Anaïs Meier «Zwiebel»

Zwiebeln sind etwas Gutes. Man findet sie in fast jeder Küche der Welt und gleichzeitig gibt es auf der Welt auch sehr viele Zwiebeln, eine Win-win-Situation ist das. Gekocht schmecken sie süss, gebraten saftig und roh pikant. Ein wirklich erstaunliches Gemüse. Das Zwiebelschälen mögen viele trotzdem nicht. Es gibt sehr viele schlechte Metaphern darüber, die man gar nicht zitieren möchte. Es gibt allgemein viele Metaphern zur Zwiebel, was zeigt, wie wichtig sie für die Menschen ist. Die Zwiebel ist auch wichtig für die Tiere. Nachts singen zum Beispiel die Bauernhoftiere Lieder über die Zwiebel, das ist etwas, was nur ganz wenige wissen. Denn die gekochte Zwiebel gibt der Speise Würze und auch Süsse und sie passt zu jedem Gemüse. Und zu jedem Fleisch, ein Fakt, über den die Bauernhoftiere nachts mit Schrecken singen.

Menschen haben auch schon über die Zwiebel gesungen, aber das kam oft nicht gut heraus. «Ich habe eine Zwiebel auf dem Kopf, ich bin ein Döner» von Tim Toupet ist ein Beispiel. Und das ist eines der wenigen Probleme, die die Zwiebel hat: Sie hat keine Zwiebelgottheit. Denn wenn die Zwiebel eine Zwiebelgottheit hätte, würde sie jeden Menschen, der zu diesem Lied tanzt, auf einen Dönerspiess spiessen und im Fladenbrot verkaufen. Mit viel Rotkraut. Auch das Rotkraut ist ein wunderbares Gewächs. Es sieht super aus und schmeckt trotzdem gut. Wie die Zwiebel ist es, was die Witterung anbelangt, sehr genügsam und im Geschmack rezent bis zum Abwinken. Was so ein Rotkraut und so eine Zwiebel einander wohl alles zu erzählen hätten. Traurig sind sie ob all diesem mediterranen Gemüse, welches man ihnen hierzulande vorzieht. Gemüse ohne Konsistenz, Gemüse, das zu achtzig Prozent aus Wasser besteht und schlapp in den Regalen hiesiger Lebensmittelläden vor sich hin fault.
Welche Freude ist da zum Beispiel der Anblick eines wackeren Knollenselleries! Der daneben ganzjährig vor Kraft strotzt und geduldig auf den unteren Regalen auf uns wartet! Auch der Knollensellerie ist ein wunderbar bekömmliches Gemüse, am besten natürlich mit der Zwiebel genossen. Was der Zwiebel nebst einer Gottheit fehlt, ist eine gute Lobby, zum Beispiel in der Regierung. Die Zwiebel-LobbyistInnen hätten hinter den Säulen des Säulengangs des Bundeshauses, dort, wo die ZigarettenlobbyistInnen mit ihren Bauchladen voller Gratiszigaretten und -feuerzeugen warten, die PharmalobbyistInnen mit ihren gratis Modafinil, Ritalin, Temesta und Xanax und die WaffenlobbyistInnen mit ihren … Wir wollen es gar nicht wissen. Also eben dort sollten die Zwiebel-LobbyistInnen kleine Küchen betreiben, dank derer sie sofort tolle Zwiebelgerichte darbieten könnten: Zwiebelsuppe, Zwiebelkuchen, gefüllte Zwiebeln, Zwiebelringe oder Zwiebel-Pakora. Die Zwiebel-LobbyistInnen müssten gar nichts dazu sagen, die Zwiebeln würden sich selbst genügend bewerben. Da sich die Zwiebel selbst aber nicht gern in den Vordergrund drängt, gibt es leider nur wenige Speisen, die primär auf ihr basieren. Vielmehr verhilft sie allen anderen Speisen zur wirklichen Bekömmlichkeit. Ganz anders als arrogantes Gemüse wie etwa die Spargel, der Kürbis oder die dominante Tomate. Die Zwiebel ist ein schüchternes, zurückhaltendes Gemüt, welches deshalb ständig unterschätzt oder, ganz schlimm, vergessen geht: Die Zwiebel!! Die doch Dreh- und Angelpunkt jedes Gerichtes ist, wird viel zu oft vergessen.

Anäis Meier «Über Berge, Menschen und insbesondere Bergschnecken», Mikrotext, 2020, 96 Seiten, CHF 23.90, ISBN 978-3-948631-01-7

Anaïs Meier, 1984 in Bern geboren, studierte Film und Medien an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg und Literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel. Monatliche Kolumne «Aus dem Réduit» in der Fabrikzeitung, Zürich. 2013 Mitbegründerin von Büro für Problem und 2018 von RAUF. Im August 2020 erschien der Kurzgeschichtenband «Über Berge, Menschen und insbesondere Bergschnecken» bei mikrotext, im Herbst 2021 der Roman «Mit einem Fuss draussen» bei Voland & Quist.

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