Heidi Engel «Goldene Herzen» – «Tschuldigung» 10

Seit einer Woche bereitet Josephine das Weihnachtsfest vor. Alles muss seine Richtigkeit haben. Paul, ihr Mann, legt großen Wert darauf.
Heute an Heiligabend wird mit ihrem Mann Paul und den beiden Kindern Maria und Thomas gefeiert. Am ersten Weihnachtstag mit ihren Eltern und Geschwistern und am zweiten Weihnachtstag mit Pauls großer Familie.
Im ganzen Haus duftet es nach Zimt, Orangen und frisch gebackenem Konfekt. Überall sind Nippes aufgestellt. Selbstgebastelte Sterne hängen von der Decke und an den Fenstern sind Klebebilder angebracht. Ab Mitte November bis Ende Dezember läuft beständig Weihnachtsmusik, dass einem die Ohren abfallen.

Nach dem Mittag geht Paul mit den Kindern auf dem Markt, um einen Tannenbaum auszusuchen. Das hat eine lange Tradition. Schon Paul ging mit seinem Vater auf Tannenbaumschau. Dieser wiederum mit seinem Vater. Das reicht weit zurück und Paul ist stolz darauf.
Josephine holt derweil den Schmuck vom Dachboden. Sie entscheidet sich für die goldenen Kugeln. Die Kugeln in Silber und Bordeaux bleiben wohl verstaut in ihren Kisten.
Die von Großvater gezimmerte Holzkrippe samt Holzfiguren und den Baumschmuck stellt Josephine im Wohnzimmer auf das Sofa.
Sie steckt gerade die letzte rote Kerze in den Kerzenhalter, als die Tür auffliegt und Maria hereinstürmt. Sie bringt Kälte und die ersten Schneeflocken mit. Alle befürchteten, dass es dieses Jahr erneut grüne Weihnachten geben würde.
»Mama! Wir haben einen riesen Baum ausgesucht. Du wirst staunen.« Ihre Wangen und die Nase sind rosig ab der Kälte.
Paul und Thomas bugsieren das Ungetüm ins Wohnzimmer.
»Eine Blautanne hatten wir noch nie. Das habt ihr toll gemacht.« Josephine drückt beide Kinder an sich und gibt Paul einen Kuss.
»Möchtet ihr eine heiße Schokolade, bevor ihr die Tanne schmückt?«
»Ou ja!« Die Kinder flitzen in die Küche und eine lachende Josephine folgt ihnen. Paul bleibt zurück und befreit die Tanne aus dem Netz.
Nach der Stärkung kehren sie lachend ins Wohnzimmer zurück. Alle bleiben sie am Türrahmen stehen und bestaunen die Tanne, deren Eleganz erst jetzt zum Tragen kommt. Paul kniet unter den Zweigen und justiert den Stamm im extra dafür vorgesehenen Ständer.
»Steht sie gerade?«, fragt er in die Runde.
»Perfekt!«, echot es im Chor.
Maria inspiziert die Kiste und rümpft umgehend die Nase. »Ich will nicht die goldenen Kugeln!« Sie verschränkt die Arme und stampft mit dem Fuß auf. »Ich will die Bordeauxfarbigen.«
»Entschuldige Maria, aber ich dachte, wir wechseln jedes Jahr die Farbe. Das hatten wir gestern besprochen. Mit der Zeit wird es langweilig, wenn wir immer dieselben nehmen.«
»Mir egal. Ich will Bordeaux.«
Josephine möchte über die Weihnachtszeit kein nörgelndes Kind. Zumal ihr Ältester bis jetzt noch keine Flausen im Kopf hat. Daher holt sie die gewünschten Kugeln.
Wenige Minuten später kehrt sie zurück.
»Die Farbe der Kerzen passt nicht zu den Kugeln.« Die fünfjährige Tochter stemmt die Hände in die Hüfte und schiebt die Unterlippe vor.
»Ich habe keine anderen. Tut mir leid. Wir müssen mit diesen vorlieb nehmen, ob du willst oder nicht.« Sie wirft hilfesuchend einen Blick zu ihrem Mann, doch der verlässt im selben Moment den Raum. Toll!
»Ich will Glitzer.«
»Du kannst sie mit deinen Zauberstiften anmalen.«
»Juhuu!« Hüpfend springt die Kleine davon, um die Stifte zu holen.
Glück gehabt, denkt sich Josephine.
Thomas hängt die Kugeln auf, welche Maria mittlerweile vergessen hat. Zu beschäftigt ist sie mit dem Bemalen der Kerzen. Zufriedene Minuten, bei denen das wohlige Weihnachtsgefühl in Josephine aufflammt. Leise verlässt sie das Zimmer, um sich einen Tee zu gönnen.
»Der Josef gehört nicht dahin. Da kommen die Könige. Mamaaaaa! Thomas macht alles falsch. Mamaaa!«
»Nein, das ist korrekt.«
»Was ist den nicht okay?« Josephine kniet sich zu den beiden Kindern hin. Die vorherige Idylle dauerte gerade mal eine Tasse Tee aufbrühen.
»Kuck doch.« Marias Patschhändchen zeigen auf den Josef.
»Ja, der steht nicht an den für ihn vorgesehenen Platz.« Sie blickt ihren Sohn an. Sein spitzbübisches Grinsen verrät ihn sofort. »Maria, du darfst die Figuren umordnen. Danach machen wir uns frisch und ziehen die neuen Kleider an.«

