Jürg Beeler «Möglicher Anfang eines Romans»

1

Nun ist es still geworden um mich, endgültig still, und ich weiß nicht, ob ich diese Stille mag, ob ich für sie geschaffen bin.
Vielleicht bin ich bald einer wie mein Vater. In den letzten Jahren seines Lebens trug er immer dasselbe Sakko, das ihm zu groß war. Jedes Jahr wurde es größer, jedes Jahr sah er darin noch verlorener aus. Bald kannst du darin zelten, sagte ich ihm.

 

2

Mein Vater saß in den Drei Mönchen vor seinem Glas, als wir uns zum letzten Mal sahen. Schnee fiel hier noch nie, sagte er, und das Licht ist dasselbe wie in der Stadt, nur fällt es anders, stiller.

Mein Vater konnte nur mit Mühe lesen, mit dem Alphabet stand er auf Kriegsfuß, wie er mit vielen Dingen im Leben auf Kriegsfuß stand.
Wenn ich mit dem Schulbus an der Tankstelle vorbeikam, winkte mein Vater im blauen Overall. Im Sommer saß er auf einem Klappsessel im Schatten, wartete auf Kunden und hätte gerne den neuesten Lancia oder Alfa Romeo gefahren, doch er bediente lediglich die Zapfsäule und fuhr mit dem Schwamm über die Frontscheibe, wenn ein Kunde es verlangte. Nachher hätte man auch bei klarem Himmel nur Nebel gesehen.

Sobald mein Vater nach Hause kam, stellte meine Mutter das Radio lauter. Es gefiel ihr nicht, dass sie ausgerechnet mit diesem Mann verheiratet war. Einem Mann, der eines Tages in dem Hotel abgestiegen war, in dem sie arbeitete. Es regnete nicht, der Himmel war von urlaubsmäßigem Blau, doch die Gassen der Stadt waren überflutet. Nichts zu machen, er konnte das Hotel nicht verlassen, und die Frau, die am Empfang saß, war zu hübsch, um sich darüber zu beschweren. Zwei Wochen später als vorgesehen kehrte er aus dem Urlaub zurück, eine Ungeheuerlichkeit, die ihn seine dritte Stelle kostete. Doch er war noch jung, zwanzig erst, und machte sich keine Sorgen.

 

3

Meine Mutter kam aus Venedig. Genauer aus Mestre, aber sie sagte immer Venedig. Das ist nicht dasselbe, Venedig und Mestre sind durch einen Damm voneinander getrennt, korrigierte sie mein Vater, um sie zu ärgern, doch meine Mutter ignorierte diesen Damm, wie sie im Leben überhaupt Dämme und Grenzen nicht mochte.
Ich war fünf oder sechs Jahre alt, als wir aus der Stadt ins Dorf zogen. Die Wäsche meiner Mutter trocknete im Freien, und man sah, was sie unter den Röcken trug: verschiedene Farben, leuchtende Farben, und das sorgte für Unruhe im Dorf.

Nie lud ich Kameraden nach Hause ein. Meine Mutter wunderte sich, dass ich nicht Fußball spielte wie andere Jungs. Lass ihn doch, sagte Onkel Karl. Hauptsache, er wird größer.
Für Onkel Karl, der nie Fußball gespielt hatte, war Größerwerden schon viel, mehr konnte man von einem Kind nicht verlangen.
Der Fußball ist eine vollkommen nutzlose Erfindung, doch ich lag gerne auf einem verlassenen Fußballplatz und betrachtete den Himmel. Kaum fixierte ich eine Wolke, erschrak sie und veränderte sich unter meinem Blick, dehnte sich aus, ballte oder teilte sich, ich betrachtete den Himmel, und irgendwann zogen immer Wolken auf.
Der Junge zieht das Unglück an, behauptete meine Mutter. Dasselbe soll auch Fernando Pessoas Mutter von ihrem Sohn gesagt haben, aber das wußte ich damals noch nicht.

