Dieter Boller «Akzentfrei»

Ein Text aus dem AutorInnen-Kollektiv, das am 4. Dezember 2022 im Literaturhaus Thurgau liest.

 

Schön schwer ist sie, dachte Emmelius. Das um Aronja gelegte Tuch leuchtete. So hell, dass er sich Sorgen machte. Der Weg vom Pfarrhaus auf die Anhöhe war zum Glück nicht weit.
Er hatte sich gut überlegt, wo er sie betten wollte. Das nördliche Feld war erst zur Hälfte belegt. Allesamt Diesjährige. Der Bereich eignete sich nicht. Noch waren die Tränen der Angehörigen nicht getrocknet. Kamen die Trauernden wöchentlich, wenn nicht sogar täglich vorbei. Beäugten minutenlang den Stein, die Blumen, die Kerzen. Jede noch so kleine Veränderung hätten sie sofort bemerkt.
Die vergessenen Seelen lagen im Westsektor. Auf den Schiefersteinplatten, die zu den Gräbern führten, war Moos gewachsen. Ihre Körper waren nicht mehr. Dem Erdboden gleich. Zersetzt. Vom sauren, sandigen Obwaldner Boden. Auch diese Zone kam nicht in Frage. Die Ruhestätten würden nächstens aufgehoben. Geräumt, wie es Emmelius’ Kollege ausdrückte. Nach zwanzig Jahren bereits, ganz im Gegensatz zu den Friedhöfen in Calvos Heimat.

***

«In Huelva haben wir Lehmböden. Da räumen sie frühestens nach dreissig, vierzig Jahren», erklärte Calvo. «Hier in Sarnen ist das Gewebe nach zwölf Jahren zersetzt.»
Calvo und Emmelius waren noch nie zusammen mittagessen. Obwohl sie fast täglich miteinander zu tun hatten. Als Emmelius ihn an jenem Freitag anrief und fragte, ob er spontan Lust hätte, mit ihm im Garten der Pfarrei gemeinsam die Pause zu verbringen, war dieser überrascht und erfreut zugleich. Dass Emmelius sich dann im Gespräch sehr interessiert an seiner Arbeit zeigte, geschmeichelt.
«Wie ist das eigentlich, Calvo», fragte Emmelius, als handelte es sich um einen Schnuppertag und ein neugieriger Lehrstellensuchender wollte innert kürzester Zeit alles über diesen Beruf erfahren, «wenn du die Gräber nach zwanzig Jahren erneuerst, findest du da noch alte Knochen?»
«Kommt selten vor. Find’ ich welche, bestatte ich sie unterhalb der neuen Gräben», sagte Calvo und biss ein grosses Stück seines Schinkensandwiches ab.
«Schon verrückt, dein Beruf, wenn man so darüber nachdenkt», meinte Emmelius. «Legst du beim Ausheben der Gräber manchmal auch noch selbst Hand an oder erledigt das unterdessen alles der Bagger?»
«Moderne Technik ist gut. Aber wer das Handwerk nicht mehr beherrscht, ist kein echter Sepulturero», entgegnete Calvo. «Schaufel, Spaten, Schubkarre. Mehr brauchst du nicht.»
«Wie lange dauert so was, ein Grab von Hand auszuheben?»
«Etwa zwei Stunden», antwortete Calvo, «du willst es aber genau wissen.»
«Ich bin ein neugieriger Mensch, Calvo», sagte Emmelius mit einem Schulterzucken und erinnerte sich in diesem Moment an eine seiner ersten Predigten, in der er davon gesprochen hatte, dass Neugierde zuweilen ins Verderben führte.

***

Das Quietschten der über den Ostsektor rollenden Karette schreckte die Amseln auf. Vor dem zweitletzten Grab blieb Emmelius stehen. Andre Wüthrich war vor etwas mehr als einem Jahr gestorben. Seine Frau schon länger. Kinder hatten sie keine. Die winterharte Knospenheide, die Calvo auf den Reihengräbern angepflanzt hatte, war unberührt. Keine Kerzen, Blumen oder Fotos flankierten sie. Emmelius erinnerte sich gut an die Abdankung. Eine Nichte war die einzige Verwandte, die an der Trauerfeier teilgenommen hatte.
Emmelius sah sich um. Blickte gen Himmel. Und setzte den Spaten an.

