Margret Kreidl «Hausübungen»

Hausübung

Ein Bild ist kein Vergleich. Schreib diesen Satz
auf den Küchentisch. Dann stell eine rote Tulpe
in eine langhalsige Vase. So wird das Licht
nach oben brennen.

Hausübung

Ein Fenster ist keine Tür. Denk über diesen Satz
vor dem Einschlafen nach. Wenn der Wecker läutet,
steh auf. So wirst du vom Hundertsten ins Blaue
kommen.

Hausübung

Ein Stuhl ist kein Auto. Mach aus diesem Satz
ein Gedicht mit vierzehn Zeilen. Lern es auswendig.
So wirst du immer einen Parkplatz finden.

Hausübung

Ein Tisch ist kein Fisch. Sag diesen Satz
im Stehen. Dann wasch dir die Hände.
So wirst du begreifen, was der Fall ist.

Hausübung

Eine Melone ist keine Melone. Wiederhole diesen Satz
hundertmal. Dann trink langsam ein Glas Leitungswasser.
So wirst du die Kerne vergessen.

Hausübung

Rotwein ist kein Orangensaft. Übersetze diesen Satz
ins Französische. Dann putz dir die Zähne. So wirst du
verstehen, was eine Flasche ist.

Hausübung

Eine Frau ist kein Mann. Schau diesen Satz
so lange an, bis du müde wirst. Dann leg dich
ins Bett. So wirst du wieder zum Kind.

(Margret Kreidl, Hausübungen, aus: Jahrbuch der Lyrik 2019, Hg. von Christoph Buchwald und Mirko Bonné, Schöffling Verlag, 2019)

Margret Kreidl lebt als freie Schriftstellerin in Wien. Veröffentlichungen, zuletzt: «Einfache Erklärung. Alphabet der Träume», Edition Korrespondenzen Wien 2014. Theateraufführungen, zuletzt: gemeinsam mit Marlène Saldana und Jonathan Drillet: «Grinshorn et Wespenmaler. drames patriotiques», hTh Montpellier 2016. Im Frühjahr 2017 erschien in der Edition Korrespondenzen, Wien: «Zitat, Zikade. Zu den Sätzen» und 2018 beim Berger Verlag «Hier schläft das Tier mit Zöpfen».

Margret Kreidl performt zusammen mit dem Jazzduo Stories am kommenden 30. August in St. Gallen im Kultbau. Infos hier!

SRF: Raoul Schrott erklärt Margret Kreidl

„Hier schläft das Tier mit Zöpfen“

Margret Kreidl: Zettel, Zitat,Ding – Gesellschaft im Kasten

 

Micha Friemel «Kompost»

Ich esse Giannas After Eights. Ich war nur zwei Tage weg. Aber wie ich hier sitze, wie ich in der Küche sitze, wie still es hier ist, wie still ich es auszuhalten vermag – so kenne ich mich nicht. Es ist, als sitze hier eine andere.

Gianna hatte mich wie verabredet angerufen. Ich hatte seit ihrer Abreise darüber nachgedacht, was ich sagen würde, wenn es so weit war. Ich mache das oft: Ich spiele im Voraus Varianten durch von Gesprächen, die ich beunruhigend finde.

Als ich in Santa Maria aus dem Postauto stieg, ging ich wie selbstverständlich die Strasse hoch Richtung Umbrail. Ich hatte zur Sicherheit die Adresse gegoogelt. Es wäre nicht nötig gewesen. Als ich da war, erinnerte ich mich.

Ich betrat Madlainas Haus. Ich blieb lange im Flur. Ich betrachtete die Aquarelle, die in einer langen Reihe hingen. Porträts von Bergen. Ich stand vor ihnen, als sei ich eigens gekommen, um sie zu betrachten. Ich hatte kalte Füsse. Die Tür wurde ständig geöffnet. Leute kamen, Leute gingen. Dann kam Gianna, sie nahm meine Hand.

Es tut mir so leid, sagte ich. Immerhin hatte sie keine Schmerzen.
Gianna lachte. Hast du wieder einmal Sätze auswendig gelernt? Komm herein. Ich bin froh, bist du da.

Da war die Stube, wie ich sie kannte. Da war das leise Zurren der Uhr, der Ofen, die Ofenbank mit dem gewobenen Kissen. Mein Blick floh aus dem Fenster. Draussen versammelten sie sich in der Kälte. Die Bäume und Wiesen waren weiss gepudert, dabei war erst September. Auch in Zürich hatte der Herbst sich verabschiedet. So plötzlich, dass man denken konnte, er bringe nur eben ein paar Gläser Eingemachtes in den Keller und kehre dann wieder.

Letzte Woche noch hatten wir im T-Shirt im Garten gestanden. Gianna grub den Kompost um. Sie trug keine Handschuhe. Ich fragte sie nicht, ob sie sich ekelt. Es war offensichtlich, dass sie es nicht tat. Ich ekle mich nicht nur vor Würmern. Ich trage sogar Handschuhe, um Salat zu ernten. Ich hasse die Asseln, die sich unter den Blättern verstecken. Die Schnecken, die Tausendfüssler, im Grunde alle Vielfüssler – die Spinnen und Käfer.

Schau mal, wie hübsch, sagte Gianna und zeigte auf Nester von Schneckeneiern. In der dunklen Erde sahen sie aus wie silberne Perlen. Sie sammelte sie ein und verstreute sie am Wegrand, auf dass die Vögel sie frässen. Ich habe Gianna im Garten nie schimpfen gehört. Nicht einmal im letzten Sommer, als die Schnecken fast die ganze Salaternte weggefressen hatten.
Ich bin sicher, als Kind hast auch du Schnecken und Würmer gestreichelt, sagte Gianna.
Ich kann mich nicht erinnern.
Gianna sagte, das Kompostieren mache sie glücklich. Denk an den Mangold und an die Erdbeeren, die wir bald essen werden.

In der Stube roch es nach Weihrauch. Ich lehnte mich an die Wand. Gianna lehnte sich an mich. Ich mochte Weihrauch nicht, so wie ich früher After Eights nicht gemocht hatte. Beides überwältigt mich, beides ist mir zu viel. Weihrauch zu viel an Bildern, After Eights zu viel an Geschmack. Doch hier in dieser Stube war Weihrauch nicht mehr als Rauch, der entsteht, wenn Harz brennt.

Ich frage mich, was es ist. Warum neben Gianna alles so einfach ist. Sie hielt mir eine Packung After Eights hin und sagte: Zucker, Kakao, Fett, Minze, Salz. Es sind nicht so viele Bestandteile, dass sie dich erschrecken müssten.

Wenn ich früher den Kompost wegbrachte, bemühte ich mich, die Abfälle nicht zu berühren. Ich hatte einen Plastiksack über den Eimer gespannt, den ich beim Entsorgen sorgsam ausschüttete und so faltete, dass meine Finger sauber blieben. Den Sack entsorgte ich danach im öffentlichen Abfall. Ich hätte ihn nie zurück nach Hause genommen. Schon so hatte ich das Gefühl, den Geruch nicht mehr loszuwerden. Ich roch die sich zersetzenden Abfälle noch lange. Einmal beobachtete Gianna mich dabei und sah mich an, als käme ich vom Mars.

Beim Kompostieren letzte Woche hielt sie mir einen Maiskolben hin. Ich begriff nicht, was sie mir zeigen wollte, und wagte nicht nachzufragen. Es war mir peinlich, so wenig vom Gärtnern zu wissen. Hätte der Maiskolben nicht auf den Kompost gehört? Gianna legte ihn auf die kleine Mauer, die unseren Schrebergarten von den anderen trennt. Als sie sich wieder dem Haufen zugewandt hatte, ging ich hin und betrachte den Kolben. Man erkannte noch die einzelnen Kämmerchen der Körner. Sie waren durch filigrane Wände voneinander abgetrennt. Während die Kerngehäuse der Äpfel, ihre Schalen, die Zucchiniabschnitte, die Fenchelstängel, die Kürbiskerne, die Kartoffelschalen sich vollkommen zersetzt hatten, war der Maiskolben in Form geblieben. Ich war sonderbar berührt.

In der Stube war es ruhig. Viel ruhiger, als ich es mir hatte vorstellen können.
Die Katze ist anders als sonst, raunte Gianna. Sie sass einer Statue gleich auf dem Stuhl neben der Tür, inmitten des Gedränges. Normalerweise flieht sie vor den Menschen.

Madlainas Sarg war schlicht. Er war aus Arve oder aus Lärche. Aus irgendeinem Nadelholz jedenfalls. Innen war er wattiert und mit festem Leinen bezogen. Gianna hatte Madlainas Zöpfe frisch geflochten. Sie hatte sie auch angezogen, ihre Lieblingshose gewählt und ein schlichtes Hemd, darüber die Weste, die Madlaina fast täglich getragen haben soll. Gianna hatte ihr Kornblumen zwischen die Finger gesteckt.

Als ich Gianna in Zürich kennenlernte, war ich neugierig, wo sie herkommt. Wir frotzelten, dass wir uns irgendwann zeigen würden, wo und wie wir aufgewachsen waren.
«Wir besteigen ein Raumschiff und reisen zurück auf unsere fernen Planeten.»
Gianna ist dermassen anders als ich. Bei all dem Vielen, was sie macht, scheinen ihr die Gedanken nie davonzufliegen. Sie kocht. Sie isst. Dann wäscht sie ab. Sie sagt, wenn sie nicht da ist. Sie schimpft, wenn sie wütend ist. Sie spricht mit mir. Sie schaut mich an. Sie sieht mich. Sie ist bei mir. Ich brauchte nicht lange mit Madlaina zu sprechen, um Gianna in ihr zu erkennen. Ich kenne sonst niemanden, der so genau spricht. Sie sind oft still. Aber wenn sie reden, ist es, als genössen sie jeden Vokal, jeden einzelnen Konsonanten.

Meine Familie ist anders: Wir machen immer fünf Dinge zugleich und alle schlecht. Wir sind laut. Wir kommentieren, was wir machen, was wir gemacht haben. Wir sagen etwas und meinen etwas vollkommen anderes. Mein Vater rennt immerzu. Ausser er fährt Rad. Er ist stets besorgt, er könnte das Beste verpassen. Und Mama? Auch sie macht alles zu schnell. Sie verschluckt Worte. Sie führt ihre Sätze selten zu Ende. Als ich Gianna kennenlernte, war mir, als atme ich zum ersten Mal aus.

Während ich Madlaina betrachtete, versuchte ich, meine Hände ruhig zu halten. Da war immer ein Zucken. Ich versuchte, still zu stehen. Ich versuchte, beide Füsse gleich zu belasten. Meine Beine standen ruhig. Nur was mache ich mit meinen Händen? Ich faltete sie probeweise wie zum Gebet.

Ich würde das Aussprechen von Konsonanten auch gerne geniessen.
M-A-D-L-A-I-N-A. Es ist sonderbar, den Namen einer Toten zu denken. Es ist, als hätte etwas den Namen verlassen. Als sei da nur noch ein bleiches Buchstabenskelett.

Der Pfarrer sprach den letzten Segen. In Gedanken legte ich Mama in den Sarg. Meinen Vater. Meinen Bruder. Und mich selbst.

Ich hätte mir gewünscht, die Stille aushalten zu können. Nichts sagen zu müssen. Ich schaffte es nicht. «Sie sieht zufrieden aus.» Danach kniff ich die Lippen zusammen. Ich streichelte Giannas Hand. Ich hörte uns atmen.

Vier Männer in dicken Daunenjacken betraten die Stube, sie hoben den Deckel und verschlossen den Sarg mit dicken Schrauben. Sehr hübschen Schrauben. Jemand schluchzte.

In einem solchen schlichten Sarg will ich irgendwann liegen. (Wenn sich das Sterben schon nicht vermeiden lässt.)

Wir gaben Madlaina das letzte Geleit. Die Kirchenglocken läuteten. Ich ging neben Gianna. Auch auf dem Friedhof stand ich neben ihr. Sie senkten den Sarg ab. Es war nicht meine erste Beerdigung. Aber zum ersten Mal in meinen Leben hatte sie nichts Surreales. Zum ersten Mal floh ich mich nicht anderswo hin. Nicht in den Himmel. Nicht zurück. Da war Holz. Hinter dem Holz lag Madlaina. Da war ein Loch in der Erde. Das Loch war an einer Stelle zu eng. Sie hoben den Sarg an den Seilen nochmals hoch. Einer nahm die Schaufel. Er grub kurz und energisch. Danach passte der Sarg in das Loch.