Wenigstens einmal im Leben eine Haremsdame sein, notierte dieser große portugiesische Dichter gleich zwei Mal in seinem Buch der Unruhe. Pessoa war ein scheuer Mensch, darum träumte er sich in einen Harem hinein. In seiner Phantasie war er der Scheich, den die Haremsdamen liebten wie eine Mutter ihr Kind, zugleich war er die Haremsdame, die leidet. Er wollte beides sein, Mann und Frau, er wollte als Mann in sich selbst eindringen, in sich als Frau. Er war zu delikat gebaut, zu melancholisch und luzide, um dem Terror eines Ehelebens etwas abgewinnen zu können.
Was ist ein Harem, fragte ich als kleiner Junge Onkel Karl. In einem Harem gehören alle Frauen dir, und das macht das Leben weniger kompliziert.

Onkel Karl war der Jüngste von Vaters Brüdern. In den Augen seiner Frau brauchte er für alles zu lange. Warum muss immer alles so schnell gehen, beschwerte er sich, rückte vor dem Spiegel seine Weste zurecht, zupfte an seinem Schnauzbart und lächelte, als wäre er sehr eingenommen von der Begegnung mit seinem Doppel.
Mach schon, wir kommen zu spät!
Wenn man sich Zeit lässt, ist man überall rechtzeitig, antwortete Onkel Karl und holte zu einer weitschweifigen Erklärung aus, um die Geduld seiner Frau noch ein wenig zu strapazieren.
Bevor ich das Haus verlasse, will ich überprüfen, ob ich wirklich mit meinem Spiegelbild identisch bin. Wäre das nicht der Fall, hätte ich dauernd Meinungsverschiedenheiten mit mir, ich läge mit mir im Streit, und das brächte niemandem Glück. Man sollte keine Freunde besuchen, wenn man nicht im Einklang mit sich selbst ist. Aber heute bringt ja keiner mehr die Geduld auf, solche Dinge zu überprüfen, als wäre völlig egal, wer wir sind.

 

4

Mein Vater saß in seinen letzten Jahren fast täglich in den Drei Mönchen. Ich habe ihn in diesen Jahren nie mehr lachen gehört, aber er lächelte, wenn ich kam.
Warum sagte er, Schnee fiel hier noch nie? In der Ferne sah man die Voralpen, Schnee fiel im Dorf fast jeden Winter. Ich fragte nicht nach, mein Vater war keiner, der sich die Dinge erklärte.
Noch abwesender als sonst schien er, als hätte er sich von dieser Welt bereits verabschiedet. Doch das wurde mir erst in der Erinnerung deutlich, denn die späteren Ereignisse ließen mich unser Treffen anders sehen.
Ich werde die Wohnung verkaufen, sagte er. Ich will noch einmal verreisen, diesmal endgültig. Ich will mein Leben nicht in diesem Nest beenden.
Ich nickte, seit Jahren schon redete er davon, dass er seine Frau, meine Mutter, noch einmal sehen wolle, ich nahm seine Worte nicht sehr ernst. Warum sollte er, der im Leben nie etwas angepackt hatte, sich ausgerechnet jetzt aufraffen?
Ich ahnte nicht, dass es unsere letzte Begegnung sein würde. Mein Vater musste schon länger in den Drei Mönchen auf mich gewartet haben, sein Weinglas war fast leer.
Du weißt es wohl noch nicht, sagte er. Karl ist gestorben.
Onkel Karl?
Im vergangenen Sommer.

Mit einer Trompete flog ich am nächsten Morgen nach Lissabon zurück. Mit Onkel Karls Trompete. Mein Vater hatte sie mit in die Drei Mönche genommen. Sie gehört dir. Karl hat dich immer besonders gemocht.

 

5

Onkel Karl war Trompeter im Orchester des Opernhauses gewesen, der einzige Stadtmensch unter meinen zahlreichen Onkeln. Trotzdem war er häufig bei uns auf dem Land.
Wenn Onkel Karl uns besuchte, war meine Mutter glücklich und nachsichtig mit meinem Vater und mir. Onkel Karl war ein schwerer Mann, doch in seiner Nähe fühlte ich mich leicht. Gespannt beobachtete ich, wie sich Onkel Karl auf einen der morschen Gartenstühle setzte, aber Onkel Karl zauberte, der Stuhl krachte unter ihm nicht zusammen.
Eines Tages nahm mich Onkel Karl mit in die Stadt, wir besuchten den Zoo. Die Flamingos standen auf einem Bein, reglos, den Kopf im Gefieder. Noch nie hatte ich einbeinige Vögel gesehen, doch Onkel Karl schüttelte den Kopf. Sie haben zwei Beine wie alle Vögel, erklärte er.
Was macht das andere Bein, fragte ich.
Es schläft.
Wacht es nie auf?
Doch. Wenn es aufwacht, geht das andere Bein schlafen. Die Beine wechseln einander ab.
Träumt das Bein, wenn es schläft?
Natürlich träumt es. Und wenn es aufwacht, erzählt es dem Flamingo seine Träume, und darum wird es dem Flamingo nie langweilig.

Jürg Beeler anlässlich einer Lesung aus «Die Zartheit der Stühle» auf Schloss Mörsburg

Jürg Beeler, geboren 1957 in Zürich, studierte Germanistik in Genf, Tübingen und Zürich. Arbeitete als Deutsch- und Fremdsprachenlehrer und als Reisejournalist. Lebt in Südfrankreich und Zürich. Für seine literarische Tätigkeit wurde er verschiedentlich ausgezeichnet. Publikationen (Auswahl): «Die Liebe, sagte Stradivari» (2002), «Das Gewicht einer Nacht» (2004), «Solo für eine Kellnerin» (2008), «Der Mann, der Balzacs Romane schrieb» (2014), «Die Zartheit der Stühle» (2022)

Beitragsbild © Barbara Dietl

Rebecca C. Schnyder «Gewitter nach dahin»

Man fühlt sich nicht unbedingt fremd, da wo man gerade ist und doch denkt man für sich, dass man sich auch nicht unbedingt wie zu Hause fühlt, da wo man gerade ist. In diese Gedanken dann mischen sich Bilder, Bilder von früher und damals, Bilder vor dem inneren Augen, dem Innenauge; leicht verzerrt sieht man also vor dem Innenauge Bilder und denkt sich, ob das, was auf diesen Bilder ist wohl dorthin gehört, wo man sich zu Hause fühlt. Diese Bilder sind grün und braun und man denkt sich, das also sind sie, die Farben von damals, die einen nicht verlassen haben, und die noch immer gespeichert sind, da drinnen, tief drinnen in einem selber. Und man sieht auf diesen Bildern Umrisse von Hügeln und Gestalten, erahnt die Formen und denkt sich, das also sind sie, die Formen von damals – auch sie haben einen nicht verlassen.
Und genau in diesem Moment, in dem man sich dies alles fragt und dies alles für sich denkt, da zuckt der Himmel, genau in diesem Moment türmen sich Wolken auf, als wollen sie ein Turm bauen da oben im zuckenden Himmel. Und man erschrickt sich ein wenig, weil es so laut ist und so plötzlich, so plötzlich und laut eben, dass man sich erschrecken muss, gar nicht anders kann als sich zu erschrecken. Doch es ist kein böses Donnern und Grollen, das man hört und ab dem man sich erschreckt hat, schon gar kein unheimliches geschweige denn ein bedrohliches, es ist lediglich ein Donnern und Grollen, das sich seinen Weg gebahnt hat bis zu einem, bis dahin, wo man gerade sitzt oder liegt oder steht. Und es ermahnt einen, es gebe noch diesen Ort, diesen Ort gebe es doch, der einen jetzt rufe mit Wolkentürmen und zuckendem Himmel; es ist der Ruf nach dahin, dem Ort, wo man früher war und dachte, das ist es, hier dieser Ort, hier will man sein und bleiben, hier zu diesem Ort gehört man.
Und trotzdem man das wusste ging man weg, irgendwann dann eben doch weg, weil es könnte ja doch noch andere Orte geben und vielleicht gibt es woanders einen Ort, zu dem man sogar noch mehr gehört. Aber man zögert keine Sekunde damit, ihm zu folgen, diesem Ruf, der einen plötzlich ereilt und man braucht nicht zu fragen, wo er ist, dieser Ort, weil ehe man sich versieht, ist es lauter zu hören; das Donnern und das Grollen über dem Kopf und man sieht einen zuckenden Lichtstrahl quer über den Himmel, der wie zufällig die Richtung anzeigt. Und man muss nicht rennen, nicht hasten, gar darob stolpern, nur folgen diesem Ruf der ruft: Hier, komm, hier, hier ist dein Ort.
