Michèle Minelli & Peter Höner „Aufs Land gezogen“

Dialoge

1 Aufs Land gezogen

Grauenhaft, dieses Wetter. Hochnebel, Regen, ein eisiger Wind. Und das schon den dritten Tag.
Stinklaune?
Ach, was. Stinklaune, Stinklaune. Mir fällt die Decke auf den Kopf.
Kino? – Wir könnten ins Kino gehen. Ins „Luna“ kann man immer, die zeigen nur gute Filme.
Ach ja?
Wir waren schon Ewigkeiten nicht mehr im Kino.
Kino. – Und nachher liegt Schnee, und die Strassen sind vereist.
Seit wann hast du Angst vor dem Winter?
Hab ich nicht. Trotzdem. Das geht nicht.
Warum nicht?
Sommerreifen.
Was, Sommerreifen?
Sommerreifen. Und dann kommen wir hier nicht mehr hoch.
Du wirst doch nicht, ich meine… Du fährst immer noch mit Sommerreifen? Bist du blöd, vor einem Monat habe ich dir gesagt, du sollst die Reifen wechseln…
Nun schrei hier nicht rum. Letzten Winter gab es nicht einen Tag, an dem wir Winterreifen gebraucht hätten.
Dann nehmen wir den Bus.
Nach dem Kino kannst du fast zwei Stunden warten, in einer Beiz neben dem Bahnhof, Soldaten und Besoffene, Rentner mit ihren Geschichten, die kaum auszuhalten sind, Ausländer …
Du solltest dich einmal hören…
Was sollte ich?
Ja, du solltest dir einmal zuhören müssen, was für einen Stuss du daher schwafelst. Hock dich an einen Stammtisch, im Frohsinn, in der Traube, im Hecht. Vom Wetter zu den Ausländern! Da bist du zumindest in Gesellschaft.
Du weisst genau, dass wir mit Sommerreifen… Das Risiko ist einfach zu gross. Und: Einen ganzen Abend unter Leuten ohne ein Bier, ein Glas Wein, ohne einen Schnaps, das hält man doch gar nicht aus.
Man?
Und dann stehen wir da kurz vor Mitternacht an der Abzweige und haben noch einmal eine halbe Stunde, bis wir zu Hause sind. Ich meine, damit wird das ganze Elend ja geradezu auf die Spitze getrieben. Im Kino friert man, weil es schlecht besucht ist, und sie an Heizung sparen, oder man sitzt neben jemanden, der ohne Schirm durch den Regen gelaufen ist. Und dann immer diese Pause, entweder soll ich ein Eis fressen oder ihren billigen Wein trinken, das hat doch keine Atmosphäre, auf jeden Fall, nachdem sie diesen schrecklichen Neubau gleich nebenan hochgezogen haben. Und immer kennt man jemanden, mit dem man reden sollte. Ich will doch nicht reden müssen, wenn ich nichts zu sagen habe. Übers Wetter? Über den Film? Sicher nicht. Dass sie nichts verstehen, merkt man ja schon an ihren Reaktionen, wo und warum die Leute immer lachen, das möchte ich auch gerne einmal wissen. Ich meine, dieses ländliche Publikum. Die lachen doch immer an den falschen Stellen. Wenn überhaupt. Wo sie nichts verstehen, über Dinge, von denen sie keine Ahnung haben. Dafür umso lauter. Als müsste ihr Lachen Verstärkung einfordern. Es gibt eben keine Filme über Traktoren, Düngemittel und Zuckerrüben. Gibt es nicht. Und die Stadt. Wie, wo oder was? Was ist eine Stadt? Einmal im Jahr Konstanz und einmal Winterthur. Bertheli habe ich gefragt, wann sie das letzte Mal in Zürich war? Zürich? Hat sie gefragt? Was soll ich denn in Zürich? – Haben wir eigentlich noch Schokolade?
Schokolade? Hast du vergessen, dass wir einen Garten haben?
Ich kann doch nicht, immer nur Quitten… Roh gelten sie sowieso für ungeniessbar. – Was ist jetzt? Gehen wir jetzt ins Kino, oder willst du hier versauern?
In ein Auto ohne Winterreifen? Ohne mich, da setz‘ ich mich nicht rein. – Überhaupt hast du das Wasser abgestellt, die Leitungen geleert, sind die Dachfenster zu? Das letzte Mal hat es voll in meine alte Schallplattensammlung geregnet. Ist der Sonnenschirm im Haus, die Gartenstühle? Die neuen Tulpenzwiebeln sind auch noch nicht im Boden. Und hast du nun endlich meinen Löwenzahnstecher gefunden. Ein Glück gibt es dieses Jahr keine Nüsse…
Kino, Sommerreifen, Wintergemüse! Vergiss es. Los komm! Annis Rinder sind wieder einmal durch den Hag in unseren Garten gebrochen.