Gianna löste sich aus meiner Umarmung, sie machte einen Knicks. Sie liess die Lilien aus ihrer Hand aufs Grab hinabfallen.
Ich zog die Handschuhe aus und schüttete etwas Erde auf den Sarg.

Der Tod war hier dermassen beiläufig.

Jetzt mag ich After Eights.

Micha Friemel, geboren 1981 in St. Gallen, hat in Basel Deutsch und Geschichte sowie in Biel Literarisches Schreiben studiert. Heute lebt sie mit Mann und Kindern in Santa Maria Val Müstair. Nebenbei führt sie eine kleine Pension für «kreativen Rückzug» (www.chasa-parli.ch). Mit ihrem Text «Kompost» hat sie 2019 den Schreibwettbewerb Open Net der Solothurner Literaturtage gewonnen. Im kommenden Frühling erscheint ein Kinderbuch von Micha Friemel zusammen mit der Zeichnerin Jacky Gleich bei Hanser!

Beitragsbild © Nina Mann

Daniel Sonder «Liebe Sarah

»

Briefe haben die lästige Eigenart, einem erste Sätze abzuverlangen. Die beiden folgenden Varianten habe ich erwogen und dann verworfen:

(1) Wie du bereits bemerkt haben dürftest, ist ein Mail von mir zu dir gelangt. Ich habe dir geschrieben und soweit wir unseren Wahrnehmungen trauen können, bist du jetzt gerade dabei, es zu lesen.
(2) Noch ist nichts, zumindest, wenn davon abgesehen wird, dass «noch ist nichts» streng genommen nicht nichts ist. Inzwischen jedoch ist auf jeden Fall etwas.

Der Entscheid ist schließlich zugunsten dessen gefallen, was du bisher eben gelesen hast. Zu beachten ist, dass es immerhin um die ersten Sätze eines Briefes geht, der seinerseits ein erster ist von mir an dich. Sätze am Anfang bergen ein geradezu beängstigendes Zerstörungspotenzial. Schlagartig lassen sie Optionsräume von freiheitsrauschender Weite kollabieren zu erbärmlich engen Verschlägen, die auch noch den zaghaftesten Flügelschlag verwehren. Nur sind sie, sofern überhaupt etwas gesagt werden soll, kaum zu vermeiden, die ersten Sätze. Denn – müßig darauf hinzuweisen – Sätze über erste Sätze sind, so sie denn am Anfang stehen, auch erste Sätze.

Dir wird nicht entgehen, dass ich mich ein bisschen winde, bemüht bin, möglichst keine Gestalt anzunehmen, in der Gegend herumschillere und gleichsam zur Gasförmigkeit tendiere. Ich bitte um Nachsicht, da ich ja absolut null Ahnung habe, wie du diesem Brief, der nun real geworden ist, gegenübergestanden hast, solange er bloß als unscheinbarer Keimling im Raume der Möglichkeiten vor sich hindämmerte, d. h. während der Zeitspanne zwischen der Bekanntgabe deiner Mailadresse und jetzt. Restlos offen für mich die Frage, ob du meine Aussage, ich würde dir schreiben, gleich wieder vergessen hast oder seither mit hoher Frequenz deine Mailbox einsiehst, hoffend oder fürchtend, da könnte was von mir drin liegen, oder ob dir die beiden Alternativen gleichwertig sind, du aber neugierig bist, welche eintreten würde, oder ob nicht mal das oder einfach gar nichts. 
Aber genug nun des Herumdümpelns in seichten Gewässern, hinaus aufs offene Meer und hinabgehorcht in die dunklen Tiefen (Schaumkronen an der Oberfläche werden ignoriert, mögen sie auch Inspiration versprechen).

Folgendem Tagtraum habe ich mich neulich hingegeben: zu zweit loszufahren mit dem Auto Richtung Sizilien, Gibraltar, egal, wohin auch immer. Dabei kein Gedanke an die gängigen Zwecke einer solchen Reise. Weder ginge es darum, sich durch Kunst und Kultur beeindrucken zu lassen, noch um das Erleben kulinarischer Höhenflüge und ebenso wenig auch um Faulenzereien am Strand. 
Nein, Ziel wäre das Unterwegssein, das Niemandsland der Autobahnen. Von einer Kapsel umfangen, gleichsam in uteraler Geborgenheit durch die Welt zu gleiten in dieser drin und doch ihrem Zugriff entzogen. Auf sich selbst zurückgeworfen und darin miteinander verbunden zu sein. Sich dann Geschichten zu erzählen, erlebte und erfundene, Debatten zu führen, es eskalieren zu lassen, zu streiten, Einblicke zu gewähren und Ausblicke zu entwerfen, verlegen zu werden, zu lügen und sich dazu zu bekennen, sich zu fürchten, sich geborgen zu fühlen, sich zu berühren (gutesittenkonform – oder auch nicht), zu lachen und zu weinen, Rätsel zu lösen, zu tratschen, zu dösen, zu schweigen, dem anderen vorzulesen, aufschäumendes Cola zum Mund zu führen, den Vorder- oder Hintermann Arschloch zu nennen, Kaffee reinzukippen in verlassenen oder belebten Raststätten und gleich weiterzuziehen, zu fragen, was das alles überhaupt soll etc. – darum ginge es und das ausgedehnt und sich erstreckend, eindringlich und verwandelnd.

Was ist das? Eine Fantasterei, kultiviert und zur Blüte gebracht neulich allein im Auto auf einer langen Fahrt nach Hause. Der Urheber: ein verhinderter Romantiker, dem bisweilen ein Mutschub beschieden ist, der ihn sein Haupt erheben lässt, hinaus über die Schatten werfenden Mauern des Zynismus und der Melancholie. Ein flüchtiges Gebilde zunächst, umlauert von Zweifeln, in labilem Gleichgewicht, am Rande der Auflösung. Jetzt aber zu Papier gebracht, von Sarah gelesen und damit nun auch in ihrem Bewusstsein.
Beizufügen bleibt, dass ich beim Personal dieser Reise an dich und mich gedacht habe.

Zurück in unserer Stadt (ich unterstelle mal, dass es so weit kommen würde) ginge es dann so weiter: Es ist Nacht, schon spät, kaum jemand ist mehr unterwegs. Wir befinden uns auf der Brücke, dort, wo der See in den Fluss übergeht, und haben heiße Marroni dabei. Kalt ist es und der Wind lässt uns die Schultern hochziehen (auch wenn jetzt alles von Frühling labert). Kauend stehen wir ans Geländer gelehnt, schmeißen die Marronischalen in die träge Strömung unter uns und sinnieren darüber, wie weit sie wohl kommen würden, bevor sie der Zersetzung anheimfallen. Dann ein leises Lächeln auf dem Gesicht von einem von uns beiden, das, vom anderen wahrgenommen, auch diesen erheitert, und Augenblicke später, tief in der Nacht, mitten zwischen den Ufern, zwei dunkle Gestalten, durchgeschüttelt von tief entspringenden, machtvollen Eruptionen der Ausgelassenheit – und es war gut, dort auf der Brücke.

Eins wissen wir nun mit Bestimmtheit: Diese Geschichte wird sich so nicht zutragen, aber Unmengen besserer haben noch jede Chance, erlebt statt erzählt zu werden (ich glaube, dass, wenn man sich etwas nur genügend intensiv ausmalt, es sehr unwahrscheinlich wird, dass es so auch tatsächlich eintritt. Es ist, als hätte es durch seine starke mentale Präsenz seinen Seinsanspruch bereits erschöpfend eingelöst. Also sollte man sich hüten, Wunscherfüllungen innerlich vorwegzunehmen – aber wie das?).

Magst du noch, Sarah? Du musst! Denn jetzt kommt noch etwas ganz Wichtiges: Damals im Anschluss an den Film, du weißt schon, habe ich dich wissen lassen, dass ich mir bisweilen unsicher wäre darin, ob deinen Nöten eher sachlich-analytisch, nach Lösungen suchend zu begegnen sei oder ob es nicht viel passender wäre, dich einfach mal in den Arm zu nehmen. Du hast dann entgegnet, dass du umarmt augenblicklich haltlos zu weinen beginnen würdest. Seither, Sarah, möchte ich dich in den Arm nehmen, damit du weinst, so lange und heftig, wie es deiner Traurigkeit gemäß ist. Ich würde dich festhalten, bis dass du ausgeweint hast und nichts mehr zu weinen übrigbliebe. Und dann würden wir ein üppiges Mahl zu uns nehmen und Wein trinken und du würdest mir begeistert von irgendwelchen schicken, zum Kaufe reizenden Schuhen erzählen.

So, jetzt hast du was zu hören gekriegt und ich würde allerhand geben für ein Guckloch in deinem Kopfe mit meinem Auge ganz nahe dran. Denn was weiß ich schon? Gerade mal so viel, dass kein Zweifel besteht, dass ich noch mehr wissen möchte.

Mit liebem Gruss W.

Daniel Sonder, 1952 geboren in Chur, studierte Psychologie und Philosophie in Zürich. Im Anschluss war er viele Jahre in der Softwareentwicklung tätig. Das Schreiben, mehr oder weniger im Verborgenen, beschäftigt ihn schon lange. Mit dem Roman «Der Schönschreiber» tritt er nun erstmals an die Öffentlichkeit. Daniel Sonder ist Vater von drei erwachsenen Töchtern und lebt in Meilen am Zürichsee.

Interview mit Daniel Sonder auf literaturblatt.ch von Urs Heinz Aerni

Andreas Neeser «Mücken»

Manchmal bin ich ausser Haus. Mitten am Tag, eine halbe Stunde, öfter abends, wenn die Mücken tanzen im Schwarm. Ich gönne mir diese kleinen Abwesenheiten, ich geniesse sie mittlerweile ohne schlechtes Gewissen. Ein kurzes Austreten, eine Art Ausgang. Wenn mir danach ist, trete ich aus mir heraus, gehe ein paar Schritte, flusswärts, bis mir leichter wird, oder hinauf zum Waldrand, immer den Mücken nach. Die Nachbarn grüssen mich, als kennten sie mich, und ich grüsse zurück, obwohl sie keinen Namen haben. Früher stand es mir auf der Stirn, von weitem sichtbar, ich ging wie ein Aus-, wie ein Ausserhäusiger, auffallend licht. Längst habe ich gelernt, mich so zu verlassen, dass keinem von uns beiden etwas anzumerken ist, nicht dem Hausherr, nicht dem Spaziergänger. Wir sind absolut unverdächtig, und es stimmt, wir haben eben noch Kaffee getrunken, Wäsche aufgehängt, die Nägel geschnitten, gleich werden wir einkaufen, guten Tag, Frau Martello – und Ihnen? Die Gewissheit, auch dann als der zu gelten, der ich war, wenn ich es nicht mehr bin, macht es mir leicht, aus dem Haus zu gehen, zur Brombeerhecke, über die klingende Kuhweide, ins sumpfige, sirrende Gehölz, wo die Schwärme tanzen bis spät in den Abend, bis weit in den Herbst. Trotzdem behalte ich es für mich, wenn ich so gehe, aus Vorsicht, aus einer nicht zu verlernenden Ängstlichkeit heraus, vielleicht.

Und dann tanzen sie, am Fluss, am Waldrand, zu Hunderten. Etwas grundloses Leichtes lässt sie schweben, lose gewirkte, von innerster Absichtslosigkeit gehaltene Lebenspunkte, dunkles, taumelndes Textil. So tanzen sie, so tanzen sie mir vor. Mehr ist da nicht.

Manchmal erschrecke ich, wenn ich mich auf dem Rückweg durch die Dorfgassen in einem der sauberen Fenster sehe. Ich zögere einen Moment, bleibe stehen. Es ist jedesmal erstaunlich, wie wenig ich auf mich gefasst bin, auf den, der ich immer auch bin, wenn ich von den Mücken zurückkehre. Als schaute ich mich von aussen an, das eigene Haus. Ein unauffälliger Blick auf die unauffällige Fassade. Seltsam, heimzukommen, selbst nach so kurzer Abwesenheit, einzutreten in sich selbst wie in ein Gebäude, und so viele Zimmer, über und über voll mit abgewohntem Leben.

