Helga Bürster «Steine»

Der Alte kniete auf dem Platz vor dem ehemaligen Verwaltungsgebäude, in dem jetzt die Anderen wohnten. Er arbeitete immer hier, wenn die Galeerensklaven mit ihren brüllenden Gesängen aufzogen. Sie fingen schon wieder an, die Pflasterung aufzureißen, als er unten auf der Straße angekommen war. Vom Balkon aus hatte er den Platz im Blick, nur kam er nicht mehr so schnell die Treppe runter. Es war nicht der erste Aufzug vor dem Gebäude und er kannte den einen und die andere. Nachbarssöhne und Töchter. Er war selbst ein Galeerensklave gewesen, damals, er kannte sich aus. Wenn sie kamen, ging er mit seinem Fäustel auf die Straße. Er  musste wieder in Ordnung bringen, was sie anrichteten. Einer musste die Löcher flicken, die sie rissen. Einer musste das alles wieder heil machen. Wozu war er Steinsetzer gewesen. Einer der Besten. Er räumte auf, setzte Stein um Stein an seinen Platz zurück, und kümmerte sich nicht um die 

Vorwärts! vorwärts! 

Schlacht, die um herum tobte. Er hörte nicht hin, langte nach einem weiteren Basaltstein, der lose herumlag, und drückt ihn in ein Loch. Dann nahm er den Fäustel und klopfte Stein um Stein im Sandbett fest. Ein Knallkörper zischte dicht an seinem Ohr vorbei, eine Weile hörte er nichts mehr. Er sah nicht auf. Er arbeitete weiter, immer weiter, von Loch zu Loch, während um ihn herum neue aufgerissen wurden. Er wollte das nicht sehen, auch dann nicht, als die Polizei kam und alle aufforderte, den Ort zu verlassen. Niemand hörte darauf. Ein Wasserwerfer schleuderte einen Strahl über ihn hinweg. Harte Tropfen regneten auf seinen Rücken nieder. Er bückte sich nach einem weiteren   

mögen wir auch untergehn

Stein, obwohl sein Kreuz schmerzte. Berufskrankheit. Er war längst zu alt zum Kriechen, aber er hatte Schuld zu begleichen.   
Ein junger Kerl riss ihm den Stein aus der Hand, den er gerade 

Mann für Mann!

aufgehoben hatte. Einen kurzen Moment trafen sich ihre Blicke und er sah sich selbst, seinen alten Hass, die Angst und Wut. Er wusste noch gut, wie sich das angefühlt hatte. Der Junge mit dem Stein war in dem Alter, in dem er selbst ein  Galeerensklave geworden war. Er packte den Jungen am Handgelenk. 
„Ich kenne dich.“
„Fresse halten!“
Der Junge riss sich los, nahm Anlauf, streckte sich, holte in einer eleganten Bewegung aus, als ob er das tausend Jahre geübt hatte, und 

durch unsere Fäuste 

schleuderte den Stein gegen das brennende Haus. Ein Tier im Sprung, blutberauscht, schön und abscheulich. Das dachte der Alte, obwohl er sich das Denken lange abgewöhnt hatte. Der Stein prallte gegen die Wand aus Plexiglasschilden, hinter der sich die Ordnungshüter so schnell verschanzt hatten. Dahinter turnten die Anderen schutzlos auf den Simsen und Balkonen, einer hing wie eine Bettdecke von einer Brüstung, Scheiben barsten und Flammen schlugen aus Fensterlöchern. Das Haus schrie. Ein Feuerwehrwagen blieb im Gewühl stecken. Eine sprang aus dem dritten Stock, angefeuert noch und beklatscht.
„Immer schön runter! In den Dreck. Dreckspack!“
Er hatte nur kurz hingesehen und den Kopf dann wieder gesenkt. Er hatte besseres zu tun, er flickte 

durch Nacht und durch Not 

die Löcher, die gerissen wurden und auch diejenigen, die gerissen worden waren. Alle Löcher dieser Welt zu flicken, etwas Besseres hatte er nicht zu bieten.

„Fünf Millimeter, wenn´s recht ist. Ein deutscher Mann sieht nicht aus wie ein Zigeuner oder Jud!“ 
Der Friseur, der einen Kerl aus ihm machen sollte, war ein schmächtiges Bürschchen gewesen, einer mit flottem Führerbärtchen und zackiger Pose. Er selbst hatte auf dem Stuhl im Herrensalon gesessen, die Haut klebrig vom Schweiß, das rissige Kunstleder kratzte im Rücken. Im Spiegel lief ein Film mit ihm als bestem Nebendarsteller. Wie ich zu dem wurde, was ich zu sein habe. Sein Vater hatte hinter ihm gestanden, stramm auf den Beinen, während der Friseur auf dem Jungenflaum tänzelte, der auf den Boden schneite. Als er ihm schließlich den Nacken ausrasierte, wurde ihm kalt. In der Geschichtsstunde hatte der Lehrer Bilder von römischen Galeerensklaven gezeigt.  Abbildungen alter Ölgemälde. Die Sklaven hatten ausgesehen, wie er jetzt, wie sein Vater schon lange. Wie alle. Der Lehrer hatte gesagt, der geschorene Kopf sei das Mal der Unterwerfung unter die römischen Herren gewesen. Bestimmt hatte er gelogen, denn sein Vater behauptete doch, sie seien jetzt und immerdar