***

«Hey, Matthäus614, schöne Augen hast du.»
«Guten Abend, Goddess77, danke. Dein Kompliment vermag ich zu erwidern.»
«Oh, ein höflicher Mann. Selten da.»
«Ich gebe mir Mühe. Jeder Mensch verdient es, fein behandelt zu werden.»
«Aha, du sprichst mit allen Frauen hier so.»
«Du bist die erste Frau hier, der ich schreibe.»
«Ja, genau.»
«Du glaubst mir nicht.»
«Hör mal, Matthäus614, du musst mir nichts vormachen. Sei einfach du selbst.»
Würde Gott ihm diese Sünde vergeben, fragte sich Emmelius. Unrein würde sie ihn machen. Sicher. Aber welche Verfehlungen täten das nicht? Hatte er nicht auch schon anderes getan, das ihn zur Beichte gezwungen hatte? Als er zu müde zum Gebet gewesen war. Als sein Vater sich nicht auf ihn hatte verlassen können. Als er über einen Freund geurteilt hatte, nur um von seinen eigenen Schwächen abzulenken.

***

Was hätte er denn sonst tun sollen? Einen Notarzt herbeirufen, der den Tod festgestellt und bei nächster Gelegenheit im Dorf herumerzählt hätte, dass Emmelius seiner Standespflicht nicht nachgekommen sei? Dadurch wäre Aronja auch nicht wieder lebendig geworden. Vielleicht wäre sogar die Polizei vorgefahren und hätte ihm unangenehme Fragen gestellt.
Der Herrgott hatte Aronja in dieser Nacht zu sich genommen. Dass sich dieses Schicksal nicht in ihrem eigenen Bett ereignet hatte, dafür konnte er nichts. Und nun sollte ihm dafür die Suspension drohen? Und sowieso: Wer, wenn nicht er, wäre prädestiniert gewesen, diese wunderbare Frau auf ihrem letzten Weg zu begleiten?
Gleichwohl hörte er diese Stimme. Hast du denn alles vergessen, was du so viele Jahre selbst verkündet hast?

***

«Ich habe so etwas schon lange nicht mehr gemacht», stellte Emmelius klar, nachdem er Aronja hereingebeten hatte. Die einzige Frau, die er jemals allein bei sich zu Hause empfangen hatte und kein Mitglied der Gemeinde war, hiess Nadine. Das war vor vierundzwanzig Jahren. Bevor er bei der Weihe sein Versprechen abgegeben hatte.
«Ich habe mich auf dich gefreut, Emmelius», sagte Aronja.

***

Rund sechzehn Stunden brauchte Emmelius für das Schreiben einer Predigt. Ziemlich genau so viel Zeit blieb ihm an diesem Tag, um sich einen Plan zurechtzulegen, wie er dieses Geschehnis nach Einbruch der Dunkelheit würde aus dem Diesseits schaffen können. Und dieser Plan glich der Struktur seiner bei der Gemeinde so beliebten Reden: Auch er war stringent, durchdacht und gut recherchiert. Ob er auch so fehlerfrei wie Emmelius’ vorgetragene Texte war, sollte sich weisen.
Emmelius hatte verschiedene Optionen in Betracht gezogen. Die Leiche in einem Gewässer zu versenken, war die erste. Würde sich der Sarnersee für dieses Unterfangen eignen? Gäbe es ein Ufer, an dem er unbeobachtet wäre? Und wie würde er an ein Boot kommen, das er dann schnell mal in die Mitte des Sees manövrieren könnte, um die Tat auszuführen? Auch dünkte ihn die Methode etwas unchristlich. Er beschloss, zu Plan B überzugehen.
Emmelius staunte ob seiner klaren Gedanken. Waren das die eines Dieners oder die eines Frevlers?
Aronja im Wald zu vergraben. Diese Idee verfolgte er etwas länger. Rorwald, Chlisterli, Schattenberg. Er fasste mehrere Gebiete ins Auge. Prüfte auf der Karte deren Zufahrten, um mit seinem Renault möglichst weit in die Tiefe des Gehölzes vordringen zu können und den schweren Sack nicht zu lange über Äste und Tannzapfen schleifen zu müssen.
So berauscht er die vergangene Nacht verbracht hatte, so nüchtern war er nun im Begriff, deren Spuren aus der Welt zu schaffen. Vierundzwanzig Jahre lang hatte er sein Leben in den Dienst Gottes gestellt. Heute war der Tag gekommen, an dem er Gottes uneingeschränkte Liebe einfordern würde.
«Die Spürhunde!», schoss es Emmelius durch den Kopf. Er könnte noch so tief graben. Die würden Aronja früher oder später ausfindig machen. Die Polizei fände unter ihren Fingernägeln seine Hautschuppen. An ihrem Hals seinen Speichel. Auf ihrem Bauch seinen Schweiss.
Als Emmelius genauer über die Hunde nachdachte, hatte er eine Eingebung: Der Friedhof – hier würden die bellenden Polizisten wohl kaum hingeführt. Und wenn doch, würden sie inmitten des olfaktorischen Durcheinanders Hunderter Verstorbener aufheulen und keine verlässlichen Hinweise mehr liefern können.
Emmelius wählte Calvos Nummer.

