Marieta war eine feine Dame aus Bukarest – Anwältin, wie ich von meiner Grosstante wusste –, und sie besass eine Ferienwohnung, Zaun an Zaun mit uns. Als ihr Mann erkrankte, erbarmt sie sich seiner, obwohl er sie ein Leben lang belogen und betrogen hatte. Das vertraute Marieta der schönen Frau des Zwerges an. Sie verliess also alles und zog mit ihrem Mann in das Ferienhaus hier „an der frischen Luft“. Sie war ihm ergeben, wie das ganze Leben schon, und bestand darauf, ihn ganz allein zu pflegen. „Eine junge Pflegerin ist das letzte, was wir jetzt brauchen“, sagte sie ihm.
Man sah sie im Salatbeet und bei den Kartoffeln, mit grosser Sonnenbrille und Hut, oder dann Tee trinkend, Sessel an Sessel mit ihrem Mann, an sonnigen und nicht ganz so sonnigen und dann schattigen Stellen im Garten; sie setzte die Rattansessel um, fast schon stündlich, „ein bisschen Abwechslung braucht man im Leben“, sagte sie ihm. Einmal die Woche fuhr sie in die Stadt, nach Bukarest, um Medikamente zu besorgen, berufliche Anfragen abzulehnen und die Wäsche von einer Haushälterin ihres Vertrauens waschen und bügeln zu lassen – sie schleppte stets einen schrankgrossen Koffer mit sich –, denn sie hatte selber nie einen Haushalt geführt, und auch wenn sie jetzt darauf brannte, solches zu tun, galt es, Prioritäten zu setzen.
Wie schlimm es um ihren prekären Haushalt stand, wurde sichtbar, als ein Baum heranwuchs mitten in ihrer Wohnung.
„Wollt ihr ihn sehen?“ fragte sie jeden, mit dem sie sich am Zaun unterhielt, und sie unterhielt sich liebend gern „am Zaun“, wie so viele Leute auf dem Land, legte sich eigens dafür eine entspannte Pose zu, breitbeinig, den Arm in die Hüfte gestützt, den anderen am Zaun angelehnt: „Schauen Sie bitte nicht auf meine Nägel, ich komme von den Kartoffeln.“
Der Baum sei eines Tages einfach da gewesen, in Kindesgrösse, sie habe ein Dokument gesucht in einer Schublade und dabei so einiges herumgeschoben, den Schrank und einen Kleiderständer, „stellen Sie sich vor“; ob man sich denn mit Bäumen auskenne? Es könnte sich hier um einen Maulbeerbaum handeln oder einen Kirschbaum, ja, zweifellos. Und jeder folgte natürlich ihrer Einladung. Wer hatte das schon erlebt damals, dass ein Baum wuchs in der Wohnung? In einer noblen Ferienwohnung dazu; dass ein Sprössling durchs gewichste Parkett spriesst, „ein Wunder der Natur!“
Auch mich hat sie eingeladen, den Baum zu sehen. „Sprich doch mit ihr“, hatte mich meine Grosstante ermutigt, „sprich einfach mit ihr, dann wird sie dich bestimmt einladen!“ Und so kam es auch. Ich war so aufgeregt und darauf bedacht, den guten Eindruck, den Madame Marieta stetig erwähnte von mir zu haben, weiterhin zu bestätigen, dass ich gar nicht richtig hinschaute, in der dunklen Ecke ihres Zimmers, und vielleicht hätte ich auch so nichts gesehen, bedenkt man, dass ich länger draussen gewesen war, in der Mittagssonne, und es dunkel war im Haus. „Siehst du es?“ fragte sie, und ich nickte erschrocken. Sie lachte und zupfte mich am Arm. „So wie du muss auch ich dreingeschaut haben, als ich es entdeckte.“
Nunmehr hielt Marieta nichts mehr auf dem Rattansessel, so ganz ohne ihren Mann; immer öfter stand sie auf und ging ins Haus, um nach dem Bäumchen zu schauen. „Was meinst du, dass es ist?“, soll sie ihren Mann öfters gefragt haben, aber der gab keine Antwort, und Marieta soll ihm da seine Krankheit verübelt haben, zumindest soll sie der schönen Frau des Zwerges gesagt haben, dass sich ihr Mann eine zu ihm „allzu passende“ Krankheit gewählt hatte, eine, die seine Charakterfehler als körperliche Gebrechen weiterführe. Und dennoch war sie ihm weiterhin treu ergeben und bereit, alles mit ihm zu teilen.
