Helwig Brunner «Flimmern», Anfang eines Romans


 

 

0 die Weite vor mir

»Würden Sie mich bitte in Ruhe lassen. Das Fenster, bleiben Sie vom Fenster weg, ich will die Weite vor mir haben, die Wüste und die Windräder. Nach dem Rechten wollen Sie sehen? Hören Sie, es ist mir egal, wie Ihre Direktiven lauten, ich werde an der Erfüllung der meinen gemessen. Man muss, um die Zukunft freizulegen, Tonnen von Schutt beiseiteräumen, den die zerbröselnde Geschichte hinterlassen hat. Man muss tausend Sätze schreiben, um sich dem einen zu nähern, der ungeschrieben bleibt. Man muss Beharrlichkeit an den Tag legen, Durchhaltevermögen wider jede Vernunft. Man muss, und das ist vielleicht das Schwierigste, Sätze ertragen, die mit man muss beginnen; tatsächlich, wissen Sie, trägt unsere Zeit einen kategorischen Imperativ in sich, der längst überwunden schien. Ich schreibe ja nicht etwa über mein Leben – wie langweilig wäre das! –, sondern um mein Leben, ganz so, wie draußen in der Wüste ein Flüchtling um sein Leben läuft, auf den sie die Jagddrohne loslassen. Der sich, wie im Grunde jeder und jede von uns, verloren weiß im toten Nichts einer toten Landschaft und dennoch rennt, solange er noch kann. Er rennt, ich schreibe. Was ich schreibe, ist bloß ein Beispiel, doch dieses Beispiel muss treffend sein, zutreffend über sich selbst hinaus. So lautet die Vorgabe! Aber suchen wir nicht überall das Unbedingte und finden immer nur Dinge? Kennen Sie Novalis? Aber was rede ich. Sie verstehen mich ja doch nicht, Sie hören mir nicht einmal zu … Nun gehen Sie schon!«

1 Symptome des Fiebers

Vor meinem Fenster liegt Mitteleuropa, die gehäutete Echse. Am Horizont ragt der Alpenbogen kahl und grau aus der Ebene, entlang des Grates bilden zweihundert Windräder den Rückenkamm des Reptils. Das Grün, von dem Aufzeichnungen und Bilddokumente früherer Jahrhunderte zeugen, haben Hitze, Trockenheit und Einstrahlung längst von den Hängen geschält. Die Wissenschaft hat penibel beschrieben, wie zuerst die feuchtkühlen Buchenwälder, dann die sonnendurchfluteten Eichen- und Föhrenbestände und zuletzt die zähen und hartlaubigen Gebüsche, die dem Wald nachfolgten, verdorrten und durch immer niedrigere, immer kargere, immer widerstandsfähigere Formationen des Bewuchses ersetzt wurden. Bäume und Sträucher sind längst aus dem Landschaftsbild verschwunden, aus den Gedanken und beinahe schon aus dem Wortschatz; ihre letzten natürlichen Vorkommen, hört man, sind wie eine aussterbende Eskimosprache auf winzige Reliktgebiete in den Polarregionen beschränkt. Bei uns, in der einst gemäßigten Zone, haben sich sandig-steinige Wüsten breitgemacht. Nur in den günstigsten Schattenlagen überdauern noch wenige Arten kaum knöchelhoher, unansehnlicher Polsterpflanzen, die sich mit silbrigem Haarflaum vor der Strahlung schützen, einzelne kleinwüchsige, aus den einst eng begrenzten Trockenzonen der Erde stammende Sukkulente und jene grauen, gelben oder rötlichen Krustenflechten, die dem Gestein wie eine vernarbte Haut anliegen und selbst unter experimentellen Laborbedingungen kaum umzubringen sind – alles in allem ein armseliges Häuflein Überlebender ohne jede Ähnlichkeit mit den reichhaltigen Pflanzengesellschaften, die noch vor wenigen Jahrhunderten unsere Breiten bedeckten.

Die Veränderung des Klimas und der Landschaft ist zuletzt in einer Geschwindigkeit vonstattengegangen, mit der die meisten Organismen nicht Schritt halten können. Das Leben wird vor unseren Augen in einer Weise vom Planeten gefegt, vor der die großen Sechs, die bisherigen Aussterbewellen der Erdgeschichte, zu harmlosen Begebenheiten verblassen. Man kann stundenlang auf die Ebene hinausstarren, ohne ein einziges Tier zu sehen. Einmal nur, kurz vor Carinas Tod, flog ein Wüstenrabe vorbei, ankämpfend gegen den böigen Wind; eine fast schon unglaubliche Ausnahmeerscheinung, wie mir Luis versichert hat, der es wissen muss, ist er doch täglich dort draußen unterwegs. Der Wind, der immerzu in Sturmstärke weht, trägt den entblößten Boden in tanzenden Staubwolken ab, bis das Grundgestein zutage tritt. Man kann nicht erkennen, wo das Hitzeflimmern endet und die Schwaden des Feinmaterials beginnen, die überall in der Luft treiben; beides verbindet sich vor dem Auge zu einem Schleier, hinter dem der ferne Alpenkamm zeitweise ganz verschwindet. Die Echse macht sich dem Auge rar. Die Windräder drehen sich dort oben tagein, tagaus unter Volllast.

