Paul legt Josephine die Kette an, zieht sie in eine feste Umarmung und küsst sie zärtlich.
»Danke«, haucht sie, immer noch um Fassung ringend ab der Überraschung.
»Ich liebe dich mein Liebling.«
»Ich dich auch.«

Heidi Engel, 1984 geboren, ist verheiratet und hat ein Kind. Aktuell arbeitet sie als Leiterin Netze Gas und Wasser. Bisher hat Heidi Engel kein Buch veröffentlicht. Ihr erster Roman ist momentan bei BoD zur Bearbeitung. Die Veröffentlichung erfolgt noch im 2023.

(Alle Texte zum Thema «Tschuligung» sind Einsendungen nach einem Aufruf auf dieser Webseite. literaturblatt.ch begründet eine Nichtberücksichtigung der Texte nicht.)

Illustration © leale.ch

Silvia Ittensohn «Flimmern an Weihnachten» – «Tschuldigung» 9

Bitte lösen Sie vorsichtig die Hülle. Streichen Sie sie sanft glatt. Entnehmen Sie ihr drei bis fünf silbrig leuchtende Bänder. Merci! Betrachten Sie das Glitzern meiner Robe. Wie ich mich dankbar an einem grünen Ast herunterlehne. Erlöst von der Düsterheit eines Dachbodens. Meine Damen und Herren, bitte lassen Sie sich nicht allzu sehr blenden von meinem Kleid. Sein Glanz verkörpert auch Trübes. Keine übermäßige Eitelkeit. Aber einen üblen Umgang mit ‚Christbäumen‘ am 25. Dezember 1944.

Ja, ich weiß. Zum Leben gehört eine Vorder- und Rückseite. Drehen Sie also die Hülle mit der Gebrauchsanweisung um. Sehen Sie die bunte Landschaft mit Rentierschlitten, vorangetrieben von einem rundlichen Weihnachtsmann, sekundiert von einem Engel, über dem der Schriftzug ‚Eislametta‘ schwebt? Betrachten Sie das mir vertraute Milieu. Dann nach dem Entnehmen mein Glitzerkleid. Sein metallisches Leuchten. Denken Sie an die Zwanzigerjahre dieses Jahrhunderts. An Tänzerinnen mit Bubiköpfen. An ihre mit Silberfäden durchwirkten Roben. An ihr Flimmern im Takt von Charleston beim Wechsel von X- zu O-Beinen. Oder an Liza Minnellis ‚Cabaret‘-Auftritt im Kit Kat Club in Berlin 1931, kurz vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten. Metallisch glänzen für kriegerische Zwecke, das tat ich zu meinem Bedauern 1944. Sonst glitzere ich jedes Jahr zwischen dem 24. und 25. Dezember nach dem Motto: gib und nimm. Lass strahlende Blicke auf Dir ruhen und spiegle sie dankbar zurück. Reziprok leuchten, darin steckt mein Glückselixier! Derart schaukle ich beseelt auf immergrünem Ast. Lasse mich sanft an ihm hinuntergleiten, meine Seele baumeln und vergesse die restlichen 350 bis 358 Tage im Dunkel eines Briefchens.

Nicht nur meine papierene Behausung, auch mein Name hat zwei Seiten. Er ist genauso ambivalent wie mein Bildnis. Wer in Italien nach mir ruft, verlangt eine zweischneidige Klinge aus Metall oder Blech. Wer mich auf Deutsch anspricht, – in abgehacktem Tonfall mit der Betonung auf „T“ – rattert meinen Namen militärisch scharfklingig herunter: „la-me-ta“. Wer ihn in sonorem Singsang wie ein Mantra wiederholt, betont den rituellen Charakter. Betont meine alljährliche Wiederkehr zur Weihnachtszeit: „la-me-ta, la-me-ta, la-me-ta!“. Nur im Singular, da klingt er lapidar: ‚Lametta“. Sich reimend auf „die mit zwei Saitn, wett ma“. Schon nach Geburt auf endlosem Band, als Teil eines Aluminiumblechs, offenbarte ich zwei Seiten. Ein Schweizer Industrieller hatte mich, ein Jahrhundert bevor Charleston getanzt wurde, in der deutschen Grenzstadt Singen vom Stapel einer Walze gelassen. Eine Seite rau, die andere glänzend, wett ma. In den Fünfziger und Sechziger Jahren sah man mich von der glänzendsten Seite. Man stöberte auf Weihnachtsmärkten nach ‚Brillant Eislametta‘ oder Qualitäts-Stanniol-Lametta‘, zögerte zwischen silbrig, goldig oder metallblau. Nahm mich wie ein Juwel in die Hände. Legte mich nach Ende der Weihnachtsfeier „schön gebügelt in eine Schachtel“ zurück.

