Nathalie Schmid «Wacholder»

Wacholder

Kratzer vom Windspiel an der Haustüre
ein verstopfter Tränenkanal & Treppenhausgeschwätz.
Von irgendwo die Erinnerung an Wacholder. Wirst du
mich auch lieben wenn ich das Gedächtnis verliere?
Über die Küchenablage flattern Dämonen wie kleine
schwarze Schmetterlinge ihre Schuppen fächern auf.
Nie weiss man wo als nächstes das Licht hin fällt und was
im Schatten liegen bleibt aber man bittet weiter
um die Zuversicht des Himmels.

(aus dem Gedichtband «Gletscherstück»)

 

In Spuren

Am späten Sonntagnachmittag ist es still
in der Siedlung man hört nur selten
eine Stimme die etwas ruft ein schwaches
Zirpen von einem Vogel. Die Septembersonne
wärmt noch einmal kräftig und die Sonnenblumen
der Nachbarin leuchten. Von Weitem hörst du
das Knattern eines Mopeds bis es sich am
Waldrand verliert du denkst an deine
Schwiegermutter wie sie auf ihrem Solex
über die Grenze fuhr um sich eine Dauerwelle
machen zu lassen vor über sechzig Jahren.
Du besuchst sie oft in diesem Herbst du kannst
ihre verbleibende Zeit sehen ein Haufen Schnee
der in der Septembersonne glitzert. Sie würde
noch immer all deine Pflanzen retten das hat sie
schon oft getan mit Stirnrunzeln und grosser Hingabe.
Gebt mir noch einen Frühling und einen Sommer in
diesem Haus sagt sie seit Jahren. Ich halte doch alles
in einem tadellosen Zustand. Eine Hornisse
knallt gegen das Fenster und von irgendwo
kommt Glockengeläut. Du denkst an die Karpfen
im Lengnauer Weiher wie langsam sie
an die Oberfläche schwimmen fast bewegungslos
lassen sie sich treiben im Sonnenlicht. Du versuchst
dir vorzustellen wie sie Zeit wahrnehmen die Tage
im Regen fallende Blätter die Dunkelheit. Wieder Tage.
Eisschichten auf dem Weiher die unterschiedlichen
Temperaturen von Wasser. Du hast es gesehen
ganz nahe kommen sie einander als folgten sie
einer Spur als vergewisserten sie sich ständig
um die Anwesenheit des Anderen.

(aus dem Gedichtband «Gletscherstück»)

 

mutters legende grace

mit vornehmer distanz wollte sie
für ihren vater von bedeutung sein
im gegensatz zu ihrem vater war sie
mehr eine künstlernatur versprühte
mal eleganz mal insektenmittel
ein neuer formtyp grace
hat eine schwäche für vaterfiguren bringt
diese aus dem gleichgewicht wenn
das brave mädchen plötzlich im nachthemd
und das war diese art von heldin
ich brauche damen die im schlafzimmer
zu nutten werden

man hält an sich mit disziplin
wird es möglich einen leibhaftigen
fürsten für den vater wie gross 
ist monaco? 4 schrankkoffer 56 weitere 
gepäckstücke 72 verwandte freunde
und 110 journalisten
hat sie besondere gedanken 
wenn sie ihre heimat verlässt? 
sie muss viele qualitäten haben 
weil er einen fürchterlichen charakter hat

überflüssig und unterbeschäftigt
und einfach kein glücksgefühl mehr
fällt zur staatskrise das comeback aus
bleiben gepresste blumen einer liebenden 
aber strengen mutter
auf bettwäsche und tapeten
es gab keinen grund für diesen unfall
es gab den ersten trauergottesdienst 
für eine frau der im fernsehen
übertragen worden ist

(aus dem Gedichtband «Die Kindheit ist eine Libelle»)

 

Nathalie Schmid, geboren 1974 in Aarau (CH). Sie studierte am Deutschen Literaturinstitut Leipzig und arbeitet als Schriftstellerin und Erwachsenenbildnerin. Bisher sind von ihr drei Gedichtbände erschienen, zuletzt «Gletscherstück» (Wolfbach, 2019), «Atlantis lokalisieren» (Wolfbach, 2011); davor «Die Kindheit ist eine Libelle» (Lyrikedition 2000, 2005).. «Lass es gut sein» (Geparden Verlag) ist ihr Debütroman. Für ihre Texte hat sie u.a. den Publikumspreis des MDR-Literatur-Wettbewerbs und ein Aufenthaltsstipendium der Stiftung Landis & Gyr in London erhalten.

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Beitragsbild © Claudia Herzog