Béatrice Bader «Heiliger Schein» – Scheinheilig 1

Ana sammelt Heiligenbildchen. Eigentlich wollte Kunstgeschichte studieren, aber weil ihr das zu anstrengend erschien, begann sie, Kirchen zu besuchen. Die Heiligenbildchen, welche sie dort in den Gebets- und Gesangsbüchern findet, nimmt sie mit.

Ana wohnt im dritten Stock eines einfachen Hinterhauses. Die Sonne scheint jetzt im Dezember immer nur während weniger Stunden am Tag durch die beiden halbblinden Fenster von Küche und Stube. An der dem Fenster gegenüberliegenden Wand lehnt ein alter Sekretär mit aufgeklappter Lade, in der Mitte des Raumes steht ein rechteckiger Holztisch, bedeckt von einem Stapel ungeordneter Heiligenbildchen, als hätte ein, ob all der auf dem Tisch versammelten geballten Heiligkeit aufgebrachter Windstoss sie kräftig durchgewirbelt. Eine nackte Glühbirne schaukelt sacht über dem Tisch hin und her und lässt die Schatten der beiden Stühle kaum wahrnehmbar in ihrem Licht tanzen.

Ana hält sich einen Hasen, um nicht allein zu sein. Eigentlich ist es ein Kaninchen, aber weil Ana den Hasen von Albrecht Dürer liebt, nennt sie ihn Hase. Sein Fell ist nicht braun mit wenig weiss wie das des Hasen auf dem Bild, sondern schneeweiss und flauschig.  Es ist auch kein Feldhase, sondern ein Angorakaninchen. Ana hat es von ihrer Grosstante übernommen, als diese eine Allergie gegen die Kaninchenhaare entwickelte. Ana hebt Hase auf ihren Schoss und streichelt ihn zwischen den Ohren. Dabei betrachtet sie die durcheinanderliegenden Heiligenbildchen. Unter dem Tisch warten in einer Holzkiste unzählige kleine Bilderrahmen.

Als Ana nach Hause kommt, ist es bereits später Nachmittag. Bald wird es dunkel sein. Die halbblinden Fensterscheiben blicken scheinheilig, so als ob sie nicht sehen würden, was auf der Strasse geschieht. In Anas Träumen hoppeln Hasen zwischen den Rädern fahrender Autos hindurch, die Häuser sehen weg. Ana zündet eine Kerze an, ihr Lichtschein spiegelt sich im Fensterglas und winkt ihr zu. Sie sieht ihr eigenes Spiegelbild und wünscht sich, es würde sich zur ihr auf den leeren Stuhl setzen und ihr für ein paar Stunden Gesellschaft leisten wie eine Freundin.

Ana sortiert die Heiligenbildchen nach Motiven – es gibt viele heilige Männer und nur wenige Frauen – und legt sie auf der Schreibfläche des Sekretärs aus. Danach ordnet sie aus der Holzkiste ein Holzrähmchen nach dem andern, jedes in der Grösse zu einem Bildchen passend. Die kleinen leeren Rahmen hängt sie wie es kommt an die Tapetenwand über dem Sekretär. Mit glasig leerem Blick starren sie auf Ana, sehen zu, wie diese weiter die Bildchen sortiert. Scheinheilig, denkt Ana.

Als sie am nächsten Tag aus dem Haus geht, steckt sie ohne zu überlegen eines der Heiligenbildchen in ihre Handtasche. Ein bisschen Heiligenschein kann nicht schaden, denkt sie, während sie zur Bushaltestelle geht. Die rote Wintersonne steigt über die Dächer wie ein frisch gefüllter Ballon; sie wirft ihr Licht auf die Strasse zwischen den Häusern als wäre es ein blutiger Teppich. Die Menschen warten mit gesenkten Köpfen frierend an der Haltestelle.

Ana öffnet ihre Handtasche und legt das Heiligenbildchen auf den Sitz der Wartebank. Sie lässt es liegen, als sie einsteigt. Durch die Scheiben des abfahrenden Busses kann sie sehen, wie eine Frau das kleine Bild mit der Schutzheiligen nimmt und betrachtet, bevor sie es in die Manteltasche steckt.

Als Ana an diesem Abend nach Hause kommt, setzt sie sich mit Hase aufs Bett und vergräbt ihre Hände tief in dessen Fell. Dann steht sie auf und geht zum Tisch. Das Flackern der Kerze bewegt die leeren Bilderrahmen und erweckt sie zu unheimlichem Leben. Ana fühlt sich durch sie beobachtet. Sie dreht die vor ihr liegenden Heiligenbildchen um und schreibt eine Botschaft auf die Rückseite des ersten: «Wo ist dein Heiligenschein»; dann aufs Nächste: «Tu nicht so scheinhelig»; und wieder aufs Nächste: «Jetzt kommt die Nacht der Nächte». Ana stellt sich vor, wie sie im Paradies herumgeht und wie eine Heilige die Bildchen an die dort lebenden hoch erfreuten Menschen verteilt. In dieser Nacht träumt sie nicht.

Während der nächsten Wochen lässt Ana täglich ein Heiligenbildchen liegen und bringt sie mit ihren Botschaften auf der Rückseite unter die Leute. Sie sieht, wie ein Mann es findet, umdreht und das Geschriebene liest. Erschrocken schaut er mit eingezogenem Kopf verstohlen um sich, als sei er ertappt worden. Nun ist Ana nicht mehr allein mit Hase, der ja eigentlich ein Angorakaninchen ist; sie sitzt jetzt in den Köpfen der Finder der Bildchen, die gemeinsam mit ihr über die von ihr geschriebene Botschaft nachdenken. Der kalte Dezemberabend haucht Eisblumen an die blinden Fenster ihrer Wohnung. Ana sieht sie und ist glücklich.

© leale.ch

Béatrice Bader, Künstlerin und Erzählerin des Unaussprechlichen, arbeitet an der Schnittstelle von Kunst und Sprache. Ihre Werke sind wie Fenster in verborgene Welten, geprägt von einer feinen Sensibilität für das Flüchtige und das Bleibende. Ob in Bildern oder Worten – sie sucht das, was hinter den Dingen liegt, das Unsichtbare, das wir fühlen, bevor wir es verstehen. Als Autorin erzählt sie Geschichten, die den Alltag mit Poesie durchdringen, und als Künstlerin verwandelt sie Gedanken in Formen und Farben. Ihre Werke sind ein Dialog zwischen dem Innen und dem Aussen, der Stille und dem Klang. Béatrice Bader lädt ein, innezuhalten – und für einen Moment die Welt neu zu sehen. 

Scheinheilig 1 – 7 sind ausgewählte Weihnachtsgeschichten, prämiert mit einer Zeichnung der Künstlerin Lea Le.

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