Rede zu der Eröffnung der 40. Solothurner Literaturtage Judith Keller

Sehr geehrte Anwesende, die heute Abend hier zusammen gekommen sind zur Feier des vierzigjährigen Jubiläums der Solothurner Literaturtage. Ich wurde gefragt, wie sich das Schreiben, das Erzählen für mich, heute, im Jahr 2018 anfühle, was das Erzählen für mich bedeute. Darüber musste ich lange nachdenken und muss es noch weiterhin tun.
Ich bin der Meinung, dass wir, wie zu jeder anderen Zeit schon, auch im Jahr 2018 erzählt werden, und zwar nicht besonders gut. Doch nachdem ich das gesagt habe, bin ich schon nicht mehr sicher, ob es noch stimmt, was ich gesagt habe, es kommt mir bereits veraltet vor. Darum beginne ich noch einmal. Ich bin der Meinung, dass wir, und sicher geschah auch das schon lange zuvor, aber mir scheint, es ist mehr geworden, im Jahr 2018 weniger erzählt als errechnet werden, und auch das nicht besonders gut. Denn wir finden uns zwar als Resultat einer Rechnung wieder, aber wir sind darin nicht aufgegangen. Wir gehen nicht auf. Es ist darum eine Sprache vonnöten, und ich finde, eine literarische, um diese Rechnung, die nicht aufgeht und deren Resultat wir sind, ins Erzählen zu übersetzen.

Welche Rechnungen erzählen die Resultate? Stimmen die Rechnungen? Oder stimmen sie nicht, weil es darin an Stimmen fehlt?

Erst durch das Suchen nach den Bedingungen, die zu den Resultaten führten, kann in den Blick geraten, womit nicht gerechnet wurde. Und dies finde ich eine Aufgabe der Literatur: Erzählen, womit nicht gerechnet wurde. Erzählen, womit nicht gerechnet werden kann. Erzählen, was sich unter den Wörtern regt. Ich brauche meine ganze Fantasie dafür, mir vorzustellen, was das ist.

Aber was wäre das für ein Erzählen, das so etwas kann?

Was gibt es? ist die Frage dieses Erzählens, so glaube ich, und es ist sich nicht sicher, was es gibt. Aber es erzählt, dass es mehr gibt, als es erzählen kann. Es wäre ein Erzählen, das zuhört und sicher ist, dass es mehr gibt, als es hört. Ich glaube, dass Schreiben eine Form eines solchen Zuhörens ist.

Zum Beispiel höre ich die Schwäne in der Schwanenbucht in der Nähe vom Bellevue in Zürich. Ich weiss nichts von ihnen, aber ich schaue ihnen oft zu.

In diesem Moment kommen sie zur Bucht. Wer ist hier „sie“? Ich nenne sie Peli und Vera, es sind zwei in diesem Moment erschöpfte Frauen und sie haben an diesem Tag schon viel erlebt. Sie kommen zur Bucht, in der die süchtigen Schwäne unruhig die Nacht verbracht haben auf dem Kies oder auf den flachen und erhobenen Steinen nah am See. Unzählbare Schwanschaften drängen sich aneinander. Federn und Kot sind überall verstreut, verrenkte Hälse liegen auf Federkörpern, schwarze Schwanenfüsse suchen Halt. Ein gedämpftes Schnattern rollt durch die Menge, an einigen Stellen ist es dichter, an anderen ganz ruhig, doch dort, wo es ruhig ist, bewegen sich die Schnäbel ohne Ton. Blauweiss leuchten die Federn aus der grauen Dämmerung heraus. Irgendwo scheint es sie immer zu zwicken, ein plötzliches Zucken geht durch die Gefieder, sie graben mit den Schnäbeln nach und fischen etwas aus sich heraus, das niemand sieht. Sie haben Konflikte, innerliche Knöpfe, vielleicht haben sie einen Mangel, sagt Peli oder sagt Vera und sie setzen sich auf ein paar Ufersteine und schauen den Schwänen zu. Sie haben heute viel erlebt und der Text ist noch nicht zu Ende. Wir sind immer noch da, sagt Vera dann. Ich kann mir nicht vorstellen, was jetzt noch kommen soll, sagt Peli. Man kann sich immer nur wenig vorstellen, sagt Vera. Aber warte nur, im Nachhinein ergibt alles Sinn.

Warte nur, im Nachhinein ergibt alles Sinn, sagte mir kürzlich ein Freund, als etwas nicht eintraf, wie ich es wollte. Das ist die Hoffnung des Erzählens, dass am Schluss alles in einem Sinn mündet, und dennoch muss es ohne diese Hoffnung auskommen, dieser Hoffnung gegenüber misstrauisch sein, denn erzählen ist Sinn stiften, wo es keinen gibt. Die Schwäne helfen mir, wenn ich sie lange genug anschaue, wieder nichts mehr über sie zu wissen, die Hoffnung auf Sinn gleichzeitig aufzugeben und doch zu hegen. Sie helfen mir auch, nicht zu viel zu erfinden. Denn ich glaube, ich muss mich an das halten, was da ist. Denn auch wenn ich erfinde, schützt es mich nicht davor, die Welt so zu erfinden, wie sie schon ist. Und trotzdem bin ich sicher, dass die Welt neu erfunden werden muss – und zwar mit dem, was ist.

Judith Keller wurde 1985 in Lachen am Zürichsee geboren und lebt heute in Zürich. Sie hat Literarisches Schreiben in Leipzig und Biel sowie Deutsch als Fremdsprache in Berlin und Bogotá studiert. Nach Veröffentlichungen in zahlreichen Zeitschriften und Anthologien erschien 2015 ihre Erzählung „Wo ist das letzte Haus?“ bei Matthes & Seitz als E-Book und wurde mit dem „New German Fiction“ Preis ausgezeichnet. 2018 erschien bei Der gesunde Menschenversand «Die Fragwürdigen».