Elise Schmit «Die armen Seelen im Kontor»

Regina begann immer mit „Angie“. Der Flügel war ein wenig verstimmt und Regina mochte die Stones nicht; Mick Jagger war ihr von Anfang an unheimlich gewesen mit seinem kastenartigen Mund, den wilden Furchen um die Lippen und dem Schlenkern seiner Gliedmaßen im Scheinwerferlicht. Mit Grauen hatte sie einen Dokumentarfilm gesehen, in dem sich mehr als vierzig Jahre später die gleichen naiven Mädchen vor der Bühne die Haare rauften vor Sehnsucht nach diesem schlecht frisierten Mann. „Angie“ war eine von Reginas besten Transkriptionen. Ihre rechte Hand wurde auf den Tasten zu Micks Stimme, ein Tremolo für den langgezogenen Anlaut, das war der Trick beim Transkribieren, immer ein wenig mehr von einer Hand zu fordern als von einer Stimme. Ein paar Leute drehten sich um, lächelten in ihre Richtung oder beschwerten sich jedenfalls nicht. Der Flügel stand abseits der Restauranttische im Atrium neben einer breiten Steintreppe, die zum Haupteingang des Alten Kontors führte und über ein paar zusätzliche Stufen zu den beiden umlaufenden Galerien mit nach oben hin teurer und seltsamer werdenden Geschäften. Regina hatte dort oben einmal ein Leinenkleid für den Garten kaufen wollen, es hatte ihr gut gefallen, schlicht und blau und annähernd konturlos, mit aufgenähten Taschen für eine Bastrolle oder die Rosenschere, hatte sie gedacht, wie praktisch. Das praktische blaue Gartenkleid hatte dann ungefähr so viel gekostet wie die monatlichen Nebenkosten plus Telefonrechnung und Zeitungsabo, mal zwei. In dem Moment, als Regina das Preisschild umgedreht hatte, war ihr klargeworden, warum ihr keine der sehr jungen Verkäuferinnen angeboten hatte, ihr bei der Suche nach ihrer Größe behilflich zu sein. Sie war an dem Tag leider die letzte gewesen, die verstanden hatte, dass sie hier nicht hingehörte.

Alle Tische waren besetzt, an den Seiten bildeten sich Warteschlangen. Um diese Zeit war es laut im Alten Kontor, der Widerhall von den hohen Mauern vervielfachte Gespräche, Schritte, Tellerklirren. Es roch nach Essen. „Shopping mit Stil“, stand auf einem Banner, das von der Glasdecke ins Atrium herabhing. Regina kam aber gar nicht ins Alte Kontor, um einzukaufen. Regina kam nur, um etwa vierzig Minuten lang auf dem verstimmten Flügel Popsongs aus den späten sechziger und den siebziger Jahren zu spielen, etwa jeden zweiten Samstag im Monat, wenn sie mit dem Bus in die Stadt fuhr und besorgte, was der Supermarkt zu Hause und das Bisschen Internet, in dem sie sich zurechtfand, nicht hergaben, unter anderem passende Unterwäsche, Mandel-Honig-Kuchen mit Schlagsahne und signierte Bücher von Bestsellerautoren. Sie spielte die Lieder so, wie sie sie zurechtgelegt hatte, vor allem ihre Transkriptionen, zum Teil auch fremde, die sie durch elegantere Lösungen ausgebessert hatte. Sie wusste nicht, ob es erlaubt war, auf dem Flügel zu spielen. Da stand kein Schild. Niemand sprach sie an.
Regina saß gerade mit nach unten gedrückten Schultern, sie blickte nach vorn, aber nirgendwohin. Von „Angie“ modulierte sie zu Don McLean über oder, an Tagen, an denen ihr die Selbstsicherheit löchrig vorkam, zu „Here comes the sun“, dem Beatles-Song, der ihr am besten gefiel, auch wenn nicht Paul ihn geschrieben hatte und auch wenn es sich dabei im eigentlichen Sinn nicht um einen Beatles-Song handelte, sondern um einen Titel von George Harrison, der lediglich von den Beatles eingespielt worden war, für Abbey Road nämlich, das Album war ansonsten eine künstlerische Verirrung, fand Regina, als die Beatles einander kaum mehr aushielten und über Solokarrieren und Neubesetzungen nachdachten. Die Beatles mit Eric Clapton, was hätte das werden sollen, hätte Regina in früheren Jahren gesagt, als sie noch einen Sinn darin sah, Meinungen zu vertreten, auch wenn es nicht unbedingt ihre eigenen waren.