Um fünf Uhr stehen alle chic angezogen vor dem Weihnachtsbaum. Die Geschenke, welche mit Schleifchen und buntem Papier um die Wette glitzern, sind geschmackvoll unter dem Baum verteilt.
»Bevor wir die Geschenke öffnen, möchte ich, dass wir ein Lied singen. Oder trägst du, Maria, zuerst ein Stück mit der Blockflöte vor?«
»Ich will nicht!«
»Na gut, dann singen wir.« Josephine räuspert sich und stimmt ›stille Nacht, Heilige Nacht‹ an.
»Halt!«, ruft Thomas.
»Ich will mit meiner Gitarre ein Lied vortragen.«
»Gerne.«
»Dann spiele ich Blockflöte.«
Thomas stimmt die ersten Noten an und Maria fängt kurz darauf an. Natürlich nicht dasselbe Lied. Das wäre zu schön gewesen.
»Kinder, Kinder. Bitte eines nach dem anderen.«
»Ich zuerst!«
»Nein, ich. Mami hat mich zuerst gefragt.«
»Aber du wolltest nicht und nun bin ich dran.«
»Neeeeiiiiinn!«
Thomas zieht an Marias Haaren und sie fängt an zu weinen.
»Könnt ihr nicht an einem einzigen Abend ohne Streitereien auskommen?«, fragt Paul.
»Ich habe gar nichts gemacht«, meint Thomas. Der zwei Jahre älter als seine Schwester ist.
»Warum weint dann Maria?« Paul blickt von einem Kind zum anderen.
Er zuckt mit den Schultern.
»Was riecht hier verbrannt?« Ihr Mann streckt seine Nase in die Höhe und schnuppert. Umgehend ist der Streit vergessen.
»Oh nein!« Josephine eilt in die Küche. Ein bissiger Rauch empfängt sie. Sie hält sich den Ärmel vor Mund und Nase. Derweil öffnet sie mit der freien Hand den Backofen und zieht den Braten – wenn man es noch so nennen darf – heraus.
»Mist!« Mit verschränkten Armen steht sie vor dem Kohlenstück.
»Und was essen wir nun?« Paul ist zu ihr getreten.
»Entschuldige. Das ist mir noch nie geschehen.« Josephine fährt sich durch die Haare. »Wir müssen uns wohl mit den Beilagen begnügen.« Sie versucht, zu lächeln, was eher einer Grimasse gleichkommt.
»Aber der Braten hat Tradition.«
»Meinst du, das weiß ich nicht?«, gibt sie schroff zurück.
»Du brauchst mich nicht anzuschnauzen.«
»Entschuldige bitte. Ich …«
»Mamaaaaaa! Der Baum brennt.«
Wie von Taranteln gestochen, rennen sie ins Wohnzimmer. Während sie das Sofa passieren, greift Josephine reflexartig zur Decke und wirft sie über den Baum. Dieser verliert sein Gleichgewicht und fällt zu Boden. Abgebrochene Kerzenstücke und Kugelteile schauen unter der Decke hervor.
»Meine schönen Kerzen sind kaputt«, schreit Maria. »Du hast die Kerzen und die Kugeln kaputt gemacht.« Ihre Augen füllen sich erneut mit Tränen. Unglaublich, was das Kind an Augenpipi produzieren kann.
»Entschuldige, aber sonst hätte das Wohnzimmer Feuer gefangen. Hättest du das gewollt?«
»Und was ist mit den Geschenken?«, will Thomas wissen.
»Paul, schau bitte nach.« Josephine ist zu aufgewühlt.
Die Worte lösen ihn aus seiner Starre. Er hebt die Decke an und holt die Pakete hervor.
»Sind alle ganz. Zum Glück.«
»Gut.« Josephines Herzschlag beruhigt sich. Immer wird an ihr herumgenörgelt, obwohl sie den gesamten Haushalt zusammenhält. Sie fühlt sich leer. Würde sich am liebsten ins Bett verkriechen. Aber sie muss stark bleiben. Stark für zwei Kinder und ein großes.
»Ich habe Hunger. Wann gibt es zu essen?«, will Thomas wissen.
»Ich habe auch Hunger«, jammert Maria.
»Was gibt es denn nun? Der Braten ist verkohlt. Nur Beilagen ist langweilig«, zetert Paul.
»Pizza?«
»An Heiligabend?« Thomas sieht sie mit großen Augen an.
»Warum nicht?«
»Was ist mit der Tradition?«, will ihr Mann wissen.
»Die holen wir Morgen und Übermorgen nach.«