Auch auf der Sonne, so meldet es der meteorologische Datenspiegel, stürmt es heute vermehrt, begleitet von Zusammenballungen magnetischer Feldlinien strömen Sonnenwinde in den Weltraum und setzen dem Erdmagnetfeld zu. Am Rand der Sonne hat sich, von einer Solarsonde genauestens dokumentiert, zuletzt eine Säule aus heißem Plasma gebildet, die mehr als sieben Erddurchmesser weit ins All ragt. Während Hitze und Strahlung wie unsichtbare Geschoße gegen mein vollisoliertes Fenster prallen, sitze ich hier bei erträglicher Raumtemperatur in meiner Wohnzelle und habe, egal wie, endlich zu schreiben begonnen. Ein wenig stickig ist es allerdings, seit einiger Zeit schon riecht es nach verschmortem Kunststoff; Gerüchte gehen um, die Innenklimatisierung des Humanareals gerate allmählich an ihre Leistungsgrenzen. Immer wieder läuft Personal ein und aus, möglicherweise stehen Arbeiten an der Klimaanlage bevor, oder die Aktivitäten werden nur vorgeschützt und man überwacht mich, versucht mich gezielt zu stören. Vielleicht soll meine Entschlossenheit auf die Probe gestellt werden. Man steht hier ständig unter Leistungskontrolle oder soll es zumindest glauben oder glaubt es von sich aus. Es ist eine paranoide Welt; man zweifelt an seinem Verstand und weiß nicht, wer einen ans Messer liefert, wer wem worüber Bericht erstattet, was inhaltliche Anforderung ist, was Kontrollinstrument und was Ausgeburt der eigenen Neurosen. Man wird irre oder ist es schon – nichts, so heißt es, ist schwerer zu erkennen als der eigene Wahnsinn. Doch gebe ich mich unbeirrt, bleibe, abgesehen von gelegentlichen Wutausbrüchen, auf das Wesentliche konzentriert und lasse meine Aufgabe in ersten Beschreibungen Gestalt annehmen, um sie dann vielleicht zu lösen oder aber, was wahrscheinlicher ist, gerade so sang- und klanglos an ihr zu scheitern, wie wir alle, die wir noch hier sind, an der Überlebensfrage zu scheitern im Begriff sind.

Ich gebe mir Zeit. Ohne einen klaren Gedanken zu fassen, schaue ich hinaus auf die leicht gewellte Ebene des Alpenvorlandes, hinter der die Echse schemenhaft aufragt. Von der einstigen Kulturlandschaft mit ihren Mais- und Getreidefeldern, Blühstreifen, Wäldchen und gehölzgesäumten Bachläufen ist nichts mehr zu sehen, seit die ausufernde Sonne dieses trockenheiße Klima mit sommerlichen Temperaturen von fünfzig bis fünfundfünfzig Grad befeuert. Der Zyklus der Jahreszeiten ist weitgehend zusammengebrochen, die Hitze lässt neuerdings auch im Winterhalbjahr nur noch wenig nach. In der staubigen Weite verfallen die unbewohnten Dörfer, niemand will sich an ihre Namen erinnern. Eines von ihnen kann ich mit freiem Auge, zwei mit dem Fernglas deutlich ausmachen, ein weiteres in der flirrenden Ferne erahnen. In alten Landkarten eingetragene Flurnamen wie Haslau, Grünanger oder Eichkögl haben, abgesehen von ihren Lagekoordinaten in einem abstrakt über die Erdoberfläche gespannten Gitternetz, jeden Wirklichkeitsbezug verloren. Während also draußen alles verglüht und versandet, vegetieren wir in der Enge des Humanareals dahin. Wir sind nur noch wenige, aber wir sind zu viele, um hier ein menschenwürdiges Lebens zu führen. Das ist, so witzelt man, der späte Sinn unseres in Jahrmillionen erworbenen aufrechten Gangs: dass wir wenig Platz brauchen und senkrecht eingeschlichtet werden können in enge Räume. Über Nacht braucht dann alles nur um neunzig Grad geschwenkt zu werden, damit jeder bequem zu liegen kommt.

Die Straßen, die das Humanareal durch doppelte Thermoschleusen verlassen, laufen sternförmig zu den Agrarhallen hinaus. Die riesigen halbtransparenten Gewächshäuser sprenkeln wie Flecken blassgrünen Scharlachs die Landschaft, Symptom des Fiebers, von dem der Planet befallen ist – dabei sind sie noch die vitalsten Orte, an denen es, wenn auch nur unter hohem technischen Aufwand, immerhin wächst und gedeiht. Aus der verstrahlten Landschaft weggesperrt, produzieren hier krumme, niedrigwüchsige Obstbäumchen und dichte Reihen von Gemüsepflanzen streng rationierte Genussmittel, die unsere synthetische, weitgehend geschmacks- und geruchlose Grundnahrung ergänzen. Die Farbe Grün ist, indem sie die spärlichen Reste des Lebens koloriert, zum Symbol der Vergangenheit, der Vergänglichkeit, aber auch des unbeugsamen Überdauerns, ja des Aufbegehrens geworden. Sogar kleine Singvögel, robuste Arten wie Feldsperlinge und Kohlmeisen, werden unter dem Folienhimmel der Agrarhallen durch Schutzprogramme am Leben erhalten, brüten in den dort ausgebrachten Nistkästen und dezimieren die winzigen Pflanzenschädlinge, die Schildläuse, Spinnmilben und Thripse, deren Vermehrung unter den feuchtwarmen Bedingungen, die in den Hallen herrschen, nie ganz auszuschließen, sondern nur einzudämmen ist; die Kunst, sagt Luis, bestehe darin, gerade genügend Pestizide einzusetzen, um eine Massenvermehrung der winzigen Tiere zu unterbinden, und gleichzeitig so wenig, dass die Vögel keinen Schaden nehmen. Ein Fehler und das labile System bricht zusammen – mehr als einmal schon, sagt Luis, habe er hunderte Vogelkadaver aus einer Halle räumen müssen, nachdem man eine aufkommende Schädlingskalamität mit allzu reichlichem Gifteinsatz bekämpft habe.

In den klimatisierten Agrarhallen, vor allem in neu angelegten Hallen nach der ersten Durchfeuchtung des Bodens, kommen mitunter Pflanzen auf, deren Samen schon lange in der Erde geruht haben; sie gelten hier freilich als Unkräuter und werden, je nach dem Ausmaß ihres Auftretens, entweder chemisch bekämpft oder in den Boden zurückgepflügt, aus dem sie gekommen sind. Zuvor aber machen die Botaniker ihre Arbeit, gehen langsam, gesenkten Hauptes über die Flächen und bücken sich hier und da, um die Nachzügler einstigen Lebens zu untersuchen und Proben zu entnehmen, die in unserer Zukunft, falls es eine solche gibt, noch von Nutzen sein könnten; denn Ackerwildkräuter, heißt es, sind in Wahrheit keine Unkräuter, sondern genetische Ressourcen, die keine abwertende Vorsilbe verdient haben. Grün ist die Farbe der Hoffnung und schon heute der Werkstoff der Botaniker, wenn sie durch Gentransfers aus den zählebigsten Wildformen immer genügsamere und gleichzeitig ertragreichere Kulturpflanzen entwickeln, die in den Agrarhallen unter geringstem Wasserverbrauch möglichst rasch zur Erntereife gelangen. Wasser, das liegt bei kaum noch vierzig Millimetern Jahresniederschlag auf der Hand, ist der Schlüsselfaktor der neuen Landwirtschaft, es muss aufwändig hergestellt und sparsam zugeteilt werden. Neben jeder Agrarhalle steht ein Solarfeld mit einem blauen Prozesskubus aus massivem Stahlbeton, in dem Wasserstoff unter Zuführung großer Energiemengen zu Wasser verbrannt wird. Energiemangel ist immerhin nicht unser Problem – die Sonne liefert sie uns im Übermaß. Gelegentlich höre ich aus der Ferne einen dumpfen Knall, wenn bei der Wartung einer Anlage die Regulation der Knallgasflamme vorübergehend entgleist.

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Helwig Brunner, geboren 1967 in Istanbul, lebt in Graz. Nach seinem Studium der Musik und Biologie arbeitet er in einem ökologischen Planungsbüro und ist zudem für die Literaturzeit- schrift Lichtungen sowie für eine Lyrikreihe editorisch tätig. Bisher liegen zwölf Gedichtbände sowie mehrere Prosatitel vor, ausserdem regelmäßige Beiträge in Anthologien, Zeitschriften und im Rundfunk.
Bei Droschl erschienen bisher sein mit Stefan Schmitzer geführter poetologischer Disput «gemacht | gedicht | gefunden» (2011) und das «Journal der Bilder und Einbildungen» (2017).

Rezension von Helwig Brunners «Gummibärchenkampagne» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Anett Keszthelyi-Brunner