„Es ist ein Kirschbaum!“ verkündete sie ihm freudestrahlend, ihm und allen Nachbarn, und sie sprach von „unserem Kirschbaum“ und streichelte die lahme Hand ihres Gatten und setzte ihn im Garten um, beim kleinsten Windstoss setzte sie ihn um; und diese Geschäftigkeit liess sie sehr jung wirken – wie alt mochte sie damals gewesen sein? Ich weiss noch, wie ich ihre Kleider schön fand, geblümte Petticoats, wie man sie in ihrer Jugend getragen hatte, mit Punkten oder farbig bedruckt mit Obstmotiven. Die Madame lachte und war sehr vergnügt; sie habe es eigentlich im Gefühl gehabt, dass es ein Kirschbaum werden würde, ein Kirschbaum! Man stelle sich das vor!
Und dann beschloss die Madame, eine Lücke zu schlagen ins Dach, damit der Baum Licht bekomme und gut wachsen könne.
Der neue Bauplan wurde so schnell umgesetzt, dass nur wenige Nachbarn etwas davon mitbekamen, das natürlich mit Ausnahme derer, die zum Vorhaben beitrugen, selbsternannte Baumeister, die ansonsten Schichten schoben in der Papierfabrik; es ist nicht klar, wer was zu verantworten hatte, denn die Madame sprach ihren Baumeistern drein, stieg aufs Dach mit einer Küchenschürze über dem Kleid und einem Tuch um Kopf und Gesicht, wie eine Beduinin sah sie aus, und hämmerte mit, genau dort, wo andere gerade aufgehört hatten zu hämmern.
Und als alles fertig war, hatte der Baum Licht und Raum. Aber nach einigen Wochen stürzte das Dach ein. Es stürzte ein mitten in der Nacht, über Marietas Mann, den man aber wieder ausgrub und der ausser ein paar Kratzern keinen Schaden genommen hatte, zumindest dem Anschein nach, weil er wegen seiner Krankheit, über die man nichts Genaues wusste, ohnehin kaum sprach und meistens nur benommen lächelte.
Der Kirschbaum brach zwar entzwei, aber er wurde zusammengebunden, und bei dieser Gelegenheit auch gepfropft von der schönen Frau des Zwerges. Ich sah das Bäumchen zwischen den Trümmern, endlich sah ich es, und es mag wohl eine Verklärung der Erinnerung sein, dass ich es in der leuchtenden Abenddämmerung sah. Seine Ästchen glühten verheissungsvoll, ganz wie die knallroten Baukräne gegen den Bukarester Himmel.
Die Nachricht vom Dacheinsturz schien Marieta nicht aufzuwühlen, ihr Mann und das Bäumchen seien ja wohlauf, das Geschehene ein willkommener Ansporn, um mit der Arbeit anzufangen am ohnehin sanierungsbedürftigem Haus.
Als sie aus Bukarest zurückkehrte, Tage später, berief sie die selbsternannten Baumeister ein und beauftragte sie mit der Errichtung einer kleinen Holzbaracke mit Blechdach, drei Mal so gross wie die winzige Plumpsklohütte im Garten hinter den Salatbeeten, die sie nun ebenfalls hegen wollte. In der neu errichteten Holzbaracke zwängte sie ihre Matratzen und Decken und auch ihren Mann hinein, den sie lachend „Prinzessin auf der Erbse“ nannte. Und dann riss sie das Haus nieder – sie erledigte das fast ganz allein, zu delikat war ihr die Arbeit erschienen, so nah am Bäumchen.
Ich sehe noch, wie sie um die staubige Mauer herumlief, eine Küchenschürze über dem geblümten Sommerkleid, und mit einem kleinen Hammer gegen die Backsteine hämmerte; ein leises, unstetes Hämmern, sie hämmerte an alle Backsteine, die noch aufeinander standen, und dann hämmerte sie vorsichtig den Mörtel weg und wusch die Backsteine einzeln in einem kleinen Eimer. Ich mochte diesen Geruch, der sich aus ihrem Hof erhob, zusammen mit dem kalten Staub. Es roch erdig und nass, wie nach einem Frühlingsregen auf dem Land.
