Jane Wels
 „Sandrine“ von Jane Wels
 (Auszug aus dem Manuskript)

Sandrine. Notate.
Nicht-lineare Erinnerungen eines weiblichen Ichs

„Man kann nicht ohne Liebe lesen. Wenn man schon zuvor ein Bild von einem Text hat, dann weist man ihn ab.“ Hélène Cixous



Ihr Atem ist so leise wie ein Hauch Gänsedaunen. Jetzt, da die Zeit in stehenden Gewässern friert, kann sie die kommenden Verwerfungen spüren. Sie schrauben sich um eine gedachte Achse. Das Gefühl dazu findet sich an keinem Strang. Wie ein Fresko legt es sich auf die Haut. Schicht um Schicht, feucht vermalte Erstarrung.



Erste Texturen falten sich auf. Bislang stets scharfe Umrisse geben die Konturen frei. Eine Art Vorgebirgszone legt sich vor ihr aus, deren Mitte sich ins Freie wölbt, ein Eigenleben führt. Sandrine könnte eine jede sein. Ihr Tagwerk rutscht ins Monochrome ab. Endlos verschleifen sich die Tage, verkürzen sich. Drehen sich nach ihr um.



Paris. Die weiße Wohnung an der Île de la Cité. Je ne suis pas là, ma chère. Die Zeit streckt ihre Fühler aus. Eine Nummer wählen. Dem Rauschen zwischen den Freizeichen lauschen. Laufmaschig zum Quai de Montebello. Taxi!



Rückwärts. Der Steg über den Main. Wasser, das über das Geländer greift. Wände, die auf Tuchfühlung gehen. Flashbacks. She’s like a rainbow. Keine Schonung überdeckt das Danach: Stoßkanten, Risse und ein Verlust, der keiner ist.



Vorwärts. London. Chalk Farm Studios. You are so funny! Stay like this. Peking Duck bei Mr. Chow. Teppiche sind Tagebücher. Sie dämpfen die Gegenwart, mischen sie mit Staub und dem Schlaf der anderen. Abflug.



Französische Provinz. Sandrine inmitten einer Herde Maneches. Waagerecht langgezogene Pupillen, schwarze Köpfe. Sie mischt sich ins wollige Feld: offenporig, körperlos. Voilà.



Zurückspulen. Germersheim. I take you to the backside of the moon. Brachlandig liegen. Furche an Furche. Gleichschaltung zweier Wesen. Augen auf! Es gibt immer ein Dazwischen.



Vorspulen. Zeit ist ein Hüpfspiel. Himmel und Erde, dazwischen Störstellen und haufenweise Glück. Sandrine ist nicht der Diminutiv von Alexandrine.

Jane Wels «Schwankende Lupinen», edition offenses feld, 2024, 80 Seiten, CHF ca. 27.90, ISBN 978-3-7597-2115-0

Jane Wels, 1955 geboren in Mannheim, Magister-Studium der Erziehungswissenschaften, Entwicklungspsychologie und Medienwissenschaften, 1989 erste Lesung im Heine-Haus Düsseldorf, 2024 Debüt mit „Schwankende Lupinen“, Hrsg. Jürgen Brôcan, edition offenes feld, diverse Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften,  Anthologien und Online-Magazinen.

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Rezension zu «Schwankende Lupinen» auf literaturblatt.ch

Walter Fabian Schmid «Die Lost Places zucken noch»

TOKAMAK 

Du hast unseren Frieden in den Vorhof
gepflanzt. Abgesteckte Beete. Wie Kammern,
aus denen unbekannte Namen flimmern. 

Wir Auferstandenen steigen weiter und weiter auf. 

An den Rändern schwarzer Löcher verglühen
unsere Herzen. Nur Plasma. Energie
für unsere Kinder, die nie mehr kommen.
Die nie diese Wärme spüren. 150 Millionen
Grad. Gemessen in der Zeit,
die wir als Menschen verbrachten.

 

AUCH TOURISTEN VERSTRÖMTEN WÄRME 

Im Sonnenbrand der Winteräpfel
warfen die Meere Blasen,
verbrühten die Gletscher und
verdampften an der Himmelskruste. 

Wir sassen in unseren Autos
und bestaunten die Feuer. 

»Was für ein Postkartenmotiv!« 

Auf halbem Weg ging die Sendung verloren.
Auch unsere Restsouvenirs gingen zu Bruch. 

Tollpatschig fielen die Felswände um.
Berge besuchten uns öfter
im Tal. Die Gäste fuhren schon früher
mit E-Bikes dem Sturz entgegen. 

Im Winter legte sich Frost
über das Magma. Ein roter
Spiegel voller Risse,
die blicken liessen
auf die eingeschmolzenen
Feldspaten abgewanderter Bauern. 

 

WIR TRUGEN DÜNNERE HÄUTE 

Seen schwitzten das Klima aus.
Wälder nur qualmende Stummel. 

»Wer verträgt schon diese Gluten?«

Sommerfrischler bestiegen ausgekühlte Halden.
Ihr Schweiss schwemmte Fahrbahnen frei
für Aschetransporter. »Feinstes Karbon!« 

Die Staublungen der Erdhörnchen keuchten.
Schwer scharrten sie alte Apparate aus.
iPhones auf Stand-by. Ein Beistand
für grausame Bilder. 

Wir zählten die Baumringe unter den Augen,
als die Schattenseite der Äpfel schon brannte. 

Die Luft trug einen reizenden Feststoff
aus und wir schlüpften in dünnere Häute.

 

MAN HÄNGTE UNS EINFACH SO AB 

In unseren Stuben lagen die
Leitungen blank. 

Aus Dielen rieselten Schritte.
Wege, die sich wie Frassgänge
in unser Holz gekerbt hatten. 

Erinnerung legte sich
nur noch den Tieren in die Instinkte. 

Dem Marder, der nach den Kabeln schürfte,
um am versiegten Stromfluss zu lecken.

Vom Berghang rollten
verlorene Echos, krochen durch
Röhren unserer Fernseher,
die niemand mehr reparierte.

Abgehängt hinterliessen auch wir
nur die hellen Flecken auf der Tapete.

 

WIR WURDEN ZU STAUB,
AUS DEM WIR UNS MACHTEN 

Im Herbst kam den Feldern
das Suppenkraut hoch. 

Mit schiefem Kreuz
humpelten Alte zur Kirche. 

Der Mief holte sich noch einmal Luft
von entlaufenen Kindern. 

Wir aber waren schon abgefahren
mit unseren Zweitaktern und
holten die Auferstandenen
unmöglich ein.

 

(Die wiedergegebenen Gedichte sind aus «Die Lost Places zucken noch», edition offenes feld. Dortmund 2023.)

Walter Fabian Schmid, geboren 1983 in Regen, ist Schweizer und Deutscher und lebt im Kanton Bern. Er studierte Diplom-Germanistik in Bamberg, arbeitete als Redaktor, Literaturvermittler und Texter. Er erhielt den Calwer-Hermann-Hesse-Preis 2010 als Mitredaktor der Literaturzeitschrift poet, war nominiert für den Leonce-und-Lena-Preis 2011 und 2015 sowie den open mike 2014 und den Dresdner Lyrikpreis 2020. Gemeinsam mit Tristan Marquardt gründete er die Lesereihe meine drei lyrischen ichs.

Beitragsbild © Sascha Kokot