Und anstatt dass man im Gewitter den Kopf einzieht, streckt man ihn hoch, hoch in den Himmel und zwar so hoch, dass man ihn plötzlich in den Wolken hat und darüber und runter schaut auf die eigenen Füsse, die weit unter einem über grüne Hügel dem Ruf folgen. Man denkt nicht, muss nicht nachdenken, denn es läuft automatisch, die Füsse und alles was dazu gehört laufen ganz automatisch.
Unten sieht man bald Kühe, klein und braun, so braun wie die Häuser, die ebenfalls klein im Blickfeld von hoch oben aus dem Himmel stehen und zwar nicht angeschmiegt an die Hügel sondern thronend auf deren Kuppen. Sie sagen Hallo hier bin ich und auch wenn ich alt bin und klein und in deinen Augen nichts Besonderes, ich stehe hier, werde stehen bleiben, thronend auf der Kuppe der Hügel. Und mit dem Kopf oben in den Wolken sorgt man sich um diese kleinen Häuser auf ihren Kuppen mit ihrem altehrwürdigen Braun, das nur zum Schein unscheinbar ist, weil dahinter sich ja Geschichte verbirgt, nicht nur Geschichte sondern auch Geschichten, von Menschen, die einst gewohnt haben in diesen alten und kleinen Häusern; Geschichten von Menschen, die darin gewohnt haben und gelebt, die darin gelacht haben und manche wohl auch geweint. Und so sorgt man sich weil man den Kopf in den Wolken hat mitten im Donner und Gewitter und deshalb weiss um die Blitze, die sich noch immer wie zuckende Lichtstrahle, manche wie Lichtgestalten gar, quer durch den Himmel ziehen und nicht nur das, sondern sich zuweilen auch frech dem Boden nähern, der Erde, ebendieser auf welcher die braunen Häuser auf den Hügeln thronen.
Und dann, auf einmal hört man da oben mit den Ohren voll Wolken und Nass und Regen ein paar Töne, Klänge viel mehr und denkt sich ob das wohl die gleichen sind wie damals, früher, als man noch viele solcher Klänge hörte in dieser Gegend; und dass man irgendwann keine solche Klänge mehr gehört hat, hat nicht daran gelegen, dass es keine mehr gab, hier in dieser Gegend, sondern dass man selber weg war, also nicht mehr in der Gegend, ortsfremd und ortsfern geworden war, und solche Klänge nur mehr im leichten Schlaf gehört hatte, sozusagen im Traum obwohl die Tiefschlafphase nicht erreicht war. Denn so fein sind die Klänge, dass sie da nicht durchkommen, durchdringen, nicht so weit hinein reichen wie in die Tiefschlafphase in der normalerweise die Träume einen ereilen. Und so fragt man sich, ob man wieder träume, einen dieser Leichtschlaf-träume, das fragt man sich wenn man sie plötzlich wieder hört, diese Klänge. Bis man sie aber hört, immer deutlicher, mehr und lauter und weiss, dass kann kein Leichtschlaf-traum sein; nein sie sind da in aller Wirklichkeit, sie schwingen und klingen und finden das Ohr auch im Regen und durch die Wolken, Klänge, die sich gegenseitig suchen und finden, sich übereinanderlegen und einander folgen, Klänge aus Mündern, die sich im Kreis formieren.
Und so will man sich bücken, den Kopf aus den Wolken ziehen, gestrengter hinhören, mehr erhaschen von diesen Klängen, die drinnen im Innenohr, im Drinnenohr gespeichert waren trotz Ortsfernheit; trotz dessen dass man das Weite gesucht hatte, wortwörtlich die Weite, die Ebenen, die Durchatmungslandschaften in denen keine Erhebung den Blick aufhält. So lange hatte man dies Weite gesucht bis es gefunden war um dann doch zu denken: Ach, wie wäre es schön es gäbe eine Erhebung, ein Hügel oder Berg, die den Blick aufhalten würde.
