Die kühle Nachtluft legt sich wie eine Decke um Annas Knie. Sie sitzt in vor dem offenen Fenster und beobachtet, wie die Schneeflocken auf dem Balkongeländer landen. Sie setzen sich nahe zusammen, als wollten sie verhindern, dass eine von ihnen frieren muss.
So nahe wie die Schneeflocken auf dem Geländer drängen sich die Gedanken in Annas Kopf. Eigentlich weiss sie genau, was zu tun ist. Auch jetzt, gerade in diesem Moment. Doch wie immer fühlt sie sich durch ihre Gedanken wie eingewickelt als sässe sie in einem Fadengespinst. Am Ende eines jeden Fadens sitzt ein Hund in Dackelgestalt wie an einer Leine. Da es viele davon gibt und jeder in seine Richtung rennt, verwickeln sich die Leinen in Anna Kopf ineinander zu einem unlösbaren Knoten. Nur manchmal gelingt es ihr, eine der Leinen zu lösen und ihr und dem daran hängenden Dackel zu folgen. Dies ist dann einer jener seltenen Glücksmomente, in denen Anna ganz bei sich ist und ihrem Weg folgenden kann, wenn auch nur für eine kurze Weile. Denn schon kommt der nächste Gedankendackel angerannt, will gestreichelt werden und verlangt ein lustiges Spiel, indem er an Annas Gedankenfaden zieht wie ein Hund an seiner Leine. Anna versucht dann wie immer dem Ziehen zu folgen, doch dabei verwickelt sie sich selber bis zur schieren Unbeweglichkeit. Und schon ist der Tag wieder vorüber, die Abendschatten tropfen vom Himmel wie zäher Brei. So wartet Anna auf den neuen Tag, weil sie weiss, damit bekommt sie eine neue Chance ihrer inneren Welt zu begegnen, um aufs Neue Bilder und Worte daraus zu schöpfen.
Dabei fühlt sich Anna wie ein Tagedieb. Das Wort Entschuldigung formt sich in ihrem Kopf, erst kaum hörbar, ganz klein und leise. Doch je mehr Stunden von der Tages- zur Abendseite rollen, umso lauter wird das Wort in ihrem Kopf. ENTSCHULDIGUNG dafür, dachte sie, dass ich heute wieder nichts Richtiges gemacht habe. Sie fühlt ein Ziehen an einem ihrer Gedankenfäden, versucht dem zu folgen, verliert sich in den tanzenden Schatten an der Zimmerwand, welche von der Abendsonne beleuchtet wird. Zu spät, denkt Anna, zu spät, um jetzt noch etwas Richtiges anzufangen.
Anna hat sich in ihrem Zimmer ein kleines Reich errichtet. Überall liegen Fundstücke und Sammelgegenstände. Anna liebt jedes einzelne Ding, versucht immer wieder eine neue Ordnung. Das gibt ihr das Gefühl, etwas Richtiges zu tun, ja sogar etwas Wichtiges. Wenn sie sammelt, verlieren ihre Spaziergänge das Gefühl von Nichtstun, was ihr immer ein schlechtes Gewissen macht. Was sie findet, fügt sie zuhause in ihre Sammlung ein. Um eine Übersicht zu behalten, hat Anna an den Wänden kleine Zettel aufgehängt, darauf verzeichnet sie den genauen Fundort mit seinen Koordinaten, Tag und Jahr und Zeit. Sie nummeriert die Zettel, damit sie weiss, wie gross ihr Reich inzwischen ist. Am Abend zündet sie die Kerzen an, die sie überall in ihrer Wohnung, die aus zwei kleinen Zimmern besteht, verteilt hat. Der Kerzenschein taucht alles in ein warmes Licht und lässt die hübsch angeordneten Dinge in einem Glanz leuchten, der niemand ausser ihr wahrnehmen kann. In diesen Momenten sind Annas innere Welt und ihr warm leuchtendes kleines Reich eins. Auch die am Ende ihrer Gedankenfäden angebundenen Dackel liegen zusammengerollt da und beobachten Anna aus schlafschweren Augen. Ein Wind, der zum Fenster hereinbläst, lässt die Kerzenflammen zittern und die Schatten über Wand und Zimmerdecke tanzen. Er wirbelt die gesammelten Federn im Zimmer herum, bis sie sich wie die Schneeflocken vor Annas Fenster eng beieinander niederlassen, bis sie alles unter sich bedecken, die Stuhllehne, den Tisch, den Zimmerboden. Jede einzelne Feder ein ungenutzter Tag, zusammen sind sie eine Decke von Wochen und Monaten vergangener Zeit. Entschuldigung, flüstert Anna, legt sich mitten auf den Fussboden und deckt sich mit der Federdecke zu. Sie schliesst die Augen und lässt im Kopf die Dackel von ihren Gedankenfädenleinen. Morgen, denkt sie. Morgen ist erster Weihnachtstag, da mache ich etwas Richtiges.
Béatrice Bader, *1968, ist Schweizer Konzeptkünstlerin und arbeitet multimedial.In ihrer künstlerischen Auseinandersetzung bewegt sie sich an der Schnittstelle von Kunst und Theorie sowie hybriden Erzählformen (Bild-Text-Kombinationen). Sie ist tätig im Bereich der künstlerischen Forschung und Konzeptkunst, Collage, Performance, Installation und Interventionen im öffentlichen Raum.
Illustration © leale.ch