Ruth Geiser «Stehvermögen» – Scheinheilig 4

Lukas trottete durch den nassen Schnee zur Schule. Schon durchlöcherten fette Tropfen den frisch gefallenen Schnee.
Lukas hatte ein flaues Gefühl. Mathematik stand zuerst an.
Letzte Nacht hatte er von einem Lager geträumt, in dem Menschen mit mathematischen Formeln gefoltert wurden.
Das milde Lächeln auf den Lippen des Mathelehrers, als er Lukas den Test zurückgab, liess nichts Gutes ahnen. Ohne das Resultat anzuschauen, stopfte Lukas die Klassenarbeit in die Mappe und beugte sich wieder über sein Heft.

Am Mittagstisch sagte Mutter mit faltiger Stirn zu ihm: „Wir müsssen reden!“ Lukas duckte sich über den Teller. Bestimmt wollte sie wissen, was er in Mathe geschrieben hatte.
Sein Brustraum wurde freier, als sie sagte: „Du musst heute unbedingt aufräumen. Wie dein Zimmer aussieht, ist mir egal, aber im Wohnzimmer und auf der Treppe möchte ich mit der Weihnachtsdeko beginnen, und ich will nicht erst deinen Mist wegräumen.“
„So, so, wenn ich etwas hinlege, ist es Mist und wenn du dasselbe tust heisst es Deko!“ sagte Lukas und fühlte sich schlagfertig. Aber im Grunde freute er sich auf Weihnachten mit allem, was dazugehörte.

Lukas konnte stundenlang auf dem Teppich liegen, einer Figur nachsinnen und davon träumen, wie sie sich durch die Welt schlug. Früher mochte das einer seiner Zinnsoldaten sein oder Superman persönlich. Heute suchte er sich erwachsenere Figuren im Internet oder in einer Zeitschrift aus.

Und plötzlich kam ihm Josef in den Sinn und blieb, ja der Josef von der Krippe. Lukas wollte ihn verscheuchen. Biblische Figuren mit ihren Problemen und Sorgen, das war ihm nicht geheuer.
Aber Josef war nicht wegzudenken, er blieb und stellte sich, soweit es seine wallende Kleidung erlaubte, breitbeinig auf und fiel in eine Klage.
„Ich weiss nicht, warum ich hier mit von der Partie bin. Maria hat jetzt dieses Kind auf die Welt gebracht. Vorher wäre es ein starkes Stück gewesen, sie zu verlassen.
Aber jetzt ist das Baby da, dessen Vater ich nicht sein kann und alle behandeln mich so höflich und betonen, was für ein grossmütiger Mensch ich sei. Aber hinterrücks reissen sie Witze und lachen über mich: „Ein Kuckuckskind! Und dieser Josef tut so als ob es sein Augapfel wäre!“
Meine Nächte werden in Stücke gerissen durch Geplärre und überall ist dieser Gestank der schmutzigen Windeln.

Tagsüber dauernd Besuch und Jesus hier und Maria dort. Ich weiss nicht, Lukas, ist dir schon mal aufgefallen, Maria sitzt neben der Krippe, das Jesuskind liegt im warmen Heu, die Schafe ruhen überall mit angezogenen Beinchen. Nur ich stehe und stehe und stehe mir die Füsse wund!
Zum Glück habe ich meinen Stab, an dem ich mich aufrecht halten kann. Aber auch der bietet mir keine Sitzgelegenheit. Gestern, wie ich so übermüdet an ihm hänge, fiel mir noch etwas auf, Lukas! Ich bin der Einzige in meiner Familie, der nicht heilig ist!

Wenn ich ein bisschen mehr Energie hätte, würde ich mich aufmachen und unverzüglich in meine Zimmerei zurückkehren.“
Lukas glaubte sich zu erinnern, dass der Josef der Krippe, die an Weihnachten unter dem Baum stand, sehr wohl einen Heiligenschein hatte, aber er mochte dem klagenden Josef nicht widersprechen. Nicht, bevor er die Sache gegoogelt hatte.
Google wusste es natürlich.

Josef wurde nie offiziell heilig gesprochen, aber im Jahr 1870, als das Bewusstsein der Arbeiterschaft erwachte, machte auch der Vatikan sich Gedanken über die wachsende Bedeutung dieser Schicht. Arbeiter waren in der Heiligen Schrift rar. Das machte die Geistlichkeit ratlos. Schliesslich wurde dem Papst zugetragen, dass Josef ein Zimmermann und damit ein Arbeiter war!
Er wurde stracks zum Schutzpatron der Gesamtkirche gemacht und von diesem Zeitpunkt an, wurde er konsequent „der heilige Josef“ genannt.

Für Lukas gestaltete sich diese Sachlage schwierig. Wie sollte er Josef Trost zusprechen, wenn er tatsächlich tausendachthundertsiebzig Jahre auf eine angemessene Stellung hatte warten müssen und diese ihm auch nur gewährt wurde, weil die Zeichen der Zeit dazu drängten?

Bei ihrem nächsten vertraulichen Treffen informierte ihn Lukas Google gemäss über den Stand seiner Heiligkeit.
Er vermied es allerdings eine Jahreszahl zu erwähnen.
Josef runzelte die Stirne und schaute Lukas mitten ins Gesicht.
„Lukas, ich weiss, du stehst mit Mathe auf Kriegsfuss, aber du darfst die Zahlen nicht dermassen vernachlässigen!“
Lukas wurde bleich. Er fühlte sich ertappt. Trotzig erwiderte er: „Ich versuche dich zu trösten und du erinnerst mich skrupellos an meine grösste Schwäche.“
Josef lächelte. „Deine grösste Schwäche ist nicht die Mathematik, sondern, dass du dem Leben nicht vertraust.
Du bist ein toller Junge und solltest der Realität ins Auge schauen. Mathe, Zahlen und Prüfungen gehören dazu.
Von meinem Beruf weiss ich, dass Zahlen eine Schönheit haben. Sie sind für die Anmut der Bauten verantwortlich und machen die Musik unseres Universums.“

Während Lukas am nächsten Tag an seinen Hausaufgaben sass und es ganz zufällig Matheaufgaben waren, musste er an Josefs Lob der Zahlen denken und er versuchte etwas von ihrer Schönheit zu erhaschen.
Endlich fand er den Mut, sich mit der Note unter seiner letzten Arbeit zu konfrontieren.
Es war eine 4, das war keine gute Note, aber Lukas hatte Schlimmeres erwartet und war erleichtert.

Heiligabend!

Der Baum war geschmückt, die Krippe ausgepackt und arrangiert, da ging ein Schrei durch die Wohnung. Er kam aus dem Wohnzimmer, wo Mutter mit hängenden Armen stand.
„Was ist los?“
„Josef fehlt!“
„Mach dir keine Gedanken!“ sagte Lukas. „Er wird an seiner Arbeit in der Zimmerei sein.“
Mutter schaute Vater mit einem schiefen Lächeln an und rollte ihre Augen.
Beim Essen piekste Lukas etwas in sein linkes Bein.
Er entschuldigte sich, ging aufs Klo und fand dort, er hatte es geahnt, Josef in seiner Hosentasche. Sein Stab hatte ihn ins Bein gestochen.

„Was machst du hier?“
„Ich brauchte eine Auszeit.“
„Wo ist dein Heiligenschein?“
„Ich musste daran denken, was ich dir gesagt hatte, von wegen der Realität ins Auge schauen und ging dann zu einem Schweisser, der schweisste ihn weg“
„Warum wolltest du ihn loswerden?“

„Ach Lukas, ich dachte mir :
Ohne Heiligenschein bin ich wenigstens kein Scheinheiliger!“

Lukas hielt seine beiden Hände offen wie eine Schale, so trug er Josef ins Wohnzimmer, stellte ihn in die Krippe neben das Jesuskind zwinkerte ihm zu und sagte zu seinen Eltern: „Ich habe Josef auf dem Flur getroffen, er hatte sich eine Auszeit genommen.“

© leale.ch

Ruth Geiser, 1956, Ausbildung zur Primarschullehrerin, ab 1983 Studium an der Universität Zürich, 1984 Diagnose Parkinson, 1989 Abschluss in Geschichte, Anglistik und Europäische Volksliteratur, 2005 Aufgabe der Berufstätigkeit aus gesundheitlichen Gründen. Sie schreibt Gedichte, Kurzgeschichten, sowie autobiografische Texte.

Scheinheilig 1 – 7 sind ausgewählte Weihnachtsgeschichten, prämiert mit einer Zeichnung der Künstlerin Lea Le.

Ruth Geiser „Tschuldigung“ 1

Frau Fichte hatte lange nachgedacht. Sie war daran, ihr Leben zu ordnen. Letztes Jahr war sie 85 geworden. Es war Zeit, sich um die ewigen Werte zu kümmern. Das Jahr neigte sich dem Ende zu. Vorher aber stand Weihnachten ins Haus. Für das Fest der Liebe hatte sie ein besonderes Projekt. Sie suchte nach dem zugehörigen Zettel. In letzter Zeit hatte sie für alles Postit Zettel geschrieben. Heja, mit zunehmendem Alter nahm das Gedächtnis ab. Sie heftete die Notizen an die Türrahmen ihrer Wohnung.
Für den Weihnachtszettel hatte sie rot gewählt, da war sie praktisch sicher. So ging sie von Tür zu Tür und las alle roten Zettel. Zweimal musste sie zwischen den Türen in die Küche zurück, um auf dem Tageszettel nachzulesen, was sie eigentlich suchte.

Schliesslich fand sie den dicht beschriebenen Zettel mit den Weihnachtsdetails. Er war grün. Macht auch Sinn, dachte sie.
Auf dem grünen Postit war eine Liste ihrer amourösen Beziehungen, von der Sandkastenliebe über den Schulschatz, zum Tanzkursverehrer und der Tennisplatzliebe. Danach war sie vier Jahrzehnte mit demselben Mann verheiratet. Sein Name war nicht auf der Liste, aber auf einem Grabstein im Zentralfriedhof.
Dann waren da noch zwei Namen: Ruedi Hugentobler und Ernst Gmünd. Die Erinnerung an diese beiden Herren war etwas verwaschen, dafür stand bei beiden eine vollständige Postadresse.
Frau Fichte wollte an Weihnachten nicht alleine sein. Die Idee war, dass sie eine Art Wiedervereinigung in die Wege leitete. Sie stellte sich vor, dass sie all ihren Liebhabern die Chance gäbe, mit ihr zu feiern. Die Idee kam ihr nach dem ABBA Film, den sie an einem Altersnachmittag im Kirchgemeindehaus gesehen hatte. Klar, der Film war nicht nur voller Lieder, sondern auch mit viel Klamauk und Drama. Das ging natürlich nicht an Weihnachten, aber gerade deswegen war es das richtige Datum für das Treffen. Schliesslich nannte man Weihnachten doch oft das Fest der Liebe.
Verschiedentlich hatte sie sich Szenen ausgedacht. Wer wird welche Rolle übernehmen? Wer ist der unterhaltsamste Erzähler? Wird die Romantik wieder aufscheinen im weihnachtlichen Kerzenlicht?
Sie kramte die Karten hervor. Es waren sechs Weihnachtskarten, wie sie von vielen versandt werden. Nur der Text, den sie entworfen hatte, war eher unüblich, aber für alle Empfänger derselbe.

Mein Lieber
Ich wünsche dir ein ruhiges und besinnliches Weihnachtsfest.
Wenn du magst, komm am Heiligabend bei mir vorbei.
Es gibt etwas Feines. Weder Gans noch Truthahn, aber was würzig Warmes.
Ich würde mich sehr freuen.

Angelika Fichte

Eigentlich wollte sie alle Karten gleichzeitig wegschicken. Sie begann mit den beiden, von denen sie die Postadresse hatte.
Währenddem sie die erste Karte schrieb, lief ihr schon der Speichel im Munde zusammen. Ein Tropfen davon fiel auf den eben geschriebenen Text, genau auf das f von freuen. Das Wort konnte jetzt mehrere Sachen heissen: „reuen“? “treuen“? „leuen“?
„Papperlapapp“, sagte Angelika steckte die Karte in den Umschlag und schrieb die Adresse darauf, dann kam die zweite Karte.
So, genug Büro für heute, ich will noch an die frische Luft, auf dem Spaziergang kann ich gleich die Karten einwerfen.
Sie kramte zwei alte Briefmarken hervor. Spucke hatte sie genug, nahm Schirm und Mantel und machte sich pfeifend auf zum Briefkasten.
Auf halbem Weg realisierte sie, dass sie I have a dream gepfiffen hatte. Sprunghaft und etwas beschämt wechselte sie zu Mama mia.