Danach sank mein Renommee in den Keller. Das bügelt sich nicht schön. Meine raue Seite kam zum Vorschein. Im Ersten Weltkrieg geriet mein Name in Gefangenschaft. In die einer Verballhornung. Man verspottete die „Lametta auf der Brust“ von Offizieren, ihren Narzissmus, das „Klimpern der Lametta bei jeder Körperdrehung“. Das war das Vorspiel meiner Schandtat. Das Endspiel fand im Zweiten Weltkrieg statt. 1942 probierte Luftwaffenchef Hermann Göring unseren Kampfeinsatz. Wir Lametta gruppierten uns in sogenannten Düpeln, röhrenförmigen Stangen, um feindliche Radargeräte zu verwirren. Damit begann unser Kampf gegen sogenannte „brennende Christbäume“: gegen Leuchtkerzen, die auf deutsches Gebiet abgeworfen wurden. Von weitem sahen sie wie glitzernde Tannenbäume aus. Dank unserem Flimmern zerstreuten wir diese Sondierungsraketen, behinderten so auch feindliche Bombenabwürfe. Ebenso bot uns ab 1943 die gegnerische Seite auf. Im Auftrag der Alliierten in Wolken-Kommandos. Wie Cumuli regneten wir Metallpapierschnitzel vom Himmel herunter. Dass auch meine Geburtsstadt Singen mehrfach – am schwersten ausgerechnet an Weihnachten – bombardiert wurde, hatte unter anderem mit unserer erfolgreichen Behinderung der deutschen Flugabwehr zu tun. So gelang es am 25. Dezember 1944 den Alliierten in einer Großoffensive, 18 amerikanische Bomber und 90 Sprengbomben auf meine Geburtsstadt abzuwerfen, wobei 37 Menschen starben, 58 verletzt wurden. 

Nebst meinen widersprüchlichen Kriegsdiensten kam zu Weihnachten noch der zivile Einsatz. Weihnachtsgut war Mangelware. Aber als Sammelgut von Kriegstrümmern greifbar. So barg man auch mich aus Überbleibseln von Stanniol-Streuwolken. Und platzierte mich neben andere Trümmerteile oder kleine Panzer auf grüne Äste. Mein Glanz war nun ohne Gloria. Umständehalber. Ja. Nein. Luftwaffenchef Hermann Göring konnte es nicht lassen. Er hatte als sogenannter „Lametta-Heini“ nicht nur eine Schwäche für Orden und prunkvolle Uniformen. Unter festlich geschmücktem Baum stimmte er auch dieses Loblied auf mich an:
„Rechts Lametta, links Lametta,
Und der Bauch wird imma fetta,
Und in Preußen ist er Meester –
Hermann heißt er!“

„Tsssssch….“, zischt mich ungeduldig die Wunderkerze an. Sie nimmt mir den Stab ab: „Du hast genug geredet, ttsssschschschsch … ich habe ja nur zwei Minuten Zeit.“ In der Tat, nur allzu schnell versprüht sie ihre Funken aus Aluminium, Titan und Magnesium. Ich überlasse ihr eilig die Bühne auf dem geteilten Ast. Mein letztes Wort nach ihrem „Tssccch…“ bleibt im Hals stecken: „Tsch‘uldigung.“

Silvia Ittensohn, Fachlektorin für Interkultur, Philosophie und Politik, journalistisch tätig. Nach Lizenziat und Lehrerausbildung Deutschlehrerin für Fremdsprachige im Migrationsbereich. Initiierte nach einem Master in Interkultureller Kommunikation einen lokalen Kultur-Verein Schweiz-China. Seit ihrer Pensionierung schrieb sie eine historisch-fiktionalisierte Broschüre zur Geschichte der «SP-Frauen Schweiz». Im Blaukreuzverlag wurde ihre Kurzgeschichte ‚Zurück in die Zukunft – mit dem Trottinett‘ publiziert. Derzeit schreibt sie Kürzestgeschichten und Kurzgeschichten. Seit knapp einem Jahr arbeite sie an einem lokalhistorischen Roman.

Illustration © leale.ch