44,44, sagte der Mann an der Kasse und schaute überrascht. Ein interessanter Betrag, fügte er an. Ich stand in einem Bioladen in Konstanz und zückte meine Geldbörse, während ich ihn anschaute. Dass er diese Zahlen interessant genug fand, um sich zu äussern, liess mich innehalten. Sein Gesicht war schmal, es hatte etwas Römisches, die Augen strahlten verhaltene Wärme aus.
In der Geldbörse hatte ich Kleinnoten und eine letzte Visitenkarte mit Namen und Telefonnummer. Ich schob ihm einen 20 Euroschein zu mit der Visitenkarte, als wären die zwei Blätter verschweisst.
Er guckte kurz, legte den dicken Schein in die Kasse, nickte mir zu, seine Augen blieben freundlich, seine Mundwinkel zuckten leicht.
Dass ich einem wildfremden Mann soeben meine Telefonnummer gegeben hatte, überraschte mich.
Ich bin ja nicht mehr die Jüngste, glücklich geschieden, lebe gerne allein.
So what, dachte ich und vergass die Sache.
In meinem Bauch lag wenig später ein minimaler Teil eines Kalbes, das über Mittag als Gulasch serviert wurde mit Spätzle und Gemüse; so stand es auf der Karte und ich wollte unbedingt auf den See schauen. Für einen guten Platz muss man mitbezahlen, dachte ich und dankte dem Kalb, dass es mir Energie spendete.
Nach dem Essen und weiteren kleinen Einkäufen fuhr ich zurück nach Winterthur. Sommerlich warme und zu trockene Herbsttage folgten, danach schlich sich der Nebel in die Gassen. In mein Gemüt. 55 Jahre und zu oft allein.
Trotzig schmückte ich den kleinen Nadelbaum, der auf dem Balkon steht und sich bestimmt nicht auf den alljährlichen Glimmer freut. Hier ein Holzpferdchen an einer goldenen Schnur, dort ein Engelchen mit Posaune: Alles vor wenigen Jahren auf einem Seconhand-Weihnachtsbasar erstanden. Der ganze frühere Schmuck liegt beim Ex in einer Kiste auf dem Estrich.
Noch ein Esel, dachte ich, den hänge ich neben den Hirten.
Fertig.
Ich schenkte mir einen Cynar ein, goss Orangensaft dazu und betrachtete mein Werk.
Da läutete das Telefon. Es war am 19. Dezember.
Eine fremde Nummer leuchtete auf. Normalerweise nehme ich keinen Anruf einer fremden Nummer entgegen.
Hallo, sagte ich.
Eine männliche Stimme sagte hastig:
Tschuldigung, hier ist 44, 44 mein Name ist Joshua.
Ich musste mich setzen, doch das sah er natürlich nicht.
Eine Hitze schob sich vom Kopf in den Bauch in die Beine. Er. Ich sah ihn vor mir, seine warmen Augen, seine Mundwinkel.
Am 24. Dezember sass Joshua in meiner Stube, legte ein flaches Paket unter den Baum und betrachtete den Engel mit der Posaune.
Machst du Musik, fragte er.
Meine Gitarre ist kaputt, leider, sagte ich.
Aber ich singe oft für mich allein.
Er schaute mich an, näherte sich meinem Gesicht und fragte: Sopran oder Alt?
Von da an hatte ich einen Freund. Er hat eine großartige Singstimme. Er hilft nur manchmal aus im Bioladen in Konstanz. Trotzdem hat uns an jenem Tag eine Zahlenkombination zusammengeführt und mein Mut, ihm meine Telefonnummer zu geben. Der Zug trägt uns in 56 Minuten von einem Ort zum anderen. Dazwischen liegt allerdings eine Grenze. Wir sind am Überlegen, wie wir diese in schlechten Zeiten überwinden könnten.
Das Geschenk war übrigens in braunes Packpapier eingeschlagen und enthielt ein Buch. Es waren Gedichte von Rumi, einem Sufi-Mystiker aus dem 12. Jahrhundert.
„Das Leben ist kurz wie ein halber Atemzug – pflanze nichts als Liebe», stand als Widmung darin. Dein Joshua
Ruth Loosli ist 1959 in Aarberg geboren und im Berner Seeland aufgewachsen. Sie ist ausgebildete Primarlehrerin und hat drei Kinder. Seit 2002 lebt und arbeitet Ruth Loosli in Winterthur, wo sie sich in verschiedenen literarischen Projekten engagiert. Neben dem Schreiben von Prosa und Lyrik gestaltet sie auch Schreibbilder. 2023 wurde Ruth Loosli für ihren Lyrikband «Ein Reiskorn auf meiner Fingerkuppe» mit einem Preis der Stadt Zürich geehrt.
«Ein Reiskorn auf meiner Fingerkuppe» Caracol; «In ihrem neuen Lyrikband zeigt sich Ruth Loosli wortverspielt und ernst zugleich. In fünf Zyklen vereint sie eine Vielfalt an Themen, die sie zu Gedichten und kurzen Prosatexten verwebt: