Zoë Jenny «Die Rache der Julia Cane»

Es war ein wolkenloser Tag als Julia Cane an ihrem fünfunddreissigsten Geburtstag die Anwaltskanzlei Hemlyn & Partner in Richtung Regent Street verliess. Sie arbeitete als Assistentin in der Abteilung brand protection, die sich darauf spezialisierte, konkurrierende Modefirmen wegen Kopien und Fälschungen auf Höchstsummen zu verklagen. Sie erledigte ihre Arbeit effizient und zur vollen Zufriedenheit ihres Chefs, dessen Zustimmung ihr eine gewisse Befriedigung gab. Darüber hinaus hegte Julia keinerlei berufliche Ambitionen und erfüllte ihre Aufgaben mit einem Mindestmass an innerer Beteiligung, was man als eine gewisse Kälte und Gleichgültigkeit des Charakters hätte auslegen können – ein Eindruck, der aber durch ihre freundliche und zuvorkommende Art wett gemacht wurde. Ihre Mitmenschen und insbesondere ihre Arbeitskollegen empfanden Julia als ausgeglichen und angenehm.

Sie hatte die flachen Schuhe, die sie während der Arbeit getragen hatte, ausgetauscht gegen ein paar schwarze Louboutins, was nicht nur zu einer einer aufrechteren, eleganteren Gangart führte, sondern in ihr eine regelrechte Verwandlung auslöste. Die flachen Schuhe verstaute sie zusammen mit der Person, die sie tagsüber im Büro gespielt hatte, im Schrank und etwas anderes konnte sich in ihr regen, etwas, dass zu der schwarzen Seide und den roten Sohlen passte, die wie ein Signal aufleuchteten. Beim Austauschen der Schuhe hegte sie eine geradezu kindliche Freude, wie beim Betrachten dieser kleinen grauen Muscheln, die man ins Wasser legt und aus denen sich dann auf wundersame Weise Papierblumen entfalten.

In einem Schaufenster musterte sie beim Vorbeigehen ihr Spiegelbild. Sie sah jünger aus, kein Zweifel. Sie fand sogar, dass sie jetzt besser aussah als mit zwanzig, das hatte auch Mike bestätigt, als er einmal ein altes Foto von ihr sah. Was Mike jetzt wohl gerade machte? In Kalifornien war es jetzt früh morgens und am Lake Tahoe der Schnee noch unberührt. So stellte sie es sich jedenfalls vor, der Schnee glitzernd im hellen Morgenlicht. Eines Tages hatte er ihr aus heiterem Himmel mitgeteilt, dass man ihn für drei Monate als Skilehrer an den Lake Tahoe versetze. Alles bei Mike kam immer aus heiterem Himmel. Rätselhaft und unberechbar. Zuvor hatte er manchmal plötzlich nach Marrokko oder Tunesien reisen müssen. Sie konnte nachvollziehen, dass ein MI5 Agent in diese Länder ging, aber zum Lake Tahoe, als Skilehrer?
Das letzte Mal, als sie auf Skype gesprochen hatten, war sie überrascht gewesen, wie entspannt er aussah – braungebrannt und selbstbewusst. Seit er in Amerika war, sah er irgendwie amerikanisch aus.
Sie vermisste die Stunden in seinem Appartement in Vauxhall. Sein Appartement, das ihm vom MI5 zur Verfügung gestellt wurde, war komfortabel und unpersönlich wie ein Hotelzimmer. Im Schlafzimmer waren die Fenster stets geschlossen und die Jalousien runtergelassen. Dort verkrochen sie sich vor dem Lärm der Stadt. Mike blieb ein flüchtiges Teilchen im Gefüge ihres Alltags. Gerne hätte sie ihn öfter getroffen, sich sein Leben übergestreift wie man in ein Hemd schlüpft, das einem nicht gehört, aber dessen Geruch einen glücklich macht. Doch Mike blieb zurückhaltend.