So komme ich zurück, wenn ich von den Mücken zurückkehre. Schritt für Schritt, mit wechselndem Mut, gehe ich auf mich zu. Aber wenn ich über die Schwelle trete, bin ich so voll und so leicht, ich könnte schweben. Und ich seh sie, von innen, ich hör sie, sie singen im Ohr.

Andreas Neeser
«Zwischen zwei Wassern»
Roman
Haymon Verlag Innsbruck 2014

Andreas Neeser, geboren 1964, studierte Germanistik, Anglistik und Literaturkritik an der Universität Zürich. Langjährige Unterrichtstätigkeit an der Alten Kantonsschule Aarau. 2003 bis 2011 Aufbau und Leitung des Aargauer Literaturhauses in Lenzburg. Seit 2012 lebt Andreas Neeser als Schriftsteller in Suhr bei Aarau.
Mitglied von Autor/innen der Schweiz (AdS), Deutschschweizerisches PEN-Zentrum und VAA. Mitglied der Jury für den Franz-Tumler-Preis.
Ein neuer Roman erscheint im Januar 2020 im Haymon Verlag Innsbruck.

Rezension zu Andreas Neesers Mundartliteratur auf literaturblatt.ch

Webseite des Autors

Usama Al Shahmani «Wo die Diktatur beginnt, liegt die Kultur im Sterben – Eine Kindheit zwischen dem Krieg und dem bewaffneten Frieden»

Die Weihnachtsferien sind vorbei. Ein regnerischer Morgen. Die Autos fahren langsam. Ich bin unterwegs zur Arbeit. Auf dem Weg zum Bahnhof Frauenfeld sehe ich Kinder, die in kleinen Gruppen zur Schule laufen. Sie tragen ihre Schulsäcke auf dem Rücken – praktische Taschen mit Reflektoren zur Erhöhung ihrer Sicherheit. Ihre Kleider und ihre Taschen leuchten auf den winterlichen Strassen wie ein Feuerwerk. Die Kinder gehen langsam und sprechen miteinander. Einige von ihnen halten sich an den Händen, vor allem, wenn sie die Strasse überqueren wollen. „Ach, wie schön“, denke ich und erinnere mich an meinen eigenen Schulweg.

Als ich in die Primarschule ging, war der Weg zur Schule schrecklich. Ich versuchte, vor meinen eigenen Schritten zu fliehen. Meine grosse Angst war es, in den Krieg zu geraten; den Krieg zwischen den Kindern. Aus jeder Seitenstrasse stiessen Gruppen von Kindern jeden Alters dazu. War ein Kind, das die anderen nicht kannten, alleine unterwegs, prügelten sie auf es ein. Dieses Spiel hiess das «Krieg-Spiel». Manche Kin- der trugen Stöcke mit sich und schlugen gnadenlos zu, egal wo. Hauptsache war, dass das verprügelte Kind auf die Knie fiel und um Gnade winselte. Mein Mittel gegen diese Angst war es, so schnell wie möglich durch dieses Kriegsfeld zu rennen. Der Weg zur Schule war wie ein Marathon, begleitet von ständiger Angst.

In diesem Jahr wird der dreissigste Jahrestag des Kriegsendes im Irak gefeiert. Ein Krieg, der 1980 zwischen dem Irak und dem Iran begann. Ich war damals in der 4. Klasse der Primarschule. Als er endete, hatte ich meine Matura erst seit Kurzem in der Tasche. Aber mit diesem Ende war der Krieg noch nicht wirklich fertig; es war nur eine Übergangszeit, bis der nächste ausbrach. Zufälligerweise in einem Land geboren zu werden, in dem der Krieg kein Ende nehmen will, ist ein schreckliches Schicksal. Ich gehöre zu einer Generation irakischer Kinder, die keinen friedlichen Zustand erleben durfte. Schon mit sieben Jahren erfasste ich, dass vieles nicht stimmt. Ich wuchs unter dem fürchterlichen Lärm von Bombeneinschlägen und unerwartetem Sirenengeheul auf. Als Kinder rannten wir immer zu den Orten von Schiessereien, um Patronenhülsen zum Spielen zu sammeln.

Bevor Saddam und seine Partei 1979 die Macht im Irak übernahm, wurden Kinder meistens auf der Basis von Ehrlich- und Gerechtigkeit erzogen. Doch die Situation veränderte sich schnell. Vom Beginn dieses Krieges an hielten sich die meisten Eltern meiner Generation bei der Erziehung streng an die Regeln des Regimes sowie an religiöse Vorgaben und Sitten. Alles andere mussten die Eltern verdrängen. So wuchs ich eingekerkert zwischen den drei Mauern der Religion, der Diktatur und der Sitten auf.

Dieser anhaltende Notzustand während der Kriegsjahre gab mir keine Möglichkeit, eine normale Kindheit zu leben. Alles war eingeschränkt; es gab keine freien Räume, auch gedankliche Freiheit war gefährlich. Die Wege der Träume waren steinig oder blieben ganz versperrt. Man durfte nicht davon träumen, sich frei zu machen, irgendwohin zu reisen; fast alles war verboten. Als Kind begriff ich ganz genau, dass ich nie etwas sagen durfte, ohne zuerst an die Folgen zu denken. Diese Angewohnheit schleppe ich immer noch mit mir mit. Jeder Satz will mehrmals reflektiert werden, bevor er den Weg über meine Lippen findet. In der Schule hatte ich das Schweigen und den Umgang mit Ungerechtigkeit und Unterstellung perfekt gelernt. Über alles zu reden, was man dachte, war äusserst gefährlich. Die Angst, dass ich ein Mitglied meiner engsten Familie verlieren könnte, begleitete mich ständig. Immerhin musste ich als Kind nicht arbeiten, tröste ich mich jetzt. Vieler meiner Klassenkameraden waren Strassenarbeiter; einige verkauften an Ampeln Plastiktüten oder Zigaretten, andere putzten die Windschutzscheiben der dort stehenden Autos.

Ich weiss nicht, was aus unserem Mathematiklehrer geworden ist. Er war gross und schlank, hatte eine Glatze und trug eine Brille mit dicken Gläsern. Seine Hemden waren fast immer zu eng. Als Kinder warteten wir ständig darauf, dass ihm ein Knopf wegspickt. Er fragte oft, ob ein Kind arbeite, wenn es die Hausaufgaben nicht richtig gemacht hatte. Er sagte: „Die Strassenverkäufer können gut rechnen, aber nie still setzen.“ Manchmal erkundigte er sich, was unsere Väter arbeiteten, als ob er eine Verbindung zwischen der Leistung eines Kindes und dessen Vaters suchte. Einmal hatte ihm ein Kind unerwartet geantwortet: „Ich habe weder Vater, noch Mutter. Ich habe sie nie gesehen. Sie sind seit Jahren im Gefängnis. Auch Angehörige habe ich nicht.“ Der Lehrer wurde rot, blieb starr. Eine schreckliche Stille erfasste das Schulzimmer der 6. Klasse. Diese Szene werde ich ein Leben lang in Erinnerung behalten. Ich hatte sie auch vor Augen, als ich nach Saddams Sturz 2003 eine Sendung im irakischen Fernsehen sah, in der ein junger Iraker seine Geschichte und das, was mit seinen Eltern passiert ist, erzählte.

Ich lebte damals in einer Holzbaracke, die für Flüchtlinge in einem kleinen Dorf in der Nähe der Stadt Baden (AG) gebaut worden war. Durch das einzige grosse Fenster dieser kleinen Baracke sah man den weiten Horizont und eine mächtige Weide, auf der im Sommer viele Kühe frei herumliefen. Oft habe ich mich vor das Fenster gesetzt und den alten Apfelbaum betrachtet, der die Mitte dieser Fläche füllte. Im Winter war der Ausblick auf diese von weisser Farbe bedeckte Weite betrübender. Drei Schlafzimmer gab es in dieser Baracke, in jedem Zimmer lebten zwei Asylbewerber. Mein Mitbewohner, ein junger Araber, war unerwartet aus der Baracke verschwunden. Mit ihm sass ich oft vor dem Fernseher, vor allem im Winter. Ich verfolgte damals die Nachrichten über den Irak mit grosser Aufmerksamkeit. Ich wollte begreifen, wie dieses Land aus der grausamen Diktatur den Weg zum Leben finden konnte. Die erwähnte Sendung schaute ich mir zusammen mit einem Jungen aus dem Tibet an. Er klagte oft über den Geruch von Cannabis, der aus dem Nachbarzimmer ströme. Seine Bewegungen erschienen mir traurig und lustlos, als ob er auf einem Friedhof wäre. Der kleine Fernsehraum war sein Zufluchtsort. Die Sendereihe erzählte von Menschen, die unter der Autorität Saddams gelitten hatten.

Bis ein 32jähriger Mann, der als Kind sämtliche Familienangehörige verloren hatte, seine Geschichte öffentlich erzählen durfte, hatte es lange gedauert. Das Schicksal seiner Eltern konnte er den Akten des irakischen Geheimdiensts nach Saddams Sturz am 9. April 2003 entnehmen. Dort war das Geschehen von der Festnahme der Eltern bis an bis hin zu ihrer Hinrichtung protokolliert. Seine Mutter war schwanger, als sie mit seinem Vater im Sommer 1981 nördlich von Bagdad bei einem militärischen Checkpoint festgenommen wurde. Die beiden wurden verdächtigt, der politischen Bewegung gegen das Regime anzugehören, was sie auch zugaben. Sie versicherten jedoch, vor einer Weile die politischen Aktivitäten eingestellt zu haben, weil sie sich nur ihrer jungen Familie und dem noch ungeborenen Kind widmen wollten.

Das Militärgericht verurteilte sie dennoch zum Tode durch Hinrichtung. Die Ehefrau ersuchte mehrmals um die Verschiebung der Hinrichtung bis nach der Geburt des Kindes, doch all diese Gesuche wurden abgelehnt. In einem letzten Antrag bat das Paar um einen Kaiserschnitt vor der Hinrichtung. Mit dem Satz «Der Irak braucht keinen neuen Verräter» wurde auch diese Bitte um Gnade für das unschuldige Kind abgelehnt. Am Tag der Hinrichtung stieg der Mann auf das Podest, seine Frau wartete unten. Er wurde erhängt. Als die Frau ebenfalls die Treppe hinaufgegangen war, bat sie ein allerletztes Mal um Aufschub ihrer Hinrichtung bis nach der Geburt des Kindes. Sie war im neunten Monat schwanger. Doch auch diese Bitte wurde nur wenige Augenblicke vor der Exekution abgelehnt. Die Henker zeigten keine Gnade. Die Frau versuchte zu pressen, um so die Wehen und die Geburt zu erzwingen, doch es gelang ihr nicht. Auch sie wurde erhängt. Als sie tot auf den Boden gelegt wurde, öffnete sie sich ihr Muttermund wie durch ein Wunder. Das Kind hatte den Weg zur Welt selbst gefunden. Das war ein Schock für alle Anwesenden. Vor Ort waren ein hoher Offizier mit seinen Mitarbeitern, ein Mann aus der Moschee und ein Arzt, der den Tod verifizieren musste. Der Offizier wollte das Kind neben seiner Mutter schreien lassen, bis es stirbt. Der Arzt und einige Mitarbeiter des Offiziers widersprachen: «Die Strafe wurde dem Vater und der Mutter auferlegt und nicht dem Kind. Dieses Lebewesen kann nicht ohne Gerichtsbeschluss getötet werden.» «Das muss unbedingt geklärt werden», sagte die rechte Hand des Offiziers. Die Beteiligten einigten sich darauf, das Kind einer Person zu übergeben, die mit den Verurteilten nicht verwandt war, bis die Angelegenheit geklärt war. «Wir haben eine Putzfrau im Gebäude», sagte ein Offizier. «Sie arbeitet seit über zehn Jahren hier. Sie ist eine alte Frau, ihr können wir vertrauen. Wir können ihr das Kind geben, ohne eine Erklärung abliefern zu müssen».