Und während dem gestrengten Hören, dem Erhaschen dieser Klänge, Klänge, die einen Erinnerungsschleier lichten, lichten sich auch die Wolken, der Dunst vom Regen und man erhascht nicht nur die Klänge sondern auch den Blick auf einen Berg. Ein Berg, den man doch kennt, so denkt man für sich, einer wie es ihn nur einmal gibt und wie man ihn unter allen Bergen wiederfinden würde, ganz gleich wo und unter welchen Bergen. Und während man ihn betrachtet diesen Berg durchfährt es einen; es durchfährt einen mit der Gewissheit ob der eigenen Naivität und man lacht leise in sich hinein, über sich selber lacht man leise in sich hinein, dass man so naiv war und woanders gesucht hatte.
Und während man lacht, leise in sich hinein und über sich selber, ja während man also so lacht und gleichzeitig läuft, ganz automatisch läuft, währenddessen schickt man seinen Blick an den Berg und denkt, gut, dass es ihn gibt. Diesen Berg, um den man so froh ist, glücklich auch, ihn zu sehen, wieder zu erblicken, und zwar so sehr, dass man ihn gern aufgreifen möchte, einpacken, einstecken und zwar in die Hosentasche, um sich an ihm zu erfreuen ganz heimlich, noch mehr aber um ihn zu jedem Zeitpunkt aus der Tasche nehmen zu können, vor sich aufzustellen und einen Blick darauf zu werfen, auf diesen Berg, der Erinnerungsschleier lichtet. Dann aber mahnt einen das Donnern und Grollen – dieser Ruf – daran, nirgendwo hin zu gehen, wo man ihn bräuchte, diesen Berg in der Hosentasche, weil man doch da ist, wo er steht, im Original, gross und verankert; dass man da hingehen soll, und ebenso da bleiben soll, wo es nicht nötig ist, den Berg aus der Hosentasche zu nehmen, weil er ja vor einem steht, original, gross und verankert.
Und dann, ganz langsam, schleichend sogar verziehen sich die Wolken und die Türme und man realisiert, dass auch das Donnern und Grollen ein Ende nimmt, gar schon genommen hat, dass man kein Donnern und Grollen mehr im Ohr hat und auch keinen Regen im Auge oder auf den Füssen, sogar wieder über trockene Hügel läuft. Wenn also das Donnern und Grollen aufgehört hat, denkt man sich dann, oder fragt sich vielmehr, ob also der Ruf zu Ende ist, weil man da ist, wohin es einen gerufen hat. Und man schaut umher und sieht so viel Grün in all seinen Schattierungen, ein Grün, das sich hervortut unter den Wolken, die letzten Wolken sogar vertreibt und weil es sich so vertraut anfühlt, dieses Grün zu sehen und mehr noch, es unter den Füssen zu haben, kommt man nicht umhin zu lächeln. Denn wenn es also so ist, dass der Ruf zu Ende ist, dann bedeutet das, dass man wieder da ist; an dem Ort, der zu einem gehört und an dem Ort, zu dem man selber auch gehört.
Dann lächelt man also und sucht das passende Wort für diesen Ort und freut sich über den Reim, aber sucht dann weiter und man lächelt noch mehr, strahlt sogar, lacht auch laut vor Freude und etwas Schalk, weil man es gefunden hat, das Wort. Und man lacht weiter, ganz laut und sogar immer lauter und ist froh, dass man ihn wieder gefunden hat, diesen Ort, wieder hierher gefunden hat, nicht nur das sondern auch ein Wort gefunden hat für ihn, diesen Ort und denkt für sich, zum Glück bin ich gefolgt, diesem Donnern und Grollen, das mich ereilt hat, zum Glück bin ich gefolgt diesem einen Ruf, diesem Ruf nach Heimat, zum Glück.