Kamraden, dir! 

die Herren der Welt. 
Ein leiser Zweifel hatte ihn damals befallen, der bohrte seitdem in ihm, ob er nämlich Worten trauen konnte. Je nachdem, wer sie aussprach und wer sie hörte, bedeuteten sie mal dies und mal das. Dazu kamen die Spitzfindigkeiten, die er nicht begriff.  Also war er lieber Steinsetzer geworden, denn ein Stein ist ein Stein. Heute wusste er, dass selbst das nicht immer stimmte. 
Er kroch auf Knien weiter und sammelte einen Armvoll ausgerissener Balastquader ein. Sorgfältig reihte er sie neben dem Loch auf, das er zu flicken begonnen hatte. Er erkannte mit bloßem Auge, dass alles passen würde, denn er hatte schon zu viel geflickt, da konnte ihm niemand etwas vormachen. Jemand stieß ihn in den Rücken. Sirenen heulten. Gelbblaues Licht zuckte über den Platz. Er arbeitete bedächtig. Sein Herz schlug im Takt des Fäustels. Er atmete ruhig. Aus dem Dach schlug 

die neue Zeit

das Feuer. Balken krachten, Scheiben klirrten und er hob für einen Moment den Blick, um zu sehen, was da los war. An einem Fenster stand eine Frau, ihr Umriss zeichnete sich vor den Flammen ab, die hinter ihr loderten. Unten breitete die Feuerwehr Sprungtücher aus. Sie hielt ein Kind im Arm. Wie damals, dachte er und verfluchte sich fürs Hinschauen, aber es war nicht mehr zu ändern. Die Bilder schoben sich übereinander. Die alten und die neuen. Es gab ein Hier und ein Da. Die Frau von damals hatte auch ein Kind gehalten, Flammen im Haar, die heilige Barbara, während unten die Galeerensklaven Löcher rissen. Die Frau hatte ihn angesehen und das Kind 

flattert uns voran 

geworfen. Und er? 

Der nächste Stein passte in das nächste Loch. So ist es gut, dachte er. Sein Herz schlug wild, denn der Führer persönlich hatte ihm damals die Hand geschüttelt, war aus seinem Bunker gestiegen, hatte ihm zugelächelt mit zuckenden Mundwinkeln, ihm und ein paar anderen Jungs, die eilig zusammengekratzt worden waren, den Krieg noch zu gewinnen, so kurz vor dem Ende, Kanonenfutter, das man dem Schüttelgelähmten vor die Füße stellte, um seinen Tremor zu besänftigen. Ein schöner Frühlingstag war das gewesen und so voller Hoffnung, denn die Kirschbäume hatten geblüht. An diesem wunderschönen Frühlingstag verlieh 

wirst leuchtend stehn

der Führer ihnen Orden. Warum hatte die Frau damals ausgerechnet ihn angesehen? Er war nur ein kleiner Galeerensklave gewesen, der von nichts gewusst hatte. Seine Knie schmerzten. Der Stein, den er gerade hielt, fiel ihm   

als der Tod 

aus der Hand. Er hob ihn auf und legte ihn in das Loch, das er für den Stein vorgesehen hatte, aber er passte nicht hinein. Alles tat ihm weh, der Nacken am allermeisten. Er streckte seine schmerzenden Glieder. Die Frau mit dem Kind stand immer noch da. Sie blickte ihn in

Ewigkeit! 

an. 

 

Helga Bürster, geboren 1961, ist in einem Dorf bei Bremen aufgewachsen, wo sie auch heute wieder lebt. Sie studierte Theaterwissenschaften, Literaturgeschichte und Geschichte in Erlangen, war als Rundfunk- und Fernsehredakteurin tätig, seit 1996 ist sie freiberufliche Autorin. Zu ihren Veröffentlichungen zählen Sachbücher und Regionalkrimis, zudem wurden von Radio Bremen/ NDR sowie vom SWR Hörspiele von ihr ausgestrahlt. 2019 erschien ihr literarisches Debüt «Luzies Erbe» und 2023 ihr Roman «Als wir an Wunder glaubten«, beide bei Insel/Suhrkamp.

Beitragsbild © Uwe Stalf/Insel