Am 24. Dezember gegen Abend war eine besondere Stimmung in den Stadtbussen. War es Fröhlichkeit, Feierlichkeit, Erleichterung, Aufgeräumtheit, Versöhnlichkeit oder eine Mischung aus allem?
Ein älterer Mann in gepflegter Kleidung sass ganz vorne mit einem Blumenstrauss auf dem Schoss. Drei Stationen nach ihm stieg ein Mann in ähnlichem Alter zu. Sie verliessen den Bus an derselben Haltestelle. Sie musterten einander beim Aussteigen. Beide schlugen denselben Weg ein. Eine Weile war nicht klar, wer der schnellere war, wer sich überholen lassen würde und wer als erster gehen würde. Als sie vor demselben Haus abbogen und sich auf die Haustüre zubewegten, entfuhr dem einen ein „Eh!?“
Der andere war schlagfertiger und erwiderte: „Auch eingeladen?“
„Ja“, sagte der erste, „aber wohl nicht bei derselben….“, er zögerte… „nicht in derselben Wohnung!“
Aber beim Klingelknopfwählen kollidierten ihre Zeigefinger. Und beide im selben Augenblick: „Tschuldigung!“
Im Lift dann eindringlicheres Mustern und dann schallendes Gelächter. „Bei der Engelhaften!“, schrie der eine halberstickt zwischen den Lachsalven, die sein Zwerchfell strapazierten. „Ja klar unterm Fichtenbaum“, plapperte der andere. In bester Laune fanden sie sich vor Frau Fichtes Wohnungstür, klingelten und warteten.
Darf ich mich vorstellen? Ruedi!“
„Sehr erfreut, ich bin der Ernst.“
Nach mehrfachem Klingeln öffnete sich die Türe ein Spalt und ein grauer Haarbusch war zu sehen. Eine barsche Stimme sagte: „Ich brauche nichts!“
Und schon wollte sich die Türe wieder schliessen. Aber Ruedis robuster Schuh machte das unmöglich. Er hatte jahrelang im Aussendienst gearbeitet.
„Angelika, du hast uns doch eingeladen!“, flötete er durch den Türspalt.
„Und wenn Engel rufen, kommen die Hirten“, schob Ernst nach.
Zögerlich öffnete Angelika die Tür. Schliesslich wimmelte die Welt von Enkelbetrügern. Aber die zwei schienen nicht sehr kriminell.
Als ob sie ihre Gedanken erraten hätten, zogen beide wie ferngesteuert die Einladung aus der Brusttasche. Angelika war beruhigt.
Mit einem unauffälligen Rundumblick erfasste Ruedi die Lage und entfernte sich ein paar Schritte, nahm das Handy ans Ohr und bestellte drei Pizzen.
„Sag mal Angelika, hättest du vielleicht eine Flasche Wein, die ich für dich entkorken könnte? Schliesslich haben wir allen Grund zum Feiern,“ bemerkte Ernst.
„Was feiern wir denn?“ Angelika war noch nicht in Stimmung.
„Es ist Weihnachten und wir haben uns lange nicht gesehen!“, erklärte Ernst mit Engelsgeduld.
Angelika gab ihm den Kellerschlüssel. Ernst kannte die Verhältnisse. Sein Gedächtnis liess nichts zu wünschen übrig. Er kam mit drei verstaubten Flaschen zurück.
Von da an ging’s rund. Ruedi fragte nach etwas Musik und Angelika legte die grössten Hits von ABBA auf.
Sie sangen mit und abwechslungsweise tanzten sie mit Angelika, während der andere das Vokale unterstützte.
Die Pizzen trafen ein, waren lecker und wurden bis auf den letzten Krümel verspeist.
Die dritte Flasche wurde entkorkt.
Die Stimmung ging durch die Decke.
Ruedi schlug das Stripp-Spiel vor. Sie spielten es in der Tanzversion und hatten einen Heidenspass.
Es ging gegen elf Uhr, da klingelte es.
Plötzlich Ruhe. „Kommt noch jemand?“
„Aufmachen Polizei!“
Das klang dringend.
Mit einer lasziven Bewegung nahm Angelika das Tischtuch, bedeckte ihre Blössen und machte auf.
„Tschuldigung!“ Dem Uniformierten versagte die Stimme.
„Geht’s auch leiser ?“
Schallendes Gelächter aus der Wohnung.

„Keine Sorge, wir sind bald durch!“

Ruth Geiser, geboren 1956 von  Roggliswil LU, Ausbildung zur Primarlehrerin, unterrichtete als Primarlehrerin, 1984 Diagnose Parkinson, Studium Geschichte, Englische Literatur und Europäische Volksliteratur, Assistenz bei Professor Schenda, Europäische Volksliteratur, unterricht Englisch und Geschichte an Gymnasien, Fachhochschule und in der Erwachsenenbildung, Aufgabe der Berufstätigkeit aus gesundheitlichen Gründen 2005, schreibt Gedichte, Kurzgeschichten, sowie autobiografische Texte.

Illustration © leale.ch