Franz Hohler «Enten»

Auf dem Bahnhof Wiedikon, wo ich aus der S-Bahn ausgestiegen bin, hupt die Lokomotive dreimal hintereinander heiser in den Tunnel hinein, bevor sie mit dem Zug darin verschwindet. Den Grund dafür sehe ich wenig später. Auf dem entgegenkommenden Gleis hasten zwei junge Entlein aus dem Tunnel heraus. Wie und warum sie da hineingeraten sind, weiss ich nicht, aber sie haben offenbar gemerkt, dass das nicht ihr Ort sein kann, und suchen nun fiepend irgendeinen Ausstieg aus dem vertieften Bahntrassee. Da steht plötzlich auf dem andern Bahnsteig die Entenmutter, die ihre Jungen sucht und abwechselnd schnattert und hohe Laute ausstösst. Aber weder sieht sie ihre Jungen, noch scheinen ihre Jungen sie zu hören. Man möchte der Alten zurufen: «Da vorn sind sie!», doch sie watschelt in die falsche Richtung.
Eine Frau versucht mit ihrem Handy die Polizei oder die Feuerwehr anzurufen. Gerade erst haben wir schärfere Gesetze gegen den Familiennachzug von Flüchtlingen erlassen, aber das können wir nicht mitansehen, diese kleine Familie müssen wir doch zusammenführen – da naht tonnenschwer ein Zug aus dem Tunnel; das eine Entchen sucht immer noch einen Ausweg zwischen Gleis und Bahnsteigkante, das andere rennt zwischen den Schienen vor der donnernden Gefahr davon. Ich ducke mich, und als der Zug im Bahnhof anhält, sehe ich erleichtert das eine der Jungen immer noch zwischen den Schienen rennen, während das andere immer noch versucht, das Perron zu erklimmen und die Frau immer noch auf der Suche nach Rettern ins Handy spricht und die Entenmutter immer noch auf der falschen Seite am Verzweifeln ist.
Dann muss ich gehen.

Franz Hohler wurde 1943 in Biel, Schweiz, geboren. Er lebt heute in Zürich und gilt als einer der bedeutendsten Erzähler seines Landes. Hohler ist mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden, zuletzt mit dem Alice-Salomon-Preis und den Johann-Peter-Hebel-Preis. Sein neuster Roman «Das Päckchen» erscheint wie fast alle seine Bücher im Luchterhand Verlag.