Die alte Dame reinigte den blutigen Boden. Sie wickelte das Baby in ihren Schleier und nahm es mit nach Hause. Für sie war es wie ein Geschenk Gottes. Die Frau war Mitte fünfzig und lebte kinderlos mit ihrem behinderten Mann. Sie wohnten in der Nähe des Frauengefängnisses, wo die Hinrichtung vollstreckt worden war. Als dieser Junge, aus dem nun ein erwachsener Mann geworden war, seine Geschichte erzählte, sass seine Ziehmutter neben ihm. Die über achtzigjährige Dame war sichtlich stolz auf ihn und die Art wie er seine Geschichte erzählte. Über diese Sendung wollte der Mann herausfinden, wer seine leiblichen Eltern waren, wer seine Verwandten sind. Als ich das sah, brach eine alte Wunde in mir auf. Ich dachte, dass sie längs verheilt wäre. Aber es gibt Situationen im Leben, die immer abrufbar bleiben. Sie brauchen nur einen kleinen Auslöser, um uns wieder in Unruhe zu versetzen.

Ich sass wie versteinert da und fragte mich, was mir geholfen hat, all diese Grausamkeit zu ertragen. Solche und ähnliche Geschichten habe ich schon als Kind erfahren, sie prägten mein Leben während der Diktatur. Zum Beispiel führte unser Schulweg an grossen Bäumen vorbei, in welchen oft die Leichen von politischen Aktivisten hingen, die von den Sicherheitskräften der Diktatur erschossen worden waren. Wir Schüler hatten grosse Angst, diesen Weg zu gehen. Es gelang mir damals, in zwei Welten zu leben: der Welt der Bücher und der Welt der Gräueltaten draussen. Dank der Lektüren verlor ich die Orientierung nicht und konnte vorwärts gehen in diesen Zeiten des Rückschritts. Die Kraft der Worte half mir, lebendig zu bleiben und gegen den Strom zu schwimmen. Aber auch Lesen war in dieser Gesellschaft, in der ich aufwuchs, keine Alltagsbeschäftigung. Den grössten Teil meiner Kindheit hatte ich in einer kleinen Stadt im Süden des Iraks verbracht, wo es keine Buchhandlung gab – nur einen kleinen Kiosk auf der Hauptstrasse, welcher Zei- tungen und Zeitschriften verkaufte. Bücher kaufen hätte ich sowieso nicht gekonnt, weil ich dafür kein Geld hatte. Ich erinnere mich an die erste Zeitschrift meines Lebens, die ich las, sie hiess „Meine Zeitschrift“. In dieser Zeitschrift wurde der Krieg für Kinder farbig präsentiert und der irakische Soldat als tapferer Held dargestellt, der dem grässlichen Feind gegenübersteht.

Als ich in die Schweiz kam, staunte ich über die vielen Kinder- und Jugendbücher, Buchhandlungen und Bibliotheken und darüber, dass die Leute an der Kasse Schlange stehen, um Bücher kaufen zu können. „Wie bei uns beim Amt des Militärdienstes, wo die Leute den Stempel erhalten wollen“, dachte ich mir.

In meinem Elternhaus gab es ausser dem Koran keine Bücher. Mein Vater war kein Leser, er brachte höchstens ab und zu einmal eine Zeitung mit nach Hause. Das alte Exemplar des Korans hatte meine Mutter mit einem feinen grünen Seidenstoff eingepackt und auf das Wohnzimmerregal gelegt. Man durfte es nicht berühren, bevor man die rituelle Waschung zur Reinigung verrichtet hatte. Gelesen wurde Zuhause nur für die Schule. Bücher lesen war ein gefährlicher Luxus. Lesende, gebildete und intellektuelle Menschen waren für das Regime eine Provokation. Wer die Diktatur überleben wollte, durfte sich nicht von der Masse unter- scheiden. Andernfalls riskierte man sein Leben.

Die kleine Stadtbibliothek hatte nicht nur wenig Bücher, es gab auch kaum Leute, die sie aufsuchten. Für mich war sie trotzdem die Rettung, weil ich dort Lesestoff fand. Ohne sie wäre ich ein anderer Mensch ge- worden. Ich erinnere mich an eine grosse Menge der russischen Literatur und viele arabische Poesie, die ich dank dieser Bibliothek gelesen habe.

In der Schule gab es keine Bibliothek. Bücher zu lesen war ganz fremd. Die ersten zwei Bücher, die wir lesen mussten, erhielten wir vom Regime als Geschenk. Der Hintergrund für dieses Geschenk gründete im Pech meines Schulkameraden Haider. Wir waren in der 7. Klasse als ein Offizier des Sicherheitsdienstes ihn aus dem Klassenzimmer zum Verhör mitschleppte. Das war Anfang Sommer und im Klassenzimmer war es so heiss, dass wir kaum frische Luft bekamen. In der Pause hatte Haider mit seinem Schuh auf einen Kollegen gezielt und unglücklicherweise ein Porträt von Saddam, welches über der Tafel hing, getroffen. Auf dem Porträt sass Saddam auf einem majestätischen Sessel. Ihm hing eine kubanische Zigarre aus dem Mund, welche er mit seinen Fingern abstützte, und er starrte scharf in den Raum – das ganze Schuljahr über. Das Bild fiel auf den Boden ohne kaputt zu gehen. Eine ungeheure Stille trat ein, bis die Schüler wieder zu schwatzen begannen: „Haider hat Saddam mit einem Schuh geschlagen.“ Innerhalb von zwanzig Minuten stand der Schulleiter vor der Klasse und begann zu brüllen. Haider erschrak so fest, dass sein Gesicht aus- sah, als hätte er die Toten auferstehen sehen. Vor unseren Augen schlug der Schulleiter gnadenlos auf Haider ein, dann nahm er ihn mit in sein Büro. Der Schulleiter war gross, seine wenigen Haare waren weiss, selten haben wir ihn lächelnd gesehen. Es gab Gerüchte in der Schule, dass er schon einmal im Gefängnis gewesen sei und man ihn gefoltert habe. „Er benimmt sich wie ein Wahnsinniger“, sagte unser Mathema- tiklehrer, als er die ganze Schule an einem eiskalten Wintermorgen versammelt hatte und die Schüler zu schlagen begann, die an einem Schultag gefehlt oder ihre Fingernägel nicht geschnitten hatten. Der Schulleiter hatte militärische Ordnung und Drill in der Schule durchgesetzt. Er verprügelte Haider, zog ihn an den Haaren hoch und liess ihn auf den Boden fallen. Noch vor dem Ende der Schule kam ein Auto des Sicherheitsdienstes, um Haider abzuholen. Zwei Wochen später kehrte er wieder ins Klassenzimmer zurück. Er war bleich und sprach wenig. Auch wir hatten Angst ihn auszufragen. Meine Mutter hat mir mehrmals ein- gebläut, dass ich nicht neben Haider sitzen oder etwas mit ihm zu tun haben soll. „Wenn ihr euch auf der Strasse über den Weg läuft, musst du sofort die Strassenseite wechseln“, sagte mir mein Vater mit erhobener Stimme. Auch seine Augen wurden mit jedem Wort grösser mit dem er den Satz vervollständigte. Der Schulleiter und einige militärisch gekleidete Männer begleiteten Haider bei seiner Rückkehr ins Klassenzimmer. Letztere trugen glänzende Pistolen, und ihre Schuhe waren so schön sauber und poliert, dass sich ihre Gesichter darin spiegelten. Einer von ihnen, vermutlich der Chef, sagte zu uns, dass wir gute Schüler seien und den Führer und die Partei gerne hätten. Danach hielt ein anderer eine lange Rede, und jedes Mal, wenn unser Schulleiter klatschte, mussten auch wir klatschen. Am Schluss verabschiedeten sich die Männer bei jedem Schüler per Händedruck. Wir standen auf. Ich spüre immer noch den Druck ihrer Hände auf meinem Handballen. Sie übergaben jedem Schüler zwei dünne Bücher. Das eine trug den Titel „Lebe lang Generation der Partei“, das andere „Die Helden des Vaterlands“. Wir sollten diese zwei Bücher lesen und darüber einen Aufsatz schreiben. Mit diesem Auftrag verliessen diese Männer unser Klassenzimmer, Saddams Blick aber entmachtete uns weiter.

Die Lektüre von Büchern gehörte in der Primarschule und der Oberstufe nicht zum Alltag. Das änderte sich im Gymnasium, wo es eine kompakte, kleine Büchersammlung gab. Hin und wieder kamen Leute vom Geheimdienst, um die Bibliothek zu durchsuchen. Jedes Mal gingen sie mit einigen Büchern in der Hand wieder hinaus. Die Lücken in den Bücherregalen füllten sie mit Exemplaren, die Saddam und die Partei rühmten. Von diesen Büchern, die in grosser Zahl gedruckt und kostenlos an Schulen verteilt wurden, gab es Hunderte. Sie handelten von der arabischen Nation und ihren Feinden.

Ich erinnere mich noch gut an den Tag, an dem alle Exemplare des Romans von Nagib Machfus „Die Kinder unseres Viertels“ aus den Bibliotheken und Buchhandlungen verschwanden. Ich war damals im ersten Stu- dienjahr und sagte mir: „Diesen Roman muss ich lesen.“ Jedes Mal, wenn das Regime ein Buch bannte, löste das bei vielen den Reiz aus, das Buch erst recht zu lesen. Ich lernte, dass eine Menge verbotener Bücher kopiert wurden und über den Schwarzhandel ihren Weg machten. Man nannte das die „kopierte Kultur“. Es gab Geschäfte in der Nähe der Universität Bagdad, die diese Bücher verbreiteten. Ihre Händler riskierten dafür ihr Leben. Auf fast dunkles Recyclingpapier gedruckt mit einfachem Einband und Buchstaben, die entweder ganz schwarz oder kaum sichtbar waren – so sahen philosophische und literarisch wichtige Werke in dieser Parallelkultur aus; und ich konnte sie mir leisten, denn sie kosteten wenig. Meistens wurde die Titelseite des Buches nicht mitkopiert und man erhielt ein Werk ohne Titel. Freunde von mir hüllten verbotene Bücher in Einbände von Büchern des Regimes ein, um die wahre Identität des Inhaltes zu verbergen. Nach der Lektüre mussten diese kopierten Papiere so schnell wie möglich verschwinden.

„Schwöre mir, dass du diese Kopien nach der Lektüre nicht weitergibst“, sagte mir der junge Mann im Geschäft, bevor er mir das Geld abnahm. „Ja, ich verspreche es“, erwiderte ich und verstaute Machfus’ Buch, das ich ohne Nennung des Autorennamens auf A4-Blättern bekam, in meiner Tasche.

Je älter ich werde, desto intensiver nehme ich Saddams Zeitalter wahr; eine verstümmelte Zeit, die sich in meiner Erinnerung für immer festgesetzt hat.

Am Abend auf dem Heimweg von Kreuzlingen nach Frauenfeld betrachte ich die Weihnachtsdekorationen aus dem Zugfenster. Die Häuser, Strassen und Bäume leuchten hell. Einige Kinder sitzen in meiner Nähe. Sie sprechen mit ihren Grosseltern über die Geschenke, die sie zu Weihnachten erhalten haben. Die Farben ihrer Geschenke harmonieren mit dem Spektakel des Sonnenuntergangs. Die Aussicht über den Säntis, der in Ferne zu sehen ist, ist farbenprächtig. Der Berg trägt eine strahlend weisse Krone inmitten dieses Naturfeuerwerks, als ob auch er das neue Jahr auf seine Art und Weise feiert. Eines der Kinder zieht ein Buch aus seinem Rucksack heraus und fordert die Grossmutter auf, ihm daraus vorzulesen. Die Dame, sie muss über siebzig Jahre alt sein, beginnt zu lesen. Immer wieder hebt sie ihren Blick immer unter ihrer filigranen Brille, um ihr Enkelkind anzuschauen. Ich lausche still, wie sie die Geschichte vorträgt, genauso wie mir meine Grossmutter damals Geschichten erzählte. Sie hatte nie Schreiben oder Lesen gelernt, dafür konnte sie umso besser erzählen. Die Schichten ihrer traurigen Erzählungen wurden in ihren feinen Humor gewickelt und waren wie ihre köstlichen, gefüllten Weinblätter dicht und sättigend. Jede dieser Geschichten, die ich als Kind erzählt bekam, hat nicht nur meinen Geist geprägt, sondern auch meine Seele beeinflusst. Sie wa- ren für mich der erste Geistöffner oder Wegweiser, der in Richtung Hoffnung gezeigt hat.