Die Tanne steht wieder an ihrem Platz. Die versengte Seite nach hinten gekehrt und diesmal ohne Kerzen. Davor ist eine Decke ausgebreitet. Darauf steht der Salontisch mit vier Fußschemeln.
Josephine legt gerade die Teller und das Besteck auf den Tisch, als es klingelt. Die Kinder eilen zur Tür. Pizza an Heiligabend, wann gab es das denn?
»Würdest du bitte die Rechnung begleichen?«
»Was?«
»Die Rechnung.«
»Natürlich.« Paul erhebt sich und geht zur Tür.
Die Kinder tragen stolz die Kartonschachteln ins Wohnzimmer.
»Riech mal Mama.«
»Lecker.«

Die Pizzen sind gegessen. Nun warten die Geschenke, die während des Essens von neugierigen Kinderaugen taxiert wurden.
»Ich zuerst!«
»Nein, ich zuerst.«
»Kinder! Zuerst die Mama. So wie wir es besprochen haben.«
Perplex sieht Josephine zu ihrem Mann. Noch nie durfte sie als Erste ein Geschenk auspacken. Selbst an ihrem Geburtstag haben die Kinder für sie die Präsente ausgepackt.
Thomas überreicht ihr eine kleine Schatulle. »Mama, ich möchte mich bei dir bedanken und entschuldige mich, dass ich nicht immer lieb zu dir bin.«
Josephines Augen glänzen. Sie öffnet die Schatulle und entnimmt einen goldenen Anhänger in der Form eines T.
»Vielen lieben Dank mein Schatz. Lass dich drücken.«
»Nun ich!« Maria legt ihr sorgfältig eine selbstgebastelte Schachtel aus Papier in die Hand. »Mami. Danke, dass du mir das Essen kochst und die Wäsche machst. Und mich badest und mir vorliest.«
Josephine bekundet Mühe, die Tränen zurückzubehalten.
»Und ich versuche, nicht mehr böse zu werden. Entschuldige.«
»Mein Schatz.« Sie drückt den kleinen Wonneproben an sich.
»Du hast mein Geschenk noch nicht geöffnet!«
»Sofort.«
Zum Vorschein kommt erneut ein goldener Anhänger. Aber diesmal als M.
Die Tränen bahnen sich ihren Weg. Glücklich schließt sie die Kinder in die Arme.
»Mein Liebling.« Paul kniet vor sie hin. Die Kinder zwischen ihnen. »Ich entschuldige mich bei dir, dass ich dich zu wenig unterstütze und du den Haushalt alleine meistern musst. Ich weiß das sehr zu schätzen. Auch wenn ich es nicht immer zeige. Ich hoffe, du weißt das ganz tief in dir drinnen.« Er räuspert sich. »Kinder, darf ich kurz die Mama umarmen? Ihr dürft nachher wieder.«
Murrend schälen sie sich aus Josephines Armen.
»Mein Liebling. Als kleine Aufmerksamkeit möchte ich dir diese Kette umlegen.« Er öffnet eine größere Schatulle. Zum Vorschein kommt eine goldene Kette mit zwei Anhängern, J und P, sowie fünf kleinen Herzen.
»Würdest du mir bitte die beiden Geschenke der Kinder überreichen?«
Paul fädelt die Anfangsbuchstaben und die Herzen geschickt auf. Am Ende ist ein Herz, ein Buchstabe, ein Herz, ein Buchstabe und so weiter aufgereiht. Paul legt Josephine die Kette an, zieht sie in eine feste Umarmung und küsst sie zärtlich.
»Danke«, haucht sie, immer noch um Fassung ringend ab der Überraschung.
»Ich liebe dich mein Liebling.«
»Ich dich auch.«

Heidi Engel, 1984 geboren, ist verheiratet und hat ein Kind. Aktuell arbeitet sie als Leiterin Netze Gas und Wasser. Bisher hat Heidi Engel kein Buch veröffentlicht. Ihr erster Roman ist momentan bei BoD zur Bearbeitung. Die Veröffentlichung erfolgt noch im 2023.

(Alle Texte zum Thema «Tschuligung» sind Einsendungen nach einem Aufruf auf dieser Webseite. literaturblatt.ch begründet eine Nichtberücksichtigung der Texte nicht.)

Illustration © leale.ch