Noreen Sheikh «Was wir uns nicht erzählen»

Ich werde dich eines Tages fragen, wer mein Vater war.
Vielleicht bei einem Abendessen zwischen zwei Bissen, oder vielleicht zwischen Tür und Angel. Du wirst dich im Stuhl zurücklehnen, das Essen sorgfältig kauen. Du wirst es so lange kauen, bis du eine Antwort gefunden hast. Eine für mich zugeschnittene Antwort, oder vielleicht sogar die ganze Wahrheit auf einmal. Happen für Happen.
Vielleicht wirst du mich fest an dich drücken und mit feuchten Augen den Spuren der Regentropfen folgen, die an die Fensterscheibe prasseln.
Der Regen wird dich erinnern. An Zeiten, in denen es häufig regnete und niemand auf der Strasse tanzte und sich darüber freute. Vielleicht wirst du mir, wie schon so oft, von den Jahreszeiten erzählen. So klar und prägnant wie sie einst waren. Jede für sich.

Sie werden wiederkommen, wirst du mir sagen.

Die Erde wird sich erholen, wirst du mir mit Nachdruck versichern. Jetzt, da viele von uns fort sind. Ganz bestimmt.

Du wirst deine Hände verwerfen, dir eine Strähne aus dem Gesicht streifen und dich entschuldigen. Entschuldigen, dass du abgeschweift bist. Ich werde mich fragen, ob du das tatsächlich bist, oder du einfach deine Gefühle vor mir verbergen wolltest. Vielleicht kam Sehnsucht über dich, wie schon so oft. Das Heimweh nach einer alten Heimat. Ein sicheres Zuhause, das schon längst keines mehr war.

Vielleicht hat der Regen mit meinem Vater zu tun.

Ich weiss, dass er ihn am Tag seiner Abreise das letzte Mal sah. Er konnte ihn nicht spüren, nicht riechen, vielleicht nicht einmal hören. Nur sehen. Und sich erinnern wie es war.
Vielleicht, werde ich mich fragen, vielleicht hielt er einen Moment inne, um sich diesen einen Augenblick einzuprägen. Ich werde mich fragen, ob er auch heute noch an diesen Moment zurückdenkt, wenn er die feinen Eiskristalle auf dem roten Staub sieht. Sieht, wie sie aus dünnen Wolken niederrieseln.

Lautlos und sanft.

Vielleicht wird ihm ein Gedanke kommen.

Lautlos und sanft.

Ich werde dich fragen, ob er von mir gewusst hatte. Ob er mich wortlos beiseitegeschoben und heimlich in die Sterne getragen hatte.
Du wirst lächeln, aber nur mit dem Mund, nicht mit den Augen, und meine Hand streicheln. Vielleicht wirst du auch deinen Blick senken und nervös an den Knöpfen deines Kleides herumspielen. Vielleicht wirst du schweigen, werden wir schweigen. Darüber, was ich schon weiss, oder auch nicht. Ob ich dir vom Brief erzählen soll, werde ich mich fragen. Abgegriffen und versteckt in deiner Schublade. Eine letzte Nachricht an dich, bevor mein Vater in die neue Welt hinaustrat.

Bevor der Regen eine Erinnerung wurde.

Bevor wir eine Erinnerung wurden.

Du wirst den Brief erkennen. Wirst vorsichtig eine Hand drauflegen, wie ein schützendes Schild. Du wirst mir seinen Inhalt erzählen. Wirst mir erzählen, was ich schon weiss und was nicht.
Von der Erde, wie sie vor langer Zeit war, und wie sie damals war, als es für meinen Vater das letzte Mal regnete.
Und wie sie nach der grossen Reise der Männer und Frauen war.

Wie sie nach meinem Vater war.

Vielleicht wirst du mir beichten, dass du hättest mitgehen können. Dass mein Vater hätte bleiben können. Dass eure Hoffnungen in unterschiedliche Richtungen liefen. Deine zur bekannten Welt, der Erde. Seine zu den Sternen, in die Weiten der Galaxie.

Ob du mich wortlos an ihm vorbeigeschoben hattest, werde ich dich fragen. Ob du mich heimlich in dir getragen hattest.

Wirst du es mir je sagen?

Ich lebe auf einem blauen Planeten, der einst noch blauer war. Den ich so nicht kenne und vielleicht so nie kennen werde.
So wie ich auch meinen Vater nie kennen werde, fern auf einem roten Planeten.

Wir müssen reden, du und ich. Eines Tages.

Noreen Sheikh, geboren 1989 in Rorschach SG, lebt mit ihrer Familie in einem 1000-Seelendorf im Kanton St. Gallen. Die begeisterte Amateur-Balletttänzerin widmet sich nebst dem Muttersein nun ganz dem Schreiben. Sie absolvierte an der Migros Klubschule St. Gallen den Kurs Drehbuch schreiben. Derzeit besucht sie den Lehrgang Literarisches Schreiben an der Schule für Angewandte Linguistik (SAL) in Zürich und arbeitet an ihrem ersten Roman. Ihre Geschichten handeln von alltäglichen Tragödien, von Höhen und Tiefen, die das menschliche Dasein ausmachen.

Beitragsbild © Noreen Sheikh