Usama Al Shahmani, geboren 1971 in Bagdad, und aufgewachsen in Qalat Sukar (Al Nasiriyah), hat arabische Sprache und moderne arabische Literatur studiert und im Irak mehrere Bücher über arabische Literatur publiziert. 2002 kam er als Flüchtling in die Schweiz. Heute arbeitet Usama Al Shahmani als Autor, Kulturvermittler und Dolmetscher, und er übersetzt deutsche Literatur ins Arabische, u. a. «Fräulein Stark» von Thomas Hürlimann, «Der Dichter am Bahnhof» von Ivo Zanoni, «Der Islam» von Peter Heine und «Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern» von Friedrich Schleiermacher. Er lebt mit seiner Familie in Frauenfeld. «In der Fremde sprechen die Bäume Arabisch» ist sein beim Limmat Verlag erschienener Roman.

Im Mai 2019 erhielt Usama Al Shahmani einen Förderbeitrag des Kantons Thurgau. Er arbeitet an seinem nächsten Roman: „Im Fallen lernt die Feder fliegen».

Rezension von «In der Fremde sprechen die Bäume arabisch» auf literaturblatt.ch

Elisabeth Wandeler-Deck «Visby, Coda, aus Teil a»

Wo, von hier aus 

gesehen, liegt Gotska Sandön, die Gasse, leer, ohne Mensch nicht wahr, menschenleer, da hin, die Aussicht, sommerweise ein Kunst zu fliehen, so das Licht, jetzt, ein kalter Wind geht, mitten im April, so etwas von klarer Luft, murmelt sie und zieht den Mantel über die dicke Jacke, ich denke mir das so aus, dazu vorbeihüpfende Dohle, das Gras liegt vor. Schnappe mir den Satz, so hingekritzelt, kaum hör ich‘s, reihenweise, die reihenweisen Wetterbezeichnungen, die Zimmer, exzerpiere aus dem Merkheft, den Rosinenkönig liegen lassen, eine Kunst, zu fliehen, was gilt, bleibt offen, wie denn, ich studiere die Fensterverschlüsse, während der Morgen noch anhält, besser ein Foto nehmen, davon, mich überliste, ein Huhn schlachte, um den Affen einzuschüchtern, zu betören mich, ich erinnere nicht, woher ich dies habe, keine Gelegenheit greifbar, leider nicht Ort nicht Zeitpunkt, leider nicht Umstände, ohne Traum schlafloses Erwachen im Traumdrin Rot, eine Ordnung Frau in rotem Kleid, dann so, und konnte nichts dran anknüpfen, döste vorwärts zurück, treffe Anstalten. Bin Gast. Sage lampisteries wie oft ich diese Nacht das Signal der Barriere etc. meines Bruders gedacht, wie er in seinem haitianischen Bad, auf dem WC hockend, in Atemnot, grässlicher Hinfall in den Tod hinein als ob ich ein Foto gesehen hätte davon und die liebe Lovely von ihrem haitianischen Ort her am Telefon mon Christian weinend soll das so stehen bleiben mache erneut Anstalten schaue vielleicht nordwärts möglicherweise in Richtung Gotska Sandön kompasslose Situation eines Flurnamens die Uhr geht gegen Mittag wiederhole lampisteries, j’ai perdu le nord füge mich ein. Auch Angstintarsien. Das helle Blau von Sternhyazinthen, einmal auch Leberblümchen erhascht, kaum war ich an der Sommerwohnung vorbei und wieder in der grösseren Strasse. Auch von hier aus, ein Meer, schwarzblau, sammle Blautöne von Blaumeisen möglicherweise Blåtitt Reminiszenz isländischer Blaumeisenerkundung etc. entspräche im Schwedischen dem Ausdruck Blåmes, so Mirjam später, muss nachsehen, lüfte mein Torkelbett führe meine Errundungen weiter einer Grammatik zu etc. um acht dann das Glockenspiel, das ich heut nicht verpassen etc. und geteilter Satz. 

Das reine Vergnügen

liege im „und“; es werde vom „um zu“ bedroht. Da will eine eine Volontärstelle bei der kühnsten amerikanische Feuilletonredaktion. Wie hatte ich das gemacht. Singe dir mein Schleiflied. Sturmdurchtrieben, kann das gesagt werden, eine Sturmdurchtriebenheit erinnern, Regen, ich und ich rasteten im Donners Brunn und sagten es. Mischte kurzfristiger meinen Himmel. Da kommt Herr Östborn, aber nicht doch. Setze Wetter ein, den Wetterschutz also Regenhut etc. „strahlend blauer Himmel“ wir rufen einander zu in „Wiesen blühen“ weisse Sternhyazinthen, von nahem am Weg besehen sind mancherorts manche doch eher Anemonen, ich bin verblüfft zu zweien je ich und ich eine Jahreszeit erstmals und im Rund gesetzte Steine zur Gasse hin halten das Erdreich. Wir sehen Scilla einzeln in grossen Gruppen, Felder beinah bildend, ein Gedränge von Blau, das blaue Blau. Es war eine Frage an Sten, sage ich zu T. oder M. oder L., die blauen Blumen im Gras, die Rosenstöcke überall an den Häusern, im abgetreppten Garten oberhalb der Kathedrale Domkyrkan Santa Maria erinnere die lateinischen Worte den Gesang das Nachhergehen. Gehe spazieren, gehe Kaffee besorgen etc. Kann den Schatten deines Liederschädels an den Hausmauern nicht verkennen Spatzenschwatzen Dohlengeschrei auch Möwen sehr still ist es hier so, dass ein einzelnes Geräusch interessant etc. Um zwei vor dem Kunsthaus, wo die gelbe Bank steht. Vor Wind schützt die Stadtmauer, die Gartenmauer, hoher Bretterzaun, nichts schützt vor Wind, was das Meer herträgt, trennt Land von Stadt die Mauer trennt ist Rand und wiederum Rand die Mauer dem Land zugehörig, Strand und Land, die weissen Sternhyazinthen habe sich dem geübteren Blick als Anemonen bewiesen, picken Dohlen, keine Korrektur, oben neben oben seitlich das „und“ der Wiederholung, schon jetzt, wieder, Elfengalopp über Grün, genauer anzuschauen, was da aufgeblüht etc. will die Stadtmauer, die Adelsgatan, der Südplatz, die Viertelstunde, die Viertelstunde, das Südtor, die Südmauer, das mittlere Tor, die Ostmauer, die Ringeltaube, die rote Bank, die rote Bank, das Cursorspringen, der Zwischenhalt am Schreibplatz, das Reihen am Bildschirm, ähnlich unsern Buschwindröschen, Foto gemacht, wie geht das vor sich, man empfiehlt als Regenhut einen Sonnenhut, keiner benützt hier Regenhüte, lausche dem Carillon lausche, wie das Spielbrett die Glocken zu Klingen, entzückter Stillstand im Frühwind, grüne Brandung, dann Reihen schwarzblau. Aufgeschäumter Wellengang. Reihe das „und“ um. Ziehe den roten Pullover über. Memoriere den Namen der finnischen Schriftstellerin, suche den Wohnort des estnischen Dichters, dessen Namen ich mir aufschrieb, suche das Haus der gotländischen Klavierlehrerin auf, lese Bäckers-, Musikhandelsbezeichnungen, errate den Sinn von Hinweisen, bitte um einen doppelten Espresso, weise auf ein Kardamomgebäck etc. 

Die Adelsgatan geht 

vom Wallérplats zum Söderport und weiter hinaus geht sie, sie geht in angenehmer Weise lange. Das Musikaliengeschäft öffnet um zwölf, es geht gegen elf, ich sehe die Instrumente, da sind sie, die Gitarren. Was ist nun mit Roubaud, Jacques. Sommers, so Sommer, den Insekten lauschen, oder M. auch Luftiges, auch in Gold das Abbild eines Insekts, dies zu Sjöberg, zu Frederik Sjöberg. Einer liebte Schwebfliegen. Er kennt die Arten. Er lässt die Sätze schweifen. Als ob ein Ich ein Ich repräsentierte. Auch Fragen Grammatik eines Entdeckens. Was tun nun mit Roubauds Tokyo hier im Visby, wenn sein Buch in Affoltern liegt. Eine liebte die Grammatik, in ihrem Fall war es die der finnischen Sprache, eine wunderte sich den schwedischen Namen entlang und sprach sie hübsch englisch nach. Was ist ein Satz hier in Visby. Die wichtigsten Einkaufsstrassen sind die Adelsgatan vom Söderport bis zum Wallérplats und die St. Hansgatan, beide jeweils mit überwiegend kleinen Läden, so ca. erinnere ich mich gelesen zu haben, Kleidung, Kunst, Souvenirs, mit Sportartikeln, mit Cafés, Restaurants, Imbissstuben. Weitere Geschäfte finden sich am Österväg ausserhalb der Stadtmauer. Da gehe ich gleich wieder hin, da gehe ich heute gewiss nicht hin, da muss ich diesen Morgen noch hin, bevor der Regen einsetzt, vermutlich der starke Wind etc. da gehe ich dieser Tage wieder hin, gleich muss ich hinaus und hin, eventuell erlausche sie das Glockenspiel, wenn Mittag ist. Morgens um acht Uhr erlausche sie die Klänge des Glockenspiels. Genau lausche sie auf die Klangreihungen abends zur genau täglichen Abendzeit. Mit den Füssen stimmt etwas. So Farhad Showghi. Ich umgehe die Baustelle, wundre mich über das Treiben der Grammatik, nehme den Weg, der innerhalb der Umfassungsmauer so leicht dahinhinkt. Der kleine Mann mit den freundlichen grünen etc. Augen grüsst heute gern Ich gehe niemandem entgegen, was mir dabei entgeht. Hier geht kaum eine vornübergeneigt. Starker Wind geht jeweils. Was ist mit Nennen. Einer Art Strandläufer den Weg abgeschnitten bzw. mit ihm geschritten unten beim Meer, ich auf den Kieseln, er in der Wiese unter den laublosen Bäumen. Nein, keine Elster, könnte sagen elsterfarbener Strandgänger, so Namen gebildet im Namenlosen meines Unwissens, möglicherweise weiterhin etc. Foto eines ebensolchen Strandläufers gefunden ein Bewohner der Galapagosinseln wie das wie wer wohin etc. Nichts von Scharen und kein Gedränge, vielleicht in eine andere Wagnis eintreten, so sie etc. einer Zeitverfugung mag sein ein Angebot um zu. Man sehe gerne zu, wie sich der Abend ins Meer also das Spektakel des Sonnenuntergangs geniessen, wir genossen, sommers, die Schau des Sonnenuntergangs, von der langen Bank aus, gleich erheben sich alle wieder, und wenden sich vom sonnenleeren Horizont weg, gehen, gehen, sie gehen stadteinwärts. Man denkt sich halt so manches aus für „und“ tiens ferme mon parapluie und ich lege meine Kleider jemandem auf den Esstisch im Ziegen-, also Zeitenflug Herzenserschöpfungen eines Bruders. Die Schafe hier zu Lande zeichnen sich durch ebenmässig graue Wolle aus. 

Setze Wettermethoden 

ein, bei versagendem „um zu“, täglich eine Alltäglichkeit, wir üben. Uns ein? Quatsch. Täglich eine Stunde üben, so geht die Regel, so geht gehen in passenden Schuhen. In zu den Belägen, den Strassenbelägen passenden, für die gesetzten Steine, die breiten und anstehende, für die kleinen Pflastersteine, für die steilen Treppen passenden Schuhen, weicher Auftritt, federnder Schritt des kleinen freundlichen Manns vom Rand einer Welt, ich muss jetzt, muss gleich weg, schlüpfe in die schweren, leichten Winterschuhe, gerade wieder passen sie, mag ein Kirchgang anstehen auf dieser Insel, finde aufspringende beinah schon Kirschblütenknospen, gelingender Wirrwindversuch, aprilisch, stecke mein Notizbuch weg, sie erkunde die Grammatik, so Kersti Juva in ihrem Falle ist es diejenige eines britischen Sprechens im finnischen und woher denn und was der deutschen Sprache die Vorsilben sind der finnischen etc., heute leicht bedeckter Himmel, kaum Wind treibt triftigen Grund. Sie liebe in Grammatiken, so Kersti Juva wiederum, englischen, britischen, finnischen, nachts, und nachts in jedem Fenster ein Nachtlicht scheint und über die Gasse in die gegenüberliegende Wohnung leuchtet. Das Gewürz eines Ortes entstehe im „und“. Einem Lichtstreifen hinterher, wie Flüstern, „das war einmal“. Vor dem Haus weiden zwei Elstern. Ihr Bau aus harten Zweigen zuoberst eher auf als in der Baumkrone schwingt weit aus im steifen Frühlingswind, während beinah unbewegt die kahlen Äste mit ihren kahlen Zweigen etc. 