Rebecca C. Schnyder, 1986 in Zürich geboren, lebt und arbeitet als freie Autorin (Drama/Hörspiel, Prosa) in St. Gallen. Für ihre Arbeiten erhielt Rebecca C. Schnyder mehrere Auszeichnungen, unter anderem den «Preis für das Schreiben von Theaterstücken» der Schweizerischen Autorengesellschaft, den Jurypreis am Autorenfestival SALZ! am Theater Lüneburg, den Publikumspreis am Autorenwettbewerb der Theater Konstanz und St. Gallen und zuletzt den Förderpreis der St. Gallischen Kulturstiftung. 2013/2014 war Rebecca C. Schnyder Teilnehmerin am Dramenprozessor am Theater Winkelwiese in Zürich und wurde mit «Alles trennt» zum Heidelberger Stückemarkt 2015 eingeladen (verteten durch Hartmann&Stauffacher Verlag). Seit Februar 2016 ist der Debütroman «Alles ist besser in der Nacht» im Buchhandel erhältlich (Dörlemann Verlag, 2016, Zürich).

Dana Grigorcea «Marieta»

Marieta war eine feine Dame aus Bukarest – Anwältin, wie ich von meiner Grosstante wusste –, und sie besass eine Ferienwohnung, Zaun an Zaun mit uns. Als ihr Mann erkrankte, erbarmt sie sich seiner, obwohl er sie ein Leben lang belogen und betrogen hatte. Das vertraute Marieta der schönen Frau des Zwerges an. Sie verliess also alles und zog mit ihrem Mann in das Ferienhaus hier „an der frischen Luft“. Sie war ihm ergeben, wie das ganze Leben schon, und bestand darauf, ihn ganz allein zu pflegen. „Eine junge Pflegerin ist das letzte, was wir jetzt brauchen“, sagte sie ihm.
Man sah sie im Salatbeet und bei den Kartoffeln, mit grosser Sonnenbrille und Hut, oder dann Tee trinkend, Sessel an Sessel mit ihrem Mann, an sonnigen und nicht ganz so sonnigen und dann schattigen Stellen im Garten; sie setzte die Rattansessel um, fast schon stündlich, „ein bisschen Abwechslung braucht man im Leben“, sagte sie ihm. Einmal die Woche fuhr sie in die Stadt, nach Bukarest, um Medikamente zu besorgen, berufliche Anfragen abzulehnen und die Wäsche von einer Haushälterin ihres Vertrauens waschen und bügeln zu lassen – sie schleppte stets einen schrankgrossen Koffer mit sich –, denn sie hatte selber nie einen Haushalt geführt, und auch wenn sie jetzt darauf brannte, solches zu tun, galt es, Prioritäten zu setzen.
Wie schlimm es um ihren prekären Haushalt stand, wurde sichtbar, als ein Baum heranwuchs mitten in ihrer Wohnung.
„Wollt ihr ihn sehen?“ fragte sie jeden, mit dem sie sich am Zaun unterhielt, und sie unterhielt sich liebend gern „am Zaun“, wie so viele Leute auf dem Land, legte sich eigens dafür eine entspannte Pose zu, breitbeinig, den Arm in die Hüfte gestützt, den anderen am Zaun angelehnt: „Schauen Sie bitte nicht auf meine Nägel, ich komme von den Kartoffeln.“
Der Baum sei eines Tages einfach da gewesen, in Kindesgrösse, sie habe ein Dokument gesucht in einer Schublade und dabei so einiges herumgeschoben, den Schrank und einen Kleiderständer, „stellen Sie sich vor“; ob man sich denn mit Bäumen auskenne? Es könnte sich hier um einen Maulbeerbaum handeln oder einen Kirschbaum, ja, zweifellos. Und jeder folgte natürlich ihrer Einladung. Wer hatte das schon erlebt damals, dass ein Baum wuchs in der Wohnung? In einer noblen Ferienwohnung dazu; dass ein Sprössling durchs gewichste Parkett spriesst, „ein Wunder der Natur!“
Auch mich hat sie eingeladen, den Baum zu sehen. „Sprich doch mit ihr“, hatte mich meine Grosstante ermutigt, „sprich einfach mit ihr, dann wird sie dich bestimmt einladen!“ Und so kam es auch. Ich war so aufgeregt und darauf bedacht, den guten Eindruck, den Madame Marieta stetig erwähnte von mir zu haben, weiterhin zu bestätigen, dass ich gar nicht richtig hinschaute, in der dunklen Ecke ihres Zimmers, und vielleicht hätte ich auch so nichts gesehen, bedenkt man, dass ich länger draussen gewesen war, in der Mittagssonne, und es dunkel war im Haus. „Siehst du es?“ fragte sie, und ich nickte erschrocken. Sie lachte und zupfte mich am Arm. „So wie du muss auch ich dreingeschaut haben, als ich es entdeckte.“