„Es ist besser wir treffen uns nicht zu oft“, hatte er ihr einmal erklärt, als sie im Bett lagen, „wer mit mir privat viel zusammen ist, wird beschattet.“ Er machte eine Pause. „Nur kurzfristig natürlich. Du bist nicht von Interesse.“
„Was heißt beschattet?“, fragte Julia alarmiert.
„Wenn du nicht zu Hause bist, kommen sie in deine Wohnung und platzieren Wanzen.“
„Sie brechen in meine Wohnung ein?“
Im Halbdunkel setzte er sich auf und sah sie an, als ob er ihre Frage bedauere.
„Der MI5 muss nicht einbrechen. Wir haben die Schlüssel zu jedem Haus in diesem Land.“
Er lachte weil sie ihn ungläubig anschaute.
„Wir kommen wie Geister Julia, husch, husch …“, er schnippte mit dem Finger, sprang mit einem Satz vom Bett auf und ging ins Badezimmer. Sie hörte, wie er seine Zähne putzte.
Sie erinnerte sich, wie Mike ihr einmal erzählte, dass er bei der Arbeit auf dem Bildschirm zum Spaß seine Mutter beobachtete, wie sie in ihrem Garten die Wäsche aufhängte.

Als sie an diesem Abend nach Hause kam, durchsuchte Julia ihre Wohnung. Ihr Herz klopfte, als sie die Wände ihres Badezimmers abtastete. Sie holte eine Leiter und durchsuchte die Ecken an der Decke. Sie konnte nichts finden. Eine Woche später traf sie Mike in der Nähe von Thames House, wo er arbeitete. Sie war überrascht wie gross das Gebäude war, burgähnlich und abweisend. Da drinnen sitzen sie also und beobachten ihre eigenen Leute, schauen ihnen beim Sex zu, dachte sie. Haben die nichts Besseres zu tun? Alles ist zu erwarten.

Als Julia in die Regent Street einbog, konnte sie Ian schon von weitem sehen. Er kam mit schnellen Schritten auf sie zu. Er roch nach Anzug, Aftershave und U-Bahn. Er schimpfte über die Jubilee Line, die wieder mal Probleme hatte, fast wäre er zu spät gekommen. Er musterte sie von oben bis unten. „Well well, birthday girl“, sagte er zustimmend, schob sie ins nächste Taxi und fuhr mit ihr ins West End.

Ian hatte Karten für Chicago. Mitte, dritte Reihe, beste Plätze. Sie schaute auf die Bühne mit halbnackten Frauen hinter Gitterstäben, Gefangene, die irgendwie freikommen mussten. Julia dachte an Mike. Beim Song All that Jazz legte Ian seine Hand auf ihr Knie. Er meinte es gut; ein Musical zu ihrem Geburtstag. Sie streichelte seine Hand, nachlässig wie man ein gutmütiges Tier streichelt, das einem irgendwann zugelaufen ist; während die andere Hand in ihre Handtasche glitt, zu ihrem Mobiltelefon, in der Hoffnung, dass es vibrierte, eine Nachricht von Mike anzeigte. Es bewegte sich nicht.
Vor ihr auf der Bühne hüpften Frauen in Strapsen herum, lasziv und verführerisch, stellvertretend für all die Frauen, die sich jetzt an Mike heranmachten. Wahrscheinlich hatte er schon längst eine andere, überlegte sie, vielleicht kam er auch gar nicht mehr nach London zurück, sondern wurde gleich wieder woanders hingeschickt. Sie ahnte es schon seit geraumer Zeit: Es wäre besser, ihn zu vergessen.