Setze Wetter 

um in Methode, wie kann das gehen, wollte in den Morgen hinein schlafen. Car, n’est-ce pas, il pleut. Singe mir deinen Schlingsang, kann deinen Fliederschädel vor den Mauerflächen zwischen den hellen Fenstern nicht erkennen. 

Kaum 

etwas. Kaum noch Helle. Verbliebener Schutzraum flüstern, nicht wahr, nichts, beinah nichts, das Flügelschlagen eines Nachtvogels als ein kleines Rauschen vielleicht Lustgärtlein. Kaum Windstille. Die Luft muss, sagt sie, hier sehr rein sein, von Partikeln entblösst. Luft. Ein Flüstern, kaum noch. Früher Morgen, Sonnenaufgang. Morgenanbruch, kaum, vier Uhr noch kaum. Morgenstille, kaum Stille, nichts beinah, ein Nichts von Stille, wie das sagen, so sie dann gegen Mittag am Hafen. Wetter, sagt sie, was hier Wetter ist, „Wetter“ = „väder“, also hier ausgesprochenes Wetter, Inselwetter in Inselsprache, erschreckt sie (oder M. oder Tommy) dieser Nordwind, kalter Frühling, bodennah bloss, dieser Frühling hier, jetzt, blåsippor ruft sie, überzieht die ganzen Böden, wäre es Waldboden, wären es Leberblümchen, eine Ähnlichkeit postuliert zu Leberblümchen, hüpfender Cursor, Kaninchenkot also die Kügelchen, eine militärische Zone zu betreten fotografisch also vor dem Übertreten eines Verbots etc. dann wieder Scharbockskraut, im Gras, unter ähnlichen, behaupte Ahorn, provisorische Baumbenennung, Cursorblödheiten bewirken aleatorisches Buchstabengewimmel, dagegen die Pflanzennamen zu finden versuchen, mannigfaches Fragen, Erraten, Scilla, warum nicht, Primelgemenge, auch die pelzige Anemone, man hätte ein Feuer entfachen können, wäre hier jemand gegangen, sie postuliert alte Zeiten, in alten Zeiten, ein Mittelalter, eine Vorzeit, Vorfelder im Nachhinein, damaliges, ja, jetziges Jetzt, „und“ „um zu“, wir treten die Kiesel in die Brandung, einen, mehrere, in kleinem Rudel sind wir da und da und da, zwecklos, das Wörterbuch jetzt noch zu öffnen, ruft Wikipedia. Denn gewiss ist nur, dass färöische Wort veður von altnordisch veðr „Wetter, Witterung“ stammt. Die weitere Etymologie ist germ. *wedra-, *wedram „Wind, Wetter“; idg. *uedhro- „Witterung, Wetter“. Demnach ist es mit deutsch „Wetter“ urverwandt. So wanderten wir zu viert in Tarkowskijs Steppengelände beim Leuchtturm herum und sahen Fischer im seichten Wasser stillestehen. Einer erwähnte presque rien eine wusste nichts davon wir lauschten. Versuchten uns in Gegenwarten. Einmal fragtest du mich nach dem Sinn von Wetterworten in meinen Schriften, woraus ich eben vortrage die aufblühenden singenden Nordwinde, flatterte mich, also flatternde Stimmbänder mir gaukelte Gegenwart baumelst mich in Ungewissheiten. Doch diesmal habe ich dir neue Orte gefunden, sage ich zu T. oder M. oder L.,  und es ist anderer Frühling, weisst du, d.h. eher wie bei dir in den Bergen, was meinst du, Zeit. Diese hüpfende seufzende Zeit aus Raum geradeaus Fuss um Fuss gesetzt über asphaltierte Steppenhaftigkeit klirrte meinen Schlüsselbund man stellt hier kleine Lampen auf die Simse und Kommödchen hinter die Fenster zur Gasse und lässt sie die ganzen Nächte an. 

tiens ferme 

apropos sonniges Visby. Habe grad gesehen, wie mein springender Cursor wieder einiges anrichtet. So selbstverständlich ist es nicht, in dieser Jahreszeit ein Kaffeelokal geöffnet zu finden, denn vieles ist jetzt geschlossen, auch manche Restaurants sind zu, auch manche Läden, oder sie öffnen nur am Nachmittag, es ist sehr still, die Menschen sprechen leiser als im Sommer. Die Fähre wird jetzt, sieben Uhr 34, abgelegt haben. Die seufzenden Rahen wie sie sich paarten auf dem Wiesengrund die erregten und nachlässigen Strandläufer und dann piepsten horchte der Vogelsprache zu, lange Horchplauderei, stand im Plauderlauschen, freute mich komparatistisch der aufgeblühten Traubenhyazinthen im Schatten schlief etc. Warum nicht das Heulen der Kettensäge, ich erinnere mich dran, wie es aus dem Wald klang, während wir unsre Instrumente im Haus oberhalb Vira. Die andern verschriftlichten Vokalisen? Vögel? Vielleicht 1 Dohle? Bergdohle? Hier in Visby sind viele, jedoch nicht Berg-, Dohlen. Nein, laut nur vor dem Ohr, schreibst du, das muss eine Stechmücke sein. Die andern Buchstabenfolgen falls Vögel, weiss ich sie nicht zu benennen, sage ich zu meinen kaum erwachten Füssen. Hier gibt es Blaumeisen, Amseln, verschiedene Möwen, Elstern, Ringeltauben und auch kleinere Tauben, unseren Stadttauben ähnlich, ein Vogel, fast eine Bachstelze, ein elsternfarbiger Strandläufer dieser Name aus einer Namensversuchung im Unbekannten, ist von mir, sage ich rascher, möchte dich anfassen. Sah die die Waldböden schimmern lilablau von Blåsippar oder ins Rötliche gehende je nach Lichteinfall Leberblümchen, sah auf den Wiesen Flächen mit Scilla, andere mit Blausternen (M.), einer Art Anemonen, die unsern Buschwindröschen ähneln, so T. vet. Tommy möglicherweise in der Stadt erste Bäume mit dicken Knospen. Die Rosen an den Hausmauern sind schon weit mit der Entwicklung ihrer Blätter. Das zum Frühling hier mitten in der Baltischen See erstaunliche Beschreibungslust diesmal, Wollsocken, das ist ein Wettlauf gegen die Zeit Nebensatzablagerungen. Dir vom Grünen zu kosten etc. Wunschtraumhaftigkeiten des Buchstabenspringens was kann ich da Weisssternerblickerin betrachtete Abbildungen also antworte dir rasch als momentane Schwebefliegenbetrachterin die Klangrätsel sind schwierig zuerst dachte ich an eine Hummel, schrieb T. gestern. Stehe an füge mich dir in die Schlange der Wörter. 

 

Elisabeth Wandeler-Deck  (1939) studierte zunächst Architektur. Von 1972 bis 1976 studierte sie Soziologie und Klinische Psychologie an der Universität Zürich. Nach einer Ausbildung in Gestaltanalyse begann sie mit dem Aufbau einer psychologischen Beratungsstelle für Frauen sowie einer Praxis in Zürich. Als Schriftstellerin pflegte sie nach ersten lyrischen Versuchen Ende der 1960er Jahre die Verbindung von Text und Musik. Sie arbeitete mit Komponisten und improvisierenden Musikern zusammen und realisierte bei Lesungen und Auftritten eigene Konzepte als improvisierende Musikerin (Vorlesestimme, Klavier, Gitarre). Sie war Mitglied der Gruppe Interco, gehört dem Improvisationsquartett bunte hörschlaufen an und beschäftigt sich auf verschiedene Weise mit Instant composing. Ab 1998 arbeitete sie im DamenDramenLabor (DDL) mit und entwickelte diverse Theatertexte. In Zusammenarbeit mit Urs Graf und Alfred Zimmerlin entstand 1993 der Film Die Farbe des Klangs des Bildes der Stadt. Für ihre schriftstellerischen, insbesondere ihre lyrischen Arbeiten erhielt sie zahlreiche Stipendien und wurde mehrfach ausgezeichnet.

NZZ Bücher am Sonntag 31-03-2018
Zwei Monate verbrachte die Zürcher Autorin Elisabeth Wandeler-Deck gegen Ende des Jahres 2007 In Kairo. Jeden Tag ihres Aufenthaltes dokumentierte sie akribisch mit einem Text und einer Fotografie. Bild und Text stehen daher in einem lebendigen Dialog. Die tapfere kleine Edition Howeg hat es nun gewagt, das Projekt, das ursprünglich nur für das Internet gedacht war, in eine Buchform zu bringen – und sogar in eine überaus anmutige: kleine Auflage, Klappenbroschur, Fadenhaftung, alle Exemplare signiert. Der bibliophile Band erscheint rechtzeitig zu 80. Geburtstag der Autorin, die uns auch als improvisierende Musikerin vertraut ist. Wolfgang Malte Fues, der von 1994 bis 2011 als Extraordinarius für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft sowie Medienwissenschaften an der Universität Basel wirkte, hat ein erhellendes Nachwort zu dem schönen Band beigesteuert.
Gundula Ludwig

Webseite der Autorin

edition taberna kritika

Beitragsfoto © Urs Graf

Tabea Steiner «Sienna Street 55»

Wir hatten für die Reise nach Armenien eine Flugverbindung mit längerem Zwischenstopp in Warschau gewählt, weil sie billiger zu haben war. Ich wusste bis dahin nicht viel mehr über Armenien, als dass die armenische Kirche ihren eigenen Papst hat, dass die Bagdadbahn nur kraft der Zwangsarbeit zahlloser Armenier gebaut werden konnte und dass man die Armenier im Zuge der verschiedentlichen Genozide ohne jede Nahrung in die Wüste getrieben hat, mit der Absicht, sie verhungern zu lassen, auch Kinder.

Wir haben die Sienna Street 55 nicht auf Anhieb gefunden, weil wir vom Hauptbahnhof her zuerst die falsche Richtung eingeschlagen haben. Im Bahnhofsquartier blitzte alle Augenblicke ein Mercedesstern zwischen den hohen gläsernen Neubauten und den breiten Prachtbauten aus Sowjetzeiten auf. Der Stern drehte sich immerzu im Kreis und schleuderte so das Sonnenlicht weit über die Stadt.

Nummer 55 ist ruhig gelegen, gleich neben einer Imbissbude, die sonntags geschlossen ist. Im Hinterhof haben Kinder gespielt, aber das Gittertor war verriegelt. Wir haben gezögert, diese Kinder anzusprechen, bis uns eins der Kleineren bemerkt hat, stehen geblieben und dann davongesprungen ist, um kurz darauf in Begleitung eines grösseren Kindes zurückzukommen. Sie haben uns gemeinsam gemustert, dann haben sie von innen den elektronischen Türöffner betätigt und uns nicht weiter beachtet.
Im Innenhof ist mir zuerst das gerahmte Bild des Papstes aufgefallen, das in einer Wohnung im ersten Stock hing. Dieser Papst, an den ich nur noch im Zusammenhang mit dem Papamobil und seinem einsamen Tod im Fernsehen denken kann, blickte nach draussen, in die Richtung der Imbissbude, die aber hinter einer vielleicht sieben Meter langen und drei Meter hohen Mauer verborgen blieb. Gütig blickte er hinaus auf diesen Platz, mir war, als schaute er aus seinen Gefilden zu uns zurück durch ein Fernglas, das die Zeiten auf einer winzigen Linse zusammenpresst.