Nunmehr hielt Marieta nichts mehr auf dem Rattansessel, so ganz ohne ihren Mann; immer öfter stand sie auf und ging ins Haus, um nach dem Bäumchen zu schauen. „Was meinst du, dass es ist?“, soll sie ihren Mann öfters gefragt haben, aber der gab keine Antwort, und Marieta soll ihm da seine Krankheit verübelt haben, zumindest soll sie der schönen Frau des Zwerges gesagt haben, dass sich ihr Mann eine zu ihm „allzu passende“ Krankheit gewählt hatte, eine, die seine Charakterfehler als körperliche Gebrechen weiterführe. Und dennoch war sie ihm weiterhin treu ergeben und bereit, alles mit ihm zu teilen.
„Es ist ein Kirschbaum!“ verkündete sie ihm freudestrahlend, ihm und allen Nachbarn, und sie sprach von „unserem Kirschbaum“ und streichelte die lahme Hand ihres Gatten und setzte ihn im Garten um, beim kleinsten Windstoss setzte sie ihn um; und diese Geschäftigkeit liess sie sehr jung wirken – wie alt mochte sie damals gewesen sein? Ich weiss noch, wie ich ihre Kleider schön fand, geblümte Petticoats, wie man sie in ihrer Jugend getragen hatte, mit Punkten oder farbig bedruckt mit Obstmotiven. Die Madame lachte und war sehr vergnügt; sie habe es eigentlich im Gefühl gehabt, dass es ein Kirschbaum werden würde, ein Kirschbaum! Man stelle sich das vor!
Und dann beschloss die Madame, eine Lücke zu schlagen ins Dach, damit der Baum Licht bekomme und gut wachsen könne.
Der neue Bauplan wurde so schnell umgesetzt, dass nur wenige Nachbarn etwas davon mitbekamen, das natürlich mit Ausnahme derer, die zum Vorhaben beitrugen, selbsternannte Baumeister, die ansonsten Schichten schoben in der Papierfabrik; es ist nicht klar, wer was zu verantworten hatte, denn die Madame sprach ihren Baumeistern drein, stieg aufs Dach mit einer Küchenschürze über dem Kleid und einem Tuch um Kopf und Gesicht, wie eine Beduinin sah sie aus, und hämmerte mit, genau dort, wo andere gerade aufgehört hatten zu hämmern.
Und als alles fertig war, hatte der Baum Licht und Raum. Aber nach einigen Wochen stürzte das Dach ein. Es stürzte ein mitten in der Nacht, über Marietas Mann, den man aber wieder ausgrub und der ausser ein paar Kratzern keinen Schaden genommen hatte, zumindest dem Anschein nach, weil er wegen seiner Krankheit, über die man nichts Genaues wusste, ohnehin kaum sprach und meistens nur benommen lächelte.
Der Kirschbaum brach zwar entzwei, aber er wurde zusammengebunden, und bei dieser Gelegenheit auch gepfropft von der schönen Frau des Zwerges. Ich sah das Bäumchen zwischen den Trümmern, endlich sah ich es, und es mag wohl eine Verklärung der Erinnerung sein, dass ich es in der leuchtenden Abenddämmerung sah. Seine Ästchen glühten verheissungsvoll, ganz wie die knallroten Baukräne gegen den Bukarester Himmel.
Die Nachricht vom Dacheinsturz schien Marieta nicht aufzuwühlen, ihr Mann und das Bäumchen seien ja wohlauf, das Geschehene ein willkommener Ansporn, um mit der Arbeit anzufangen am ohnehin sanierungsbedürftigem Haus.
Als sie aus Bukarest zurückkehrte, Tage später, berief sie die selbsternannten Baumeister ein und beauftragte sie mit der Errichtung einer kleinen Holzbaracke mit Blechdach, drei Mal so gross wie die winzige Plumpsklohütte im Garten hinter den Salatbeeten, die sie nun ebenfalls hegen wollte. In der neu errichteten Holzbaracke zwängte sie ihre Matratzen und Decken und auch ihren Mann hinein, den sie lachend „Prinzessin auf der Erbse“ nannte. Und dann riss sie das Haus nieder – sie erledigte das fast ganz allein, zu delikat war ihr die Arbeit erschienen, so nah am Bäumchen.
Ich sehe noch, wie sie um die staubige Mauer herumlief, eine Küchenschürze über dem geblümten Sommerkleid, und mit einem kleinen Hammer gegen die Backsteine hämmerte; ein leises, unstetes Hämmern, sie hämmerte an alle Backsteine, die noch aufeinander standen, und dann hämmerte sie vorsichtig den Mörtel weg und wusch die Backsteine einzeln in einem kleinen Eimer. Ich mochte diesen Geruch, der sich aus ihrem Hof erhob, zusammen mit dem kalten Staub. Es roch erdig und nass, wie nach einem Frühlingsregen auf dem Land.