Richtiges Lampenfieber hatte Regina nicht mehr. An Paul, George, John und Sechzigerjahre-Ringo dachte Regina wie an alte Freunde. Ihre Hände brachten den Klang hervor und der Klang breitete sich im Atrium aus, legte sich über die Banalität der Restaurant- und Einkaufsgeräusche, und sie fühlte, wie sich auch in ihr etwas ausbreitete und weit und stark und leicht wurde, ein Hochgefühl, etwas wie Freude oder Bestimmung. Früher, in den Konzertsälen, hatte sie nichts dergleichen empfunden, wenn sie die mühsam einstudierten Stücke von Skrjabin und Khatschaturjan gespielt hatte, und was den Lehrern sonst noch für Dissonanzen einfielen. Tschaikowski hätte sie gern gespielt, aber die Lehrer hielten das für schlechten Geschmack. Reginas Finger fanden die Tasten wie von alleine, sie konnte, wenn ihr der Sinn nicht nach Improvisation stand, ihre Gedanken abschweifen lassen und sich selbst beim Spielen zuhören. Burt Bacharach, was für ein Genie. Der Flügel klang soviel schöner als ihr altes Hausklavier. Zum Transkribieren war sie eher durch Zufall gekommen, jemand hatte es ihr als gute Möglichkeit empfohlen, ein wenig Geld zu verdienen, während sie an einer richtigen Karriere arbeitete. Das Musikstudium war teuer und die Aussichten auf ein Auskommen mit ernst zu nehmender Arbeit gering. Schnell hatte sich Regina einen Namen gemacht. Hervorragende Spielbarkeit, hieß es, eine „kongeniale Art der Übertragung“, sie habe das „richtige Ohr“. Bald hatte sie sich die Aufträge aussuchen können, musste sich nicht mehr mit Lynn Andersons „Rose Garden“ herumplagen oder dem unmöglichen „Delta Dawn“. Ob man eine reduzierte Melodie wie „The Chain“ überhaupt sinnvoll fürs Klavier anpassen könne? Der Verlagsredakteur hatte anfangs gezweifelt. Reginas Versuch hatte ihr viel Lob eingebracht, ein paar Einladungen zu den Partys von Leuten, die sich sonst nie mit ihr abgegeben hätten, sogar das Angebot eines Tonstudios, das Regina aber abgelehnt hatte, weil sie bei der Aussicht verzweifelte, mit diesen Leuten mithalten zu müssen, ihre Späße und Anspielungen zu verstehen, ihre Art sich zu kleiden.

Einmal hatte Regina Ringo Starr in einer Bar getroffen, als es die Beatles schon längst nicht mehr gab. Sie hatte zu hohe Schuhe angehabt und er war betrunken gewesen, sie hielten sich beide am Tresen fest. Dass es Ringo war, hatte sie erst erkannt, als er in schlechtem Deutsch in ihr Dekolletee hineinfragte, wer sie sei.
Regina, hatte Regina in englischer Aussprache gesagt, um ihre Gesprächsbereitschaft zu signalisieren.
Regina, Re-gin-a, Gina, ha. Regina, hatte Ringo gesagt. Lustiger Name.
Ringo, lustiger Name, hatte Regina zurückgesagt.
Haha, richtig, hatte Ringo geantwortet und sich mit ausgestrecktem Daumen und kleinem Finger die Hand ans Ohr gehalten wie einen Telefonhörer.
Ringo: Hallo?
Regina: Hallo.
Ringo: Wer ist dran?
Regina: Regina?
Ringo: Gina. Pretty nice girl. Welch Freude.
Regina: Ja. Ich freue mich auch.
Ringo: Eigentlich kein richtiger Name, Regina, Gina.
Regina: So heiße ich aber. Regina Hansen.
Ringo: Sehr erfreut, your majesty. Regina.
Regina: Sehr erfreut.
Ringo: Ringo Starr ist auch kein richtiger Name. Aber er klingt gut.
Regina: Ja.
Ringo: Regina. Gina. Dein Name macht mich durstig.
Regina: Gut, dass wir uns in einer Bar getroffen haben.
Ringo: Funny girl, Gina, so clever. Komm, ich geb dir einen aus. Zwei Gin Tonic or I got to get a belly full of wine, haha.