Wenige Wochen vor dieser Reise war Claude Lanzmann gestorben, was mich daran erinnert hatte, dass ich Shoah an einem einzigen Tag geschaut hatte, als könnte man all das auf neun Stunden und diese neun Stunden auf einen einzigen Tag komprimieren.
In der letzten Szene des Filmes spricht ein Mann davon, wie er sich durch die Abwasserkanäle in das Warschauer Ghetto geschmuggelt und Botengänge erledigt hatte, hin und her. Nach seinem letzten Botengang hatte er keinen einzigen Menschen mehr angetroffen. Er schildert, wie er alleine in einem Hinterhof gestanden und geglaubt hatte, dass er nun der letzte verbliebene Mensch auf der ganzen Welt sei, zurückgeblieben, weil er alleine in den Untergründen unterwegs gewesen war, während alle anderen aus dem Ghetto abgeholt worden waren.
Jener Mann hatte das Ghetto wieder verlassen und war, auf welchen Wegen auch immer, von Claude Lanzmann aufgespürt worden, dem er schliesslich seine Geschichte der Einsamkeit erzählt hat.

Nachdem 1989 in Berlin die Mauer gefallen war, hatten sich die Amerikaner aufgemacht, um in Warschau an der Sienna Street 55 aus der ehemals kilometerlangen Mauer des Warschauer Ghettos einen Stein zu holen. Auf einer Tafel über der Stelle, wo der Stein herausgebrochen wurde, kann man nachlesen, dass dieser Stein heute im Kriegsmuseum in Washington ausgestellt ist.
Gebracht haben die Amerikaner Imbissbuden, die Fastfood herausreichen in Endlosketten.

Wir sind noch einen Moment vor diesem Mauerrest gestanden, den man auch in Amerika betrachten kann. Dann haben wir den Innenhof verlassen, den Kindern ein Dankeschön zugewinkt. An der Aussenmauer des Gebäudes an der Sienna Street 55 ist ein emailliertes Foto angebracht. Darauf ist eine kleine Schar abgebildet, aufgestellt in Reih und Glied, ausgerüstet mit Waffen, bereit zum Warschauer Aufstand vom 19. April 1943.

Am Gebäude gegenüber prangte hoch oben ein Plakat der Billiglinie Etam. Ein Model, auf eine geradezu aus der Mode gefallene Weise mager, warb für den Konzern mit dem Slogan The french liberté. Scheinwerfer waren angebracht, welche in der Nacht dieses ungeheuer grosse Modeplakat beleuchten; es musste weit über die Stadt sichtbar sein.
Es sind die gleichen Strassen und Gassen, die mit Licht geflutet worden waren, als die Mauer noch mehrere Kilometer lang war und als nach Einbruch der Dunkelheit, zur Nachtsperre, nur vereinzelt magere Gestalten über die Gassen und Plätze im Inneren des verriegelten Mauerrings gehuscht waren.

Wir sind zurückgegangen zum Bahnhof, ein Gebäude, dessen Standort und Stellenwert sich innerhalb des zwanzigsten Jahrhunderts mehrmals verschoben und verändert hat. Diesmal haben wir ihn auf Anhieb gefunden, haben Tickets für die Rückfahrt an den Flughafen gekauft, die Abflughalle erreicht, das Flugzeug bestiegen und sind wenige Stunden später in Jerewan gelandet. In der Dunkelheit der Nacht haben wir armenischen Boden betreten, dieses heisse, kleine, fruchtbare Land.

Tabea Steiner, 1981, studierte Germanistik und alte Geschichte in Bern und hat sich in ihrer Masterarbeit mit der Wahrnehmung in zeitgenössischer Landschaftslyrik befasst. Sie ist auf einem Bauernhof in der Ostschweiz aufgewachsen und lebt heute in Zürich. Sie hat das Thuner Literaturfestival initiiert, ist Mitorganisatorin des Berner Lesefestes Aprillen und Mitglied der Jury der Schweizer Literaturpreise. 2011 hat sie an der Autorenwerkstatt des Literarischen Colloquiums Berlin teilgenommen. Ihr erster Roman «Balg» erschien im Frühjahr 2019 in der Edition Bücherlese.

Webseite der Autorin

Am 25. Oktober 2019 liest Tabea Steiner aus «Balg» im Bodman-Literaturhaus in Gottlieben TG. Gallus Frei-Tomic moderiert.

Karl Rühmann «Der alte Wolf»

Der Wolf entdeckte sie jedes Mal, lange bevor sie ihn sahen. Listig sind sie nicht, dachte er. Aber beharrlich.

Der Wald war sein Zuhause, er kannte Pfade, die andere für Dickicht hielten, und er wusste um Höhlen, die einem auch dann verborgen blieben, wenn man dicht davorstand.

Seine Verfolger hatten Hunde, die sich begierig auf jeden verdächtigen Duft stürzten und dann geifernd an ihren kurzen Leinen zerrten. Immer wieder musste der Wolf falsche Spuren legen. Er tat das mit Geschick und Gelassenheit. Aber er spürte deutlich, wie sehr ihn die Flucht ermüdete. Sein Fell wurde schütterer, sein Atem kürzer, seine Beine wurden schwerer.

Er verkroch sich unter die tiefen Äste einer Tanne und sah zu, wie seine Verfolger in die Irre stolperten. Wenn er nach ihnen spähte, brauchten seine Augen länger, um den Unterschied zwischen Jägern und Wanderern auszumachen.

Der Wolf empfand immer weniger Lust, die vertrauten Verstecke zu verlassen und neue zu suchen. Die Erschöpfung kroch an ihm hoch, legte sich auf seinen Rücken und drückte ihn Tag für Tag unerbittlicher auf den weichen Waldboden.

Ich muss weg von hier, sagte er sich. Irgendwohin, wo ich mich nicht mehr verstecken muss. An einen Ort, an dem Güte stärker ist als Niedertracht.

Er streckte sich, heulte ein letztes Mal auf und lief los.

Der Wolf wanderte viele Tage. Er erklomm dicht bewachsene Hänge, rutschte durchs tiefe Laub Böschungen hinab, und wenn ein Fluss sich ihm in den Weg stellte, suchte er nach Untiefen. Er überquerte sie, ohne sich umzusehen.

Der alte Wolf kam an eine Schlucht, ihre Wände fielen steil hinab. Doch er fand für jeden seiner Schritte einen Felsvorsprung, gerade breit genug für seine Pfoten. Unten überließ er sich kurz seiner Erschöpfung. Aber als das Mondlicht durch einen Felsspalt auf ihn fiel, sprang er auf und lief weiter.

Als er an einen großen See kam, hob er die Schnauze und versuchte, das andere Ufer zu erschnuppern. Der Duft war ein blasser Hauch, schwach und fremd, er franste immer wieder aus und seine Fäden verfingen sich im Schilf. Der See muss sehr groß sein, dachte der Wolf.

Dann sprang er.

Seither hat niemand mehr den Wolf gesehen. Manche behaupten, seine Spuren im Tiefschnee entdeckt zu haben. Andere sind sicher, sein Schatten sei in die große Höhle hinter dem Wasserfall gehuscht. Vermutlich ist der Wald dort, wo er schon immer sein wollte: in seiner Geschichte.

(Der Text ist auch ein gleichnamiges Bilderbuch, erschienen im Jungbrunnen Verlag.)

Karl Rühmann verbrachte seine Kindheit in Jugoslawien. Er studierte Germanistik, Hispanistik und Allgemeine Literaturwissenschaft in Zagreb und Münster, unterrichtete Deutsch und Spanisch in Skanderborg in Dänemark, wechselte in die Verlagswelt und arbeitete als Lektor und Lizenzmanager. Seit 2006 lebt er als freier Lektor, Literaturübersetzer und Autor in Zürich. Seine Kinderbücher sind in viele Sprachen übersetzt worden. Für den Roman «Glasmurmeln, ziegelrot» (Rüffer & Rub) erhielt er ein Werkjahr-Stipendium der Stadt Zürich.

Webseite des Autors

Angelika Waldis «Bücher, Bücher – Notizen»

Der Schillerpreis 2019 geht an Angelika Waldis für ihren Roman «Ich komme mit»: Die Autorin erzählt eine ernste Geschichte mit raffinierter Verspieltheit und stupender Leichtigkeit.

27. Oktober 2018

Gestern hatte ich eine Lesung. »Schreiben Sie Ihre Bücher immer in der Gegenwartsform?«, fragte eine Zuhörerin. Oh je, das wusste ich nicht. Jetzt hab ich nachgeschaut: Tatsächlich, fast alles – bis auf die Rückblenden – habe ich im Präsens geschrieben. Weiß nicht warum, es ist nun mal so. Ich hab es mir gar nie sonderlich überlegt. Cäsar hat seinen gallischen Krieg, Joyce seinen Ulysses und Goethe seinen Erlkönig im Präsens angesiedelt. Aber der Großteil der Literatur steckt wahrscheinlich in Perfekt und Präteritum. Ab jetzt will ich beim Lesen mal besser drauf achten. Im Wechselspiel von Perfekt und Präteritum bin ich als schreibende Schweizerin manchmal etwas unsicher. Ein Präteritum gibt es im Schweizerdeutschen nicht. Niemand sagt »Ich ruumte sʼChuchichäschtli uuf.« Habe ich mich darum lieber ans Präsens gehalten? Wohl eher, weil es spontaner, direkter, lebendiger, aufregender daherkommt. »Wer ritt denn so spät durch Nacht und Wind …« Also das würde ja nun gar nicht passen.

18. März 2017

Kann mich nicht entscheiden, worüber ich schreiben soll. Den Wind, der den Bambus fiebrig macht. Den Himmel, der ausschaut wie zu meiner Kindheit, weil er grau ist und man keine Jetstreifen sieht. Den türkischen Präsidenten, der die Todesstrafe wieder einführen will. Die Kontaktliste auf meinem Handy, in der ich manche streichen müsste, weil sie gestorben sind. Die blauen Adern auf meinen Handrücken, die befremdlich dick geworden sind. Das Rufen der beiden Milane, die vielleicht auch dieses Jahr wieder in Sichtweite nisten. Die traurigen Briefe meiner Großmutter, die ein uneheliches Kind gebar und es nicht behalten durfte. Ja, worüber soll ich schreiben. Ich glaube, ich frag die Katz. Sie hat schon immer gewusst, was für die Katz ist und was eben nicht.

27. September 2016

»Hör endlich auf«, sagt die Katz, »so ungemütlich zu tun.« Vier Bücher knallen vor ihr auf den Boden, sie springt auf und setzt sich gleich wieder. »Was machst du da eigentlich«, sagt sie, »auf jeden Fall machst du Staub. Und warum stehst du auf der Leiter und stöhnst?« Ich sage ihr, dass ich Bücher entsorge. »Die Psychologie-Bücher und die Gedichtbände, verstehst du, Katz?« Nein, tut sie nicht. Sie sagt, sie wisse nicht, warum wir Gedichte überhaupt erst in diese Dinger da reinschreiben und dann zum Lesen wieder hervorholen. »Wir dichten direkt in die Luft«, sagt die Katz. »Das ist viel effektiver.« Sie hat wohl recht. »Bitte, dichte was, Katz!« Sie überlegt und kratzt dann mit der Pfote etwas hinterm Ohr hervor: »Alte Freundin steht auf Leiter und weiß ganz und gar nicht weiter.« Das sei schön, sage ich, besonders die »Freundin«. Und besonders die Zeilenfall- und Interpunktionsangaben mit der Schwanzspitze. »Also«, sagt die Katz, »kommst du jetzt endlich ins Bett?«

31. August 2016

Heute früh war ich schwimmen. Die ersten paar Meter See lagen noch im Schatten, ich schwamm mit selbstverordneter Vorfreude möglichst rasch durchs Kühle hinaus in die Sonne, und dort genoss ich Zug um Zug die wunderbar glitzernde Fläche. So geht’s mir manchmal mit Büchern: Ich mühe mich ab mit ersten Kapiteln und plötzlich bin ich mitten in einer faszinierenden Weite und in einem wunderbaren Licht und kann nicht genug davon bekommen. Weg ist das anfängliche Frösteln, nur noch Lust ist da – und Spannung, weil man so viel Tiefe unter sich weiß. Es kommt auch vor, dass ich das Buch schon nach ein paar Seiten entschlossen zuklappe, weil es für mich zu kalt ist. Dann spritzt immer ein bisschen Beschämung auf.