Ich begann, Madame Marieta öfter zu besuchen; und sie setzte mich in ihrer Nähe auf einen Campingstuhl, ich hatte eine Tasse Tee in der Hand, und wir führten angenehme Konversationen, worüber, habe ich vergessen, aber sie waren angenehm, und wir lachten viel dabei, denn Madame hatte einen feinen Humor, und ich weiss noch, wie sie damals anfing zu rauchen, insgeheim, beim kleinsten Geräusch aus der Holzbaracke schnippte sie die brennende Zigarette über den Zaun auf die Strasse und nahm kurzerhand ihr Hämmern auf, sie hämmerte leise und mit kleinen Gesten, als würde sie häkeln.
Auch andere Nachbarn kamen vorbei, meine Grosstante oder die schöne Frau des Zwerges erschienen öfter; und sie sassen auf den Campingstühlen und tranken Tee, während Madame leise weiterhämmerte und jede von Zeit zu Zeit angebotene Hilfe auf ihre sanfte, aber strikte Art ablehnte, „das ist doch nicht viel, ihr macht euch nur schmutzig.“
Irgendwann, und das unerwartet, war das ganze Haus weg und der Hof so geräumig, wie man es nie vermutet hätte.
Und Marietas Mann, der anfangs noch auf einem Sessel im Garten sass oder mit vorsichtigen Schritten zum Plumpsklo ging hinter die Salatbeete, kam gar nicht mehr heraus aus der Baracke. „Bleib drin, Lieber“ hatte ihn die Madame all die Jahre gemahnt, „wir haben hier überall eine Baustelle.“
Weil man ihn nicht mehr sah, vergass man ihn; die Erinnerung an ihn kam erst auf, als sich die Madame eine Heizung in die Baracke einbauen liess, nachdem ihr Mann im langen Winter zuvor so gefroren hatte, dass, ihrer Aussage nach, seine Finger und Zehen zunächst blau geworden und dann schnell abgefallen seien.
Hierzu muss ich sagen, dass ich die Madame nur in den Sommerferien erlebte und jeden Sommer nach der Fortsetzung ihrer Geschichte verlangte, so dass manche zum Zeitpunkt des Erzählens weiter zurückliegende Details der Geschichte – wie die mit den schnell abgefallenen Fingern und Zehen – weniger bannten als unmittelbar Erlebtes, etwa Madames kluges Verhandeln mit den Baumeistern um eine Heizung, die sie am Ende fast umsonst bekam.
In jenem Sommer war der Kirschbaum schon an die zwei Meter hoch gewachsen, und wir tranken unseren Tee auf den Campingstühlen in seinem Schatten, Madame Marieta, meine Grosstante, die schöne Frau des Zwerges und ich. Beim kleinsten Windstoss rauschten die Blätter wie Schellenringe. Marieta rauchte und liess dann die Hand mit der brennenden Zigarette hinter die Rücklehne hängen, eine Geste, die mir als Pubertierender ungemein imponierte. Beim Weggehen waren sich meine Grosstante und die schöne Frau des Zwerges stets darüber einig, dass Marieta eine feine und besonnene Frau war, wie es kaum noch welche gebe.
Ein oder zwei Jahre später zog Marieta nach Bukarest. Sie kam nie wieder zurück, ich glaube, ihr Mann war gestorben. Ihr Neffe zog hier ein dreistöckiges Ferienhaus hoch.

Dana Grigorcea, geboren 1979 in Bukarest, studierte Deutsche und Niederländische Philologie in Bukarest und Brüssel. Mit einem Auszug aus dem Roman «Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit» wurde Dana Grigorcea in Klagenfurt beim Ingeborg Bachmann-­Wettbewerb 2015 mit dem 3sat-­Preis ausgezeichnet. Ihr Erstling «Baba Rada. Das Leben ist vergänglich wie die Kopfhaare» ist im Oktober 2015 ebenfalls im Dörlemann Verlag neu erschienen. Nach Jahren in Deutschland und Österreich lebt sie mit Mann und Kindern in Zürich.

«Die Dame mit dem maghrebinischen Hündchen» auf literaturblatt.ch

Dana Grigorcea liest am 3. November im Theater 111 in St. Gallen mit dem Musikerduo «Stories»!

gezeichnet von Lea Frei am Wortlaut-Literaturfestival St. Gallen 2018