Ian hatte gut gewählt. Das Christophers war eines ihrer Lieblingsrestaurants. Sie mochte die grossen Lampen, die wie Ufos im Raum schwebten. Die beste American Brasserie der Stadt. Er bestellte Steak. Aberdeen Angus, blutig. Sie Maryland Crab cake. Rückblickend wusste sie nicht mehr, wann das Ganze eskalierte – als der Kellner das warme Schokoladentörtchen an den Tisch brachte? Es hatte ziemlich lange gedauert, ganze zwanzig Minuten, weil frisch zubereitet und Ian sagte noch während er mit der Gabelspitze vorsichtig in das Törtchen stach
„schau das ist perfekt, innen ist die Schokolade noch flüssig“, als das Wort fiel, das den Ablauf des Abends jäh veränderte: Mike.
Er wusste von ihrer „Schwärmerei“, wie er es bezeichnete. Was sie mit Mike hatte, qualifizierte sich in seinen Augen noch nicht einmal als Affäre.
„Manchmal ist es als ob ich dir beim Erwachsenwerden zuschaue, Julia.“
Sie kannte diesen mahnenden Unterton.
„Der“ – er sagte nie seinen Namen – „hat nur seine Karriere im Kopf, deshalb ist er ja jetzt auch in Kalifornien und nicht hier bei dir, hm?“ Er schaute sie dabei an, als ob sie etwas schwer von Begriff sei. Er klopfte mit dem Finger auf den Tisch: „Aber ich bin hier, nicht wahr?“
Vielleicht war es der Ton und der insistierend klopfende Finger. Er hätte ihr auch eine Ohrfeige geben können.
Nach dem Motto: Du wirst schon noch vernünftig werden. Dummerchen.
Dabei hätte sie das noch diskutiert, wenn er gewollt hätte, aber dann schoss es aus ihm heraus, so, als wären die Wörter schon lange in ihm gewesen und vorbereitet und kamen nun endlich aus dem Dunkel seiner Gedanken mitten auf den Tisch. Wie akkurat, mit perfider Präzision abgefeuerte Geschosse.
Sie sei ja jetzt nicht mehr fünfundzwanzig sondern fünfundreissig und dass sei ja ein Alter in dem sich eine Frau langsam doch Gedanken machen müsse, über ihre Zukunft.
Beim Wort „Zukunft“ sprang Julia vom Tisch auf und steuerte ohne zu zögern dem Ausgang zu. Die Treppe hinunter sich mit einer Hand am Geländer festhaltend, an der Martinibar vorbei, die jetzt voll besetzt war mit Liebespaaren, eilte auf die Strasse hinaus, wo zu ihrer Erleichterung schon eine ganze Reihe von Taxis wartete. Dort auf dem Rücksitz, in der dunklen Geborgenheit eines Londoner Taxis, erinnerte sie sich, dass sie schon das letzte Wochenende gestritten hatten.

Dabei hatte Ian seine guten Seiten. Er war Analyst bei Lehman Brothers gewesen und zufälligerweise hatte er dort sechs Monate, bevor die Bank vor den Augen der Weltöffentlichkeit kollabierte, die Kündigung eingereicht und zu Morgan Stanley gewechselt. Intuitiv ein guter move, das musste man ihm lassen.
Es war ihm erspart geblieben, wie seine Kollegen den Tisch zu räumen und bemitleidenswert vor laufender Kamera seine Habseligkeiten im Pappkarton wegtragen zu müssen. Mitleid müsse man allerdings keines haben, „denn das sind Typen, die immer wissen, wie es weiter geht“, hatte Ian gesagt und damit zweifellos auch sich selber gemeint: Auf Ian war Verlass.

Ian hatte noch eine Kaffeetasse von Lehman Brothers, ein Gegenstand, der durch die Ereignisse plötzlich eine Bedeutung erhielt, ein Relikt wurde, und er ging damit im Wohnzimmer vor ihr auf und ab, um einen geeigneten Ort für sie zu finden. Sie hatte ihn ausgelacht: Wäre es ein Stück der Berliner Mauer – aber die Kaffeetasse einer bankrott gegangenen Investmentbank?
Doch Ian liess sich nicht beirren, murmelte etwas von „historisch“ und platzierte die Tasse schliesslich auf dem Bücherregal zwischen Ben Goldacre und seinen Pokerbüchern.