15. Oktober 2015

»Hast du was Gutes gelesen?«, werde ich oft gefragt. Ja, hab ich. In dem großen Textschwall, den ich regelmäßig durchs Gehirn spüle, muss ja wohl was Gutes dabei sein. Aber wenn ein netter Mensch von mir einen Buchtipp will, bin ich meist hilflos. Ich denke: Das ist zu traurig für seine wacklige Seele. Oder: So viel Schmalz kann er nicht verdauen. Oder: Solche Stille erträgt er nicht. Oder: Ihm fehlt das Gehör für Bosheit. Es reut mich, Wallace Stegner oder Julian Barnes oder Gerbrand Bakker oder Per Petterson zu empfehlen, denn ich möchte nicht, dass jemand deren Bücher enttäuscht aus der Hand legt. Soll der nette Mensch doch selber sehen, wie er sich lesend befriedigt. Ist nicht meine Sache. Na ja, es gibt schon Namen, die ich unbeschwert weitergebe: Tschechow, Maupassant, Mansfield, Maugham – die alten Könner, ganz einfach gut wie Brot.

16. Juli 2015

»Betrachtest du deine Bücher als moralisierend?«, fragt mich ein Freund. »Nein«, sage ich. »Auch nicht im Versteckten?«, fragt der Freund. »Nein«, sage ich. »Ich halte anderen nur den Spiegel vor, mehr nicht.« Später denke ich: Anderen den Spiegel vorhalten ist durchaus ein moralischer Akt. Die Figuren in meinen Büchern sind Spiegel, die Lesenden können sich drin sehen. Können sehen, wie blöd, hässlich, verbohrt sie sind und handeln – ein unangenehmes Bild. Oder wie klug, schön, liebevoll sie sind und handeln – ein angenehmes Bild. Die Bilder implizieren: Sei so! oder Sei anders! Und somit bin ich im Grunde genommen eine Moraltante.

21. Januar 2013

Ich trage heute fünf Bücher in die Bibliothek zurück, es ist keines dabei, das ich gerne behalten möchte, das ich nicht vergessen möchte, es sind gut gemachte Sachen, aber man sieht ihnen das Machen an, und ich möchte beim Lesen das Gemachtwordensein, so gut es geht, vergessen. Wenn ich das kann, erhält das Buch meinen Segen: Geh hinaus in die Welt und verbreite dich und erschüttere die Leute mit deinem erfrischenden Geist und deiner uralten Seele, auf dass diese lachen und weinen, was sie aber nicht können, weil sie keine Zeit dazu haben, denn sie müssen weiterlesen, weiterlesen, weil du so spannend bist, du wunderbares Buch, geh von dannen und verbreite dich fortan.
Ich warte geduldig, bis ich wieder einmal auf so ein Buch treffe.

20. August 2013

Ich habe einen fremden Text überarbeitet, es ist das erste Kapitel eines ersten Buchs eines Freundes. Schau mal rein, hat er gesagt, und das hab ich gemacht. Ich kam mir vor, als sei ich allein in seiner Wohnung, nachdem er mir den Wohnungsschlüssel gegeben und gesagt hätte: Schau mal rein. Ich kam mir vor, als stehe ich in seiner Wohnung vor seinen Bildern und seinen Pantoffeln und seinen Kaffeetassen. Vor seinem Pyjama und seinem Testamentsentwurf und seinem Kopfabdruck auf dem Kissen. So stand ich in seiner Wohnung beziehungsweise in seinem Buch und war gerührt und belustigt und beschämt und verlegen. Und plötzlich überfiel mich die Lust, aufzuräumen, umzustellen, Platz zu machen. Ich verschob Stöße von Wörtern, halbierte Sätze oder warf sie aus dem Fenster, sammelte überflüssige Zeilen ein und schüttelte Fehler aus den Vorhängen oder zerdrückte sie böse. Ich konnte nicht anders. Einfach mal reinschauen, das geht nicht.

1. August 2013

Die Katz ist ein schlaffes Läppchen, liegt draußen im Schatten, die Welt ist gerade eben 32 Grad heiß, heute Abend werden die Feuer brennen, weil Heil dir Helvetia, und der Phlox blüht so blau, blau, blau wie der Enzian. Mein neues Buch hat nun 209 Seiten und fühlt sich gar nicht wohl, weil mein letztes Buch inzwischen erschienen ist und Lob erhält. Ich bin schlechter, sagt nun mein neues Buch, gib mich auf, wirf mich weg, sonst kotz ich dir noch über den Bildschirm. Was macht man da? Du und dein Buch, sagt die Katz, tut doch nicht so blöd, ist doch eh alles egal. Oder glaubt ihr etwa, ihr zwei, wegen euch finge ich an zu lesen? Was draußen knallt, ist eine Rakete, und noch eine. Andernorts knallt’s nicht aus Freudesgründen, in Syrien ist immer noch Krieg, nein, nein, die Schweiz schickt keine Waffen dorthin, sie schickt sie freundlich anderswohin, damit sie ein paar Umwege machen. Das ist etwa wie ein Paket, das man im Sommer losschickt mit dem Vermerk »Erst an Weihnachten öffnen«.

4. August 2013

Bestimmt muss man außerordentlich alt werden, bis einen eine Kritik nicht mehr trifft. Ich bin noch nicht außerordentlich, sondern erst ordentlich alt. Das heißt, ich zucke immer noch zusammen, wenn man mich kritisiert. Würde ich nicht mehr zucken, wäre ich tot. Wie schön ist das, dass ich noch nicht tot bin, dass ich spüre, wie Sonne ins Zimmer fällt, wie Phlox riecht, wie die blöden Tauben gurren. Ja, und da hat nun jemand geschrieben, in meinem neuen Buch gebe es Klischees. Zuck! Klischees sind genau das, was ich nicht fabrizieren möchte. Aber wahrscheinlich würde ich genauso heftig zucken, wenn es in der Kritik hieße, ich schreibe umständlich oder romantisierend oder ungenau oder langatmig oder salopp oder barock oder sonstwie nicht rundum gut. Irgendwas muss eine Kritik ja kritisieren, sonst ist es keine. Also muss ich damit leben zu zucken, solang ich noch zucken kann.

Die Notizen sind erschienen auf der Website www.angelikawaldis.ch unter dem Titel »Tage,Tage« sowie im Buch »Tausend Zeichen«.

Angelika Waldis ist 1940 geboren und denkt immer noch, sie sei nicht alt. Sie ist in Luzern aufgewachsen, hat an der Universität Zürich eine Weile studiert (Anglistik/Germanistik), ist aber bald abgehauen in den Journalismus und in die Ehe mit ihrer ersten Liebe, dem Gestalter Otmar Bucher. Mit ihm hat sie einen Sohn, eine Tochter und eine Jugendzeitschrift gemacht. Heute hat sie drei Enkel sowie Freuden und Ängste beim Bücherschreiben. Ihr Roman »Aufräumen« (2013) war in der Schweiz ein Bestseller. Was sie häufig tut: in Gartenerde wühlen, mit Wörtern spielen, sich über dumme Zeitgenossen ärgern, neugieren und staunen. Ihr neuster Roman bei Wunderraum ist «Ich komme mit». Er wurde «Lieblingsbuch des Deutschschweizer Buchhandels 2019«.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Peter von Felbert

Werner Rohner «Was bleibt»

«Licht im August» William Faulkner

Ich hab das nie verstanden: Sommerbücher. Leicht und luftig. Da hat man endlich mal Zeit am Stück um zu lesen, sich den Büchern ganz auszusetzen, dass sie über einen hereinbrechen, alles umkrempeln; und dann wählt man eines, bei dem man nach jedem halben Satz auf-, und aufs Meer schauen kann und trotzdem den Faden nicht verliert. Oder noch schlimmer, bei dem es gar keine Rolle spielt, ob man mal kurz ein paar Sätze abschweift. Dafür brauche ich doch kein Buch. Dafür reicht das Meer (und wie weit es reicht).
Wenn da aber kein Meer ist. Und trotzdem Zeit. Dann und drum: Licht im Augst. Faulkner! Das rückt einem den Kopf mal wieder zurecht. Weil es alles an sich bindet, das Licht eben, die Landschaft, das Leben und nicht selten den Tod. Und das mit einer Sprache, die mir beim Lesen permanent ein wenig Hühnerhaut verursacht, so fein und gleichzeitig mit einer Wucht, dass kein Gedanke mehr daneben Platz hat. Weil diese Sprache auch mich mit Gewalt an sich bindet. Und Gewalt ist auch im Buch selbst genug. Und kein Trost, kein bisschen; aber da ist mehr Leben drin als – da ist das Leben drin.
(übersetzt von Susanne Höbel und Helmut Frielinghaus)

Maggie Nelson «The Argonauts»

Da ist zuerst mal die Form. Im Amerikanischen läuft das unter Non-Fiction, bloß weil da jemand (nach-)denkt, ohne sich gleich mit der Figurenrede aus der Verantwortung zu stehlen. Und wie Maggie Nelson denkt! Kreuz und queer. Und gleichzeitig an ihrem Leben entlang erzählt, ihrer Beziehung mit Harry, seinem Sohn, wie dann noch ein neues Kind dazu kommt – und was das bedeutet, für die Liebe, für den Sex und eben fürs Denken. Wie sich das alles durch einander und durcheinander verändert. Viel auch über Kunst und Kunstbetrachtung. Über Alltag und Politik und Perversionen. Wie viele Nerven im Anus sich befinden und welche Beziehung wir zum Wort Radikalität finden könnten.
Es ist diese Mischung, welche die Theorie nicht vom Fiktiven trennt, ohne das eine immer gleich allzu offensichtlich das andere erklären zu lassen, die ich so toll fand. Die Spannung, die zwischen den Teilen entsteht. Man kann zuschauen, wie das Nachdenken über etwas gleichzeitig zur Erzählung über den Gegenstand wird. Und wie es Maggie Nelson gelingt, auf endgültige Schlüsse und Zuordnungen zu verzichten und gerade dadurch genau zu bleiben. Und wie emotional all das Denken ist und wie intelligent die Erzählungen vom Alltag. Und nicht selten habe ich mir bei der Lektüre gewünscht, dass mir dieses Buch jemand in der Schule zum Lesen gegeben hätte – ich glaube, es hätte mein Leben und Denken ein klein wenig freier gemacht.
(im Original)

Ben Lerner «10:04»

Immer mal wieder, wenn ich in einem Buch lese und irgendwas nicht stimmt – mit dem Buch oder mir – nehme ich 10:04 von Ben Lerner hervor, schlage irgendwo auf und es passt immer. So ein Buch ist das. Mit einer Geschichte, mit einer Dramaturgie, das auch, aber ich könnte es auch rückwärts lesen und jedes zweite Wort überspringen, irgendwas würde es immer noch in mir auslösen.
Es ist ein Buch, bei dem ich mich ständig frag, wie entscheidet der Autor, was alles dazugehört? Weil irgendwie alles dazu gehört, weil der Erzähler die meiste Zeit irgendwohin abschweift, in Gedanken und Geschichten (auch ein paar Bilder und bereits veröffentlichte Essays gehören dazu), um dann wieder irgendwo aufzutauchen und den Faden der Hauptgeschichte (der Freundschaft zu Alex, die ein Kind von ihm will, ohne unbedingt mit ihm zu schlafen) wiederaufzunehmen.
Und wie das dann auch noch immer etwas über unsere Zeit erzählt und dabei auch noch wirklich witzig ist. Ja, witzig und gleichzeitig ziemlich intelligent, eine Kombination, die ja nicht allzu oft vorkommt. Und ich frage mich, wie oft ich es noch wieder lesen kann, bevor es seine Wirkung auf mich verliert, oder inwieweit sie sich verändern wird. Und wann endlich sein nächstes Buch rauskommt.
(einmal im Original, oft übersetzt von Nikolaus Stingl)

Werner Rohner, geboren 1975 in Cala D’or. 2014 erschien sein Debüt «Das Ende der Schonzeit» bei Lenos. Der Roman wurde mit einem Werkjahr der Stadt Zürich ausgezeichnet, war für das beste deutschsprachige Debüt beim Rauriser Literaturpreis nominiert und erschien 2017 auf Französisch unter dem Titel «Fin de Trêve» bei Les Editions de l´Aires.

https://lenos.ch/buecher/das-ende-der-schonzeit