Regina hatte gelacht, weil es Ringo Starr war. Sie fand, dass er entsetzlich nach Zigaretten stank. Auch hatte er ihr ohne Bart und aufgelaufenes Gesicht besser gefallen. Er hörte nicht auf, ihren Namen zu sagen und Unsinn zu reden, trank sehr zügig und tatschte nach ihrem Hintern. Regina fand das alles sehr unangenehm, aber was sollte sie machen, es war Ringo. Die ersten beiden Gincocktails trank sie aus, den dritten ließ sie stehen, nachdem Ringo sich entschuldigt hatte, um auf die Toilette zu gehen, und nicht zu ihr zurückgekehrt war. Sie sah, wie ihn mehrere Frauen belagerten, die deutlich älter, unansehnlicher und entschlossener waren als sie. Regina hatte den Bierdeckel unter seinem Glas herausgezogen und eingesteckt. Sie war nach Hause gegangen und hatte geweint vor Enttäuschung über Ringos Gemeinheit, auch darüber, dass sie ihm nicht hatte sagen können, dass kaum jemand die Songs der Beatles so gut kannte wie sie. Das Best of-Songbook, das sie geschrieben hatte, war damals der europaweit meistverkaufte Verlagstitel gewesen. Wenige Jahre später hatte der Verlag Regina die Mitarbeit aufgekündigt. Ihre Transkriptionen seien zu anspruchsvoll, hieß es jetzt, die Akkorde für Mädchenhände zu schwer greifbar. Auch werde weniger Klavier gespielt. Eigene Transkriptionen lohnten sich nicht mehr, man kaufe sie lieber aus dem Ausland ein. Für eine Karriere als Konzertpianistin war es damals schon zu spät. Regina vermisste die großen Konzertsäle und das Bangen vor dem Publikum nicht, den Erwartungen ihrer Lehrer, den Kritikern. Nach der Kündigung beim Verlag spielte sie jeden Tag zu Hause auf ihrem Klavier, aber kein Skrjabin oder Khatschaturjan, sondern „Raindrops keep fallin’ on my head“ und immer wieder die Beatles. Als das Geld zu Ende ging, gab sie Inserate auf: „Erf. Klavierspielerin bietet Unterricht, alle Niveaustufen.“ Es kamen dann vor allem untere Niveaustufen und füllten Reginas Wohnzimmer mit schiefen Tonleitern. Sie beschwerte sich nicht. Den wenigen guten Schülern gab sie ihre Transkriptionen zu spielen, „Hey Jude“ und „Rocket Man“, nie aber „Here comes the sun“.

Das Beatles-Medley spielte Regina erst zum Schluss. Paul, John, George und Sechzigerjahre-Ringo sangen den Hintergrund zu den Tischgesprächen. Für ein paar Minuten war sie am Ursprung der Musik, wie ein fünfter Beatle. Jetzt war es für vieles zu spät. Für Kinder war es zu spät. Für einen Mann ohne Übergewicht, der im Bett nicht schnarchte und die Initiative für gemeinsame Ausflüge ergriff, war es zu spät. Um ihren Körper zu sportlichem Ansehen umzuformen, war es zu spät. Um sich eigene Stücke zu notieren, sie auswendig zu lernen und am Sonntag im Kulturhaus neben der Kirche zu Kaffee und Kuchen zu spielen, war es nicht zu spät, aber es war sinnlos. Regina setzte zu „Let it be“ an, das war ihr letzter Song. Sie dachte an die schöne Anekdote, wie Pauls verstorbene Mutter ihm im Traum erschienen war, um ihn mit diesen Worten zu trösten. Ein bisschen Trost, dachte Regina, ein bisschen Trost für euch, ihr armen Seelen im Alten Kontor. Niemand klatschte, als sie fertig war und der letzte Akkord unter dem Glashimmel verklang. Regina nahm ihre Einkaufstüten, ging die Steintreppe hinauf zum Ausgang und verschwand im Gedränge der Fußgängerzone.

Elise Schmit «Stürze aus unterschiedlichen Fallhöhen«, Hydre Éditions, 2019, 135 Seiten, CHF 23.90, ISBN 978-3-95602-187-9

Elise Schmit wurde 1982 in Luxemburg geboren und ist dort aufgewachsen. Sie hat Germanistik und Philosophie an der Universität Tübingen studiert. Nach zwei längeren Aufenthalten in Tübingen und einem kürzeren in Paris lebt und arbeitet sie seit 2012 wieder in Luxemburg. Mehrfach wurden ihre Texte beim Concours littéraire national in Luxemburg ausgezeichnet, unter anderem die Erzählung «Im Zug». «Stürze aus unterschiedlichen Fallhöhen» ist ihre erste eigenständige Buchveröffentlichung.

Beitragsbild © Boris Loder