***

Die fünf Stundenschläge der Pfarrkirche gingen Emmelius durch Mark und Bein. Nächstens würde ihm der Morgen grauen. Und er war noch immer nicht bei Herrn Wüthrich angelangt. Von wegen zwei Stunden. Emmelius war sauer auf Calvo. Und erhöhte die Auswurfkadenz.
Dann kam es, das Geräusch, dem Emmelius so viele Stunden entgegengeschaufelt hatte: Metall auf Pappelholz – so dumpf, wie es nur frühmorgens in zwei Metern Tiefe tönen konnte. Emmelius liess Aronja unter Zuhilfenahme von zwei Stricken langsam ins Loch, sprach eine kurze Grabesrede, in der er ihr Leben, Lieben und Wirken im Laufe ihres letzten Abends würdigte, segnete die Stätte mit Weihwasser und bekreuzigte sich.
Er schüttete die auf der ausgerollten Plane liegende Erde zurück ins Loch. Die Glocken läuteten halb sechs. Emmelius schwang die Schaufel noch etwas zügiger. In der Eile touchierte er den Grabstein. Angstschweiss schoss an den undenklichsten Stellen aus den Poren. Ein Kontrollblick. Aufatmen. Der Marmor schien unversehrt. Emmelius schloss den Graben, setzte die winterharte Knospenheide sorgfältig wieder ein und brachte Karette und Werkzeuge zurück zum Gärtnerhaus.

***

«Mein Onkel», sagte die junge Frau.
«Mein Beileid», sagte Calvo, der gerade dabei war, die Knospenheide auf den Reihengräbern durch Vergissmeinnicht zu ersetzen.
«Er schrieb sich nicht so.»
«Was meinen Sie?», fragte Calvo. «Wie schrieb er sich dann?»
«Ohne Aigu.»
«Ohne Aigu.»
«Sie wissen schon, der Strich auf dem E.»
«Ich verstehe, der Strich auf dem E.»
«Ich glaube nicht, dass Onkel Andre das gefallen würde.»
«Es würde wohl niemandem gefallen, einen Fehler im Namen auf dem eigenen Grabstein stehen zu haben.»
«Einem Lehrer wohl am wenigsten.»
«Lehrer war er also.»
«Können Sie mir sagen, wer diesen Stein hergestellt hat? Ich möchte das gerne korrigieren lassen.»
«Sicher. Die meisten unserer Grabmale werden von …»
«Guten Tag, Frau Wüthrich», unterbrach ihn Emmelius, der die zwei durch die Kirchenfenster beobachtet hatte und zu ihnen gestossen war. «Schön, Sie wiederzusehen.»
«Herr Emmelius, gut, dass ich Sie treffe. Sehen Sie sich das an. Dieser Steinmetz hat ganze Arbeit geleistet.»
Emmelius sah zum Grabmal. Und wieder zurück zu Frau Wüthrich. «Ich verstehe nicht ganz.»
«Das Aigu.», sagte sie.
«Wie bitte?», fragte Emmelius.
«Du weisst schon, der Strich auf dem E», erklärte Kollege Calvo.
«Was ist damit?»
«Das gehört da nicht hin, Herr Emmelius.»
Emmelius verstand.

***

Im Vorgarten standen Dutzende unbearbeiteter Steinblöcke aus Marmor, Granit und Kalkstein. Bereit für neue Tote. Drinnen befanden sich Statuen, Büsten und typografische Arbeiten. Der Raum glich mehr einem Künstleratelier, denn einem Ort, an dem Hinterbliebene respektvoll bei der Auswahl eines passenden Grabsteins begleitetet würden. Aus dem Radio erklangen Jimmie Lighthouse & The Nashville Brothers.
«Calvo! Herr Emmelius! Und Sie sind Frau …?»
«Wüthrich.»
«Rüegg. Wie kann ich Ihnen helfen?»
«Ich möchte einen Schreibfehler auf einem Grabstein melden.»
«Auf einem Grabmal, das ich entworfen habe?», fragte der Bildhauer.
«Herr Emmelius meinte, Sie seien verantwortlich für den Grabstein meines Onkels, Andre Wüthrich?»
«Andre Wüthrich, ich erinnere mich.»
«Mein Onkel schrieb sich ohne Aigu.»
«Ohne Aigu also.»
«Ein Strich auf dem E, du weisst schon», erklärte Calvo.
«Ich weiss schon, Calvo, danke», sagte Rüegg. «Bei allem Respekt, Frau Wüthrich, es ist unwahrscheinlich, dass ich da spontan und nach eigenem Gutdünken einen Akzent gesetzt habe.»
«Unwahrscheinlich? Ich habe ihn ja mit eigenen Augen gesehen», entgegnete Frau Wüthrich.
«Das kann ich mir nur schwer vorstellen. Schauen Sie, in der Regel läuft es folgendermassen ab: Ich bekomme einen Auftrag. Einen Namen und zwei Jahreszahlen. Die sind fix. In Stein gemeisselt, wenn Sie mir dieses Wortspiel erlauben. Da habe ich keinen Interpretionsspielraum. Da bin ich nicht Künstler, da bin ich Handwerker.»
«Verstehe», sagte Frau Wüthrich.
«Meinen Umsetzungsvorschlag sende ich anschliessend an die Gemeinde. Das Bestattungsamt prüft meinen Vorschlag. Die Gestaltung, die Zahlen, den Text. Nicht zuletzt deshalb, um zu verhindern, dass mehrere Hinterbliebene unabhängig voneinander einen Grabstein bestellen.»
«Das ergibt Sinn.»
«Bevor ich den Meissel ansetze, bekommt der Auftraggeber die finale Skizze immer auch noch einmal zu Gesicht. Würde da irgendwo ein falscher Accent Aigu reinrutschen, jemand würde das bemerken.»
«Vielleicht passierte der Fehler ja erst später, beim Einmeisseln», brachte Emmelius vor.
«Ich mache keine Fehler», sagte Rüegg.
«Wir alle fehlen mannigfaltig», wandte Emmelius ein.
Frau Wüthrich senkte ihren Blick. Nach einem Moment des allgemeinen Schweigens deutete sie an, die Sache und damit auch ihren Onkel lieber ruhen lassen zu wollen.
Calvo schlug vor, gemeinsam zum Grab zu gehen.

***

Schlicht war er. Klassisch. Entlang des Stichbogens war eine Lilie in den Marmor gemeisselt. Darunter stand der Name des Verstorbenen. In Grossbuchstaben. Mit Accent Aigu.
Professionell pietätvoll legte Rüegg ein Brett auf die Erde, trat nah zum Stein heran und kniete nieder. Er begutachtete den kurzen Strich von links unten nach rechts oben über dem grossen E. Glitt mit seinen hornhäutigen Fingerkuppen über die Furche. Bevor er sich wieder erhob, drehte er sich zu Emmelius, Calvo und Frau Wüthrich, schüttelte den Kopf und sagte: «Der ist nicht von mir.»
«Was meinen Sie damit, der ist nicht von Ihnen?», fragte Emmelius.
«Das ist kein Strich, den ich so setzen würde. Zwar entspricht der Steigungswinkel tatsächlich in etwa demjenigen des Akuts der Antiqua, die ich hier verwendet habe. Und auch die Länge kommt hin. Allerdings verläuft die Breite des Strichs von unten nach oben konstant. Das Zeichen müsste schrifttypischerweise gegen oben hin kräftiger werden.»
«Bitte, Herr Rüegg», entgegnete Emmelius, «ersparen Sie Frau Wüthrich die Fachsimpelei. Wir sind doch alle bei gutem Verstand und erkennen den Akzent in aller Deutlichkeit.»
«Die Regeln der Typographie lassen es ganz einfach nicht zu, einen solchen Strich zu setzen», erklärte Rüegg. «Da Sie mir offensichtlich nicht glauben, komme ich nicht umhin, Ihnen die Situation aus fachlicher Perspektive zu beleuchten.»
«Bitte», sagte Frau Wüthrich.
«Wie Sie sehen, ist die Inschrift keilförmig eingearbeitet. Bei dieser Technik, die ihre Ursprünge übrigens in der Keilschrift der Sumerer hat, wird mit dem Meissel von beiden Balkenseiten schräg in die Tiefe des Steins gearbeitet, bis sich die beiden Schrägen in der Mitte treffen. Sie können sich das wie ein V vorstellen. Dieser klassische Stil ist bei dem vermeintlichen Accent Aigu nicht vorhanden.»
«Das beweist gar nichts.» Emmelius’ Geduld schwand.
«Das beweist, dass hier kein Bildhauer am Werk war. Es könnte sich jemand einen Spass erlaubt haben und mit einem Werkzeug den Strich eingekratzt haben. Das geht bei einem Weichgestein wie Marmor relativ leicht.»
«Wer sollte so etwas tun?», fragte Frau Wüthrich.
«Ich weiss es nicht», fuhr Rüegg fort, «vielleicht ist auch einfach jemand aus Versehen mit einem harten Gegenstand etwas nah an den Stein geraten. Ein Trauernder. Oder ein Gärtner.»
Calvo erschrak. Hatte ihn der gute Rüegg da eben völlig aus dem Nichts zu einem möglichen Schuldigen in dieser Sache gemacht? «Ein Gärtner soll also eher einen Fehler machen als ein Bildhauer?», wehrte er sich.
Calvo sah zu Emmelius. Emmelius zu Frau Wüthrich. Und Frau Wüthrich nur mehr auf das Aigu, das also keines war.
Das Aufheben um sein Geheimnis wurde Emmelius langsam zu gross. Er drängte auf eine Lösung. «Hören Sie, Herr Rüegg, regeln wir die Angelegenheit doch einfach pragmatisch. Wie wäre es, wenn Sie den Fehler einfach behöben?»
Rüegg erklärte, dass man hierfür das Grabmal entfernen und zurück in die Werkstatt transportieren, die gesamte Vorderseite abfräsen, neu schleifen und mit dem Einmeisseln sämtlicher Ziffern, Buchstaben sowie der Lilie von vorne beginnen müsste. Er habe weiss Gott Besseres zu tun als zwei Tage Fronarbeit zu leisten für einen Fehler, den er nicht verantworte.
«Lassen Sie es uns so machen, Herr Rüegg», leitete Emmelius sein Machtwort ein, «Sie bringen das jetzt in Ordnung und die Pfarrei St. Peter und Paul empfiehlt Sie auch in Zukunft gerne wieder weiter.»