Ich begann, Madame Marieta öfter zu besuchen; und sie setzte mich in ihrer Nähe auf einen Campingstuhl, ich hatte eine Tasse Tee in der Hand, und wir führten angenehme Konversationen, worüber, habe ich vergessen, aber sie waren angenehm, und wir lachten viel dabei, denn Madame hatte einen feinen Humor, und ich weiss noch, wie sie damals anfing zu rauchen, insgeheim, beim kleinsten Geräusch aus der Holzbaracke schnippte sie die brennende Zigarette über den Zaun auf die Strasse und nahm kurzerhand ihr Hämmern auf, sie hämmerte leise und mit kleinen Gesten, als würde sie häkeln.
Auch andere Nachbarn kamen vorbei, meine Grosstante oder die schöne Frau des Zwerges erschienen öfter; und sie sassen auf den Campingstühlen und tranken Tee, während Madame leise weiterhämmerte und jede von Zeit zu Zeit angebotene Hilfe auf ihre sanfte, aber strikte Art ablehnte, „das ist doch nicht viel, ihr macht euch nur schmutzig.“
Irgendwann, und das unerwartet, war das ganze Haus weg und der Hof so geräumig, wie man es nie vermutet hätte.
Und Marietas Mann, der anfangs noch auf einem Sessel im Garten sass oder mit vorsichtigen Schritten zum Plumpsklo ging hinter die Salatbeete, kam gar nicht mehr heraus aus der Baracke. „Bleib drin, Lieber“ hatte ihn die Madame all die Jahre gemahnt, „wir haben hier überall eine Baustelle.“
Weil man ihn nicht mehr sah, vergass man ihn; die Erinnerung an ihn kam erst auf, als sich die Madame eine Heizung in die Baracke einbauen liess, nachdem ihr Mann im langen Winter zuvor so gefroren hatte, dass, ihrer Aussage nach, seine Finger und Zehen zunächst blau geworden und dann schnell abgefallen seien.
Hierzu muss ich sagen, dass ich die Madame nur in den Sommerferien erlebte und jeden Sommer nach der Fortsetzung ihrer Geschichte verlangte, so dass manche zum Zeitpunkt des Erzählens weiter zurückliegende Details der Geschichte – wie die mit den schnell abgefallenen Fingern und Zehen – weniger bannten als unmittelbar Erlebtes, etwa Madames kluges Verhandeln mit den Baumeistern um eine Heizung, die sie am Ende fast umsonst bekam.
In jenem Sommer war der Kirschbaum schon an die zwei Meter hoch gewachsen, und wir tranken unseren Tee auf den Campingstühlen in seinem Schatten, Madame Marieta, meine Grosstante, die schöne Frau des Zwerges und ich. Beim kleinsten Windstoss rauschten die Blätter wie Schellenringe. Marieta rauchte und liess dann die Hand mit der brennenden Zigarette hinter die Rücklehne hängen, eine Geste, die mir als Pubertierender ungemein imponierte. Beim Weggehen waren sich meine Grosstante und die schöne Frau des Zwerges stets darüber einig, dass Marieta eine feine und besonnene Frau war, wie es kaum noch welche gebe.
Ein oder zwei Jahre später zog Marieta nach Bukarest. Sie kam nie wieder zurück, ich glaube, ihr Mann war gestorben. Ihr Neffe zog hier ein dreistöckiges Ferienhaus hoch.
Dana Grigorcea, geboren 1979 in Bukarest, studierte Deutsche und Niederländische Philologie in Bukarest und Brüssel. Mit einem Auszug aus dem Roman «Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit» wurde Dana Grigorcea in Klagenfurt beim Ingeborg Bachmann-Wettbewerb 2015 mit dem 3sat-Preis ausgezeichnet. Ihr Erstling «Baba Rada. Das Leben ist vergänglich wie die Kopfhaare» ist im Oktober 2015 ebenfalls im Dörlemann Verlag neu erschienen. Nach Jahren in Deutschland und Österreich lebt sie mit Mann und Kindern in Zürich.
«Die Dame mit dem maghrebinischen Hündchen» auf literaturblatt.ch
Dana Grigorcea liest am 3. November im Theater 111 in St. Gallen mit dem Musikerduo «Stories»!