Julias Apartment war winzig, aber hatte die richtige Postleitzahl. Am äusseren Rande von Chelsea, an der Grenze zu Fulham, hatte sie das One-bedroom-Apartment gefunden und mit Hilfe ihrer Eltern kaufen können. Schliesslich hatte sie alles getan, was man von ihr verlangte. Das Studium hatte sie durchgestanden ohne genau zu wissen warum. Dafür hatte sie jetzt ein Apartment und einen guten Job.
Sie war erleichtert, als sie mit dem Lift in das oberste Stockwerk fuhr. Zweifellos würde die Immobilie im Wert steigen, eine gute Anlage für die Zukunft. Vom Küchenfenster aus konnte sie in der Ferne die Bürotürme von Canary Wharf sehen. Das Logo von Citigroup – der rote Regenschirm – schwebte leuchtend in der Nacht.
Dort wo auch Ian seine Tage verbrachte, mitten im Financial District, im ewigen Licht von London.
Irgendwann, in nicht allzu ferner Zukunft, wenn Ian aufstieg bei der Bank und zu jemandem wurde, an dessen Seite sie stolz sein konnte, würde auch er die Abende und Nächte dort verbringen. Dann, davon war Julia überzeugt, würde ein grosses Netz sich über ihr ausbreiten, eine Sicherheit, die sie einlullen und friedlich machen würde.

Julia hatte ihre Schuhe ausgezogen. Die Louboutins lagen auf dem Boden, hingeschleudert, sie wirkten verwegen und gefährlich, etwas, was sie nie sein würde. Sie holte die Zigaretten, die sie in einer Lade versteckt hielt. Julia rauchte sehr selten und dann nur heimlich, allein. Sie nahm einen tiefen Zug und ein leichter Schwindel erfasste sie.
Sie rauchte aus dem Fenster in die Nacht und einen Moment lang wünschte sie, sie könnte etwas ändern, ihre Stelle kündigen, in ein Flugzeug nach Kalifornien steigen, Mike in einem hysterischen Anfall ihre Liebe gestehen und alles verlieren. Etwas Drastisches tun, ein anderer Mensch sein, jemand der keine Angst hatte.
Die Zigarette schmeckte nicht, sie drückte sie aus nach wenigen Zügen. Sie lag im Aschenbecher wie ein gebrochenes Bein.

Sie ignorierte das Klingeln des Telefons. Einen Moment lang gab sie sich dem Machtgefühl hin, es hatte eine geradezu erotisierende Wirkung und sie hörte dem Klingeln zu wie einer Melodie, sehnsüchtig fast. Er rief jetzt abwechselnd auf dem Haustelefon und ihrem Mobiltelefon an, mit verzweifelter Hartnäckigkeit, dachte sie und lächelte. Ian lag ihr zu Füssen. Dann hörte es abrupt auf und sie wusste, es war doch nur die Stille kurz bevor er unten vor der Tür stand und Sturm läutete. Sie würde ihm öffnen, ohne zu zögern. Im Schlafzimmer zog sie die Vorhänge zu und streifte ihre Kleider ab.
Sie würde ihn im Dunkeln ins Schlafzimmer führen und sie würden Sex haben, befreiend, unkompliziert und ohne Worte. Es würde heilsam auf sie wirken, und jedes Gespräch und jeden Streit auslöschen und erübrigen.
Dabei würde sie an Mike denken, jede Sekunde in der er in sie eindrang, mit fest verschlossenen Augen. Die Versöhnung würde gleichzeitig die Rache sein. So wie es zweifellos auch in Zukunft immer sein würde, in den gemeinsamen Ehejahren, die vor ihnen lagen. Dabei würde sie kein schlechtes Gewissen hegen, vielleicht einen Hauch von Mitleid, mit dem sie dann einschlief, während ihr Kopf auf seiner Brust ruhte, die Hand in der Nähe seines Herzens.

Zoë Jenny wurde 1974 in Basel geboren. Ihr erster Roman «Das Blütenstaubzimmer» (FVA 1997) wurde in 27 Sprachen übersetzt und zum weltweiten Bestseller. In der Frankfurter Verlagsanstalt sind ihre Romane «Der Ruf des Muschelhorns» (2000) und «Das Portrait» (2007), sowie ihre Erzählungen «Spätestens morgen» (FVA 2013) erschienen. Zoë Jenny lebt heute in Breitenfurt bei Wien.