***

Der braune Pritschenwagen rollte leise über das Kies und hielt am Fusse des Ostsektors. Rüegg entstieg dem Fahrzeug, zog die Handschuhe an und schwang sich auf die Ladefläche. Er schob die Stechkarre unter den ehemals vierhundert, jetzt nur mehr dreihundertssechzig Kilogramm schweren Gesteinsblock und schob ihn auf die Hubladebühne.
Calvo und Emmelius winkten ihm vom Gärtnerhaus aus zu und eilten herbei. Ersterer, um beim Aufstellen des Grabsteins zu helfen. Letzterer, um nach dem Rechten zu sehen. Rüegg erwiderte den Gruss mit einer minimalen Kopfbewegung.
Der Bildhauer schob die schwere Last über die Anhöhe des Ostsektors und setzte sie hinter Andre Wüthrichs Grab ab.
Gemeinsam mit Calvo hievte Rüegg den Koloss auf den Sockel. Emmelius musste mitansehen, wie der Stein zwar passgenau in der Verankerung einrastete, sich darauf jedoch unversehens nach vorne neigte. Immer weiter. Bis er vollends kippte und Calvos liebevoll gepflanzte Vergissmeinnicht dumpf plattmachte.
Calvo legte seine Hände über den Kopf. Emmelius stand statuenhaft dahinter.
«Was zum Teufel …», stiess es aus Rüegg hervor. «Sakrament! Wie ist das möglich?»
«Was ist da passiert?», fragte Calvo.
«Frag mich ’was Einfacheres!», antwortete Rüegg. «Ich habe das Betonfundament vor zwei Monaten erstellt. Wie immer exakt ein Jahr nach der Bestattung. Alles war bestens. Die Erde hatte sich gesetzt, der Boden war ausreichend verdichtet. Jetzt ist er locker wie direkt nach einer verdammten Beerdigung!»
Emmelius schloss die Augen.
Rüegg trat einen Schritt zurück und sagte: «Ruf die Polizei, Sepulturero.»

Dieter Boller, geboren 1980 in Zürich, studierte Publizistik und Psychologie an der Universität Zürich. Nach seinem Master arbeitete er zwölf Jahre als Werbetexter in verschiedenen Schweizer Agenturen. 2019 hat er sich als freier Texter, Konzepter und Autor selbständig gemacht. Wenn er gerade keine Werbetexte textet, textet er Werbetexte wie diesen hier. Und schreibt Kurzgeschichten. Dieter Boller lebt mit seiner Frau und seinen zwei Söhnen in Zürich.