2 Besuch

Wie schön ihr es hier habt! So ein prächtiger Garten! Und dann diese Aussicht!
Naja, das Restaurant ist öfter geschlossen als offen.
Wie meinst du?
Das Restaurant. Die Aussicht. Sie ist nur an knapp drei Tagen die Woche geöffnet.
Aber ihr ernährt euch doch ohnehin aus dem eigenen Garten? Also wenn ich einen solchen Garten hätte – schau nur, das Werk lobt seinen Schöpfer!
Ist das ein Zitat?
Wie du willst. – Ich habe noch nie so dralle Tomaten gesehen. Und das im November. Ein Wunder.
Ah, die Tomaten. Das war ein Kampf, sag ich dir, zuerst die Rinder, die durch den Zaun brechen, und dann die Braunfäule…
Oh, und diese Feigen! Da nehme ich mir gleich zwei, gell, ich darf mich doch bedienen? Feigen, das ist ja das reinste Paradies hier!
… hat fast alles befallen.
Was seh ich da: Letzte Himbeeren! In dieser Jahreszeit!
Ja. Himbeeren im November.
Das wäre doch ein wunderhübscher Buchtitel? Himbeeren im November. – Hier oben schreibt sich bestimmt ganz herrlich. All die kleinen Plätzchen…
Die gejätet werden müssen.
… die ihr habt. Die hat alle Peter gemacht, ja? Die Trockenmäuerchen, die lauschigen Eckchen, die poetischen Nischen?
Äh, nein, ich werkle da…
Ein Multitalent!
… wacker mit.
Wo man hinblickt, ist Idylle. So, so schön, dass du es so schön hier hast, Michèle, macht mich ganz froh. Du schreibst bestimmt in einem Mordstempo an deinem nächsten Roman, das kann ich gut verstehen, bei dieser Lage, dieser Stimmung, da kommt man unweigerlich in den Flow, das flutscht doch nur so hier, sieh nur, dort drüben das Abendrot, nein, wie schön aber auch, einfach nur schön, sag ich.
Hm, schön schon, ja.
Wann bist du fertig?
Womit? Dem Abräumen im…
Deinem Roman, womit denn sonst?
… Garten?
Garten? Einen Gartenroman! Wie schön, wann feierst du Vernissage, wann kann ich es lesen?
Lesen? Ich weiss nicht.
Wie, du weißt nicht? Wie heisst es denn, das neue Werk?
Hm. Lass mich überlegen.
So schön hier!
Vielleicht nenne ich es….
Gell, ich darf doch noch einmal, die schmecken alle so köstlich!
… Himbeeren im November.

3 Sonntag früh im Bett

Komm, machen wir das Fenster auf.
Hmm?
Hörst du den Regen?
Wmkissen?
Küssen?
Wo ist mein Kissen?
Warte, ich werde dein Kissen sein. So. Liegst du gut?
Hmm.
Hörst du wie er prasselt?
Ichhrnero.
Hm?
Ich höre nur Nero.
Ach der. Lass doch den Stier.
Sinddkatzndrn?
Hm?
Sind die Katzen drin?
Hm, hab sie vorhin gesehen, als ich aufs Klo ging. Alle drei.
Wmstduheute?
Hm?
Was machst du heute?
Heute?
Schreibst du?
Jetzt liege ich erst noch ein bisschen.
Schrbnleben.
Hm?
Wir wollten doch fürs Schreiben leben?
Ja, schon, aber… Hörst du, wie schön der Regen prasselt?

Michèle Minelli, geb. 1968 in Zürich, freischaffende Schriftstellerin, lebt und arbeitet auf dem Iselisberg. Verschiedene Auszeichnungen und Stipendien. Zuletzt erschienen „Die Verlorene“, ein historischer Roman über das Leben der Thurgauerin Frieda Keller, Aufbau Verlag 2015. 2017 erscheint die Publikation „Schreiblexikon, das:“, für das Minelli zusammen mit Peter Höner als Herausgeber zeichnet. Zuletzt erschien bei Salis der Roman «Der Garten der anderen.

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Peter Höner, aus Winterthur, geboren 1947 in Eupen/Belgien, freischaffender Schriftsteller, Schauspieler und Regisseur, lebt und arbeitet auf dem Iselisberg im Kanton Thurgau. 2017 erschien im Limmat Verlag der fünfte und letzte Kriminalroman «Kenia Leak» mit den beiden Ermittlern Mettler und Tetu. Der Schelmenroman «Der seltsame Ausflug des Salvador Patrick Fischer in die analoge Welt» soll 2019 erscheinen.

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