«Tschuldigung», sagte er und verschwand. So zerbrach ihre Teenagerliebe. Jana war siebzehn und hatte ihrem Jugendfreund soeben gestanden, dass sie schwanger war. In diesem Moment zerbrach auch ihre Kindheit, die Unschuld hatte sie schon früher verloren. Als Dorfschönheit war sie es gewohnt, umschwärmt zu werden. Daumen rauf oder runter. Sie bekam, was sie wollte. Die attraktivsten Jungs. Sie hatte viele Neiderinnen. Bereits fühlte sie deren Spott ihren Rücken hinaufkriechen. Ihre Leibesfülle würde sie nicht verbergen können. Die Schule hatte ihr als Treffpunkt und Laufsteg gedient. Dort wurde ihr die Anerkennung zuteil, die sie sich so sehnlich von ihrem Vater gewünscht, und die er ihr ebenso beharrlich verweigert hatte. Mit guten Noten konnte sie nicht brillieren, da fehlten ihr gewisse geistige Fähigkeiten und das Interesse, das sie lieber auf andere Gebiete lenkte wie Mode oder Schwärmereien für die angesagten Film- und Musikgrössen.
Am Ende der Schulzeit fand sie in der nahen Kleinstadt eine Anstellung in einem gut besuchten Café an der Einkaufsgasse. Trotz Überredungskünsten der wohlmeinenden Lehrerschaft mochte sie keine Ausbildung antreten. Es lockten das schnelle Geld und die Selbständigkeit. Der Lohn war mässig, doch besserte sie ihr Gehalt mit Trinkgeldern auf. Ihr charmantes Wesen lockerte manchen Geldbeutel. Dass sie nie einen Arbeitsvertrag unterschrieben hatte, kümmerte sie wenig. Die Welt lag ihr zu Füssen, besonders in letzter Zeit, als sich ein junger Banker namens Kenny besonders grosszügig gab. Typ Sonnyboy im Anzug. 25 Jahre alt. Eines Tages lud er sie zum Apero ein. Dann zum Abendessen. Dann ins Kino. Schliesslich zu sich nach Hause. So nahm die Geschichte ihren Lauf.
Das Kind wurde geboren, ein süsses Mädchen, wie konnte es anders sein. Rosanna wurde der Grossmutter in Obhut gegeben und wuchs vorwiegend bei ihr auf. Jana verlor ihre vertraglich nicht abgesicherte Stelle. Das Arbeitslosenamt schickte sie in ein Programm für Jugendliche ohne Ausbildung, wo sie rudimentäre Schulkenntnisse aufarbeitete und bald eine Praktikumsstelle in einem Coiffeurgeschäft antreten konnte. Sie stellte sich so geschickt an, dass ihr ein Ausbildungsplatz an selbigem Ort angeboten wurde. Sie sagte zu. Mit der Berufsschule bekundete sie einige Mühe, doch schaffte sie die Lehre und trat hinaus in eine solidere Selbständigkeit als zuvor. Sie zog in eine grössere Stadt und arbeitete im Salon eines renommierten Haarkünstlers. Regelmässig traf sie ihre Tochter, die bereits den Kindergarten besuchte. Am liebsten nahm sie die Kleine an Jahrmärkte und auf Einkaufstouren mit. Ersteres, weil das Kind das Karussellfahren liebte und sich nach Herzenslust mit Zuckerwatte verschmierte, Letzteres, weil Jana sie selber einkleiden wollte. Der Geschmack ihrer Mutter schien ihr zu altbacken. Ihre Tochter sollte sich nicht schämen müssen.
Am Martinimarkt, als Rosanna vergnügt ihre Runden auf einem Einhorn drehte, meinte Jana, an der Glühweinbar Kenny zu entdecken. Seit dem abrupten Abschied hatte sie ihn nicht mehr gesehen, da er fortan das Café mied, in welchem sie damals arbeitete. Auch später gab es keine Begegnungen mehr. «Entschuldigung, wenn ich dich anspreche; bist du Kenny?», hörte sie sich sagen. Befremdet musterte er sie. Er hatte sich verändert. Die Haare schon leicht ergraut und auch nicht mehr so dicht, das fiel ihr sofort auf. Die Augen blau wie eh und je, doch ohne die frühere Leidenschaft. Dass sie sich viel mehr verändert hatte, war ihr nicht bewusst. Rot gefärbte Haare, Side Cut und Piercing in Nase, Zunge und Augenbraue. «Schon möglich», brummte er und wendete sich ab. Seine Kumpane, geschleckte Anzugträger allesamt, schienen sich zu amüsieren. «Seltsamer Frauengeschmack … Nutte …», klang in ihren Ohren nach. Verdammte Aasgeier, dachte sie und suchte ihre Tochter, die schon vom Karussell heruntergestiegen war und weinend nach ihrer Mama rief.
Es ging auf Weihnachten zu, der Salon lief auf Hochtouren. Man brezelte sich auf fürs Fest, der perfekte Haarschnitt musste her. Jana wollte soeben in die Mittagspause gehen, da sah sie ihn. Kenny betrat strahlend das Geschäft und liess sich von Jasmin zum Stuhl in der Herrenabteilung geleiten. Jana stupfte sie an und zog sie hinter das Gestell mit den Pflegeprodukten. «Überlass mir diesen Kunden», raunte sie. «Ich erkläre dir später, warum.» Jasmin zuckte mit den Schultern und liess ihre Kollegin gewähren.
«Bitte den Nacken sauber ausrasieren und oben etwas mehr stehen lassen.» Jana machte sich ans Werk. Obwohl sie es zu vermeiden suchte, begegneten sich ihre Blicke im Spiegel. Sie war sicher, dass er sie erkannt hatte. Umso besser, dachte sie und führte den Rasierer immer weiter hinauf, bis sie seinen Scheitel erreicht hatte. «Was machst du da!», entsetzte er sich. Und weil sie nicht aufhörte, sprang er auf und entledigte sich seines Umhangs. «Das bezahle ich nicht!», empörte er sich und steuerte dem Ausgang zu. Sie stellte sich vor ihn hin und sagte: «Tschuldigung!»
Katharina Michel-Nüssli, geboren 1964, aufgewachsen in Kollbrunn im Tösstal, lebt in Amriswil, verheiratet mit Moritz, zwei ausgeflogene Kinder, Primarlehrerin, Lerntherapeutin, Jobcoach, hat ein Buch mit kurzen Texten «Sommersprossen und Kondensstreifen» geschrieben. Aktuell im Diplomlehrgang Literarisches Schreiben, SBVV, geleitet von Michèle Minelli und Peter Höner. Ich liebe das Lesen, die Natur, die Gerechtigkeit, die Musik und natürlich Menschen, die mein Leben prägen und geprägt haben.
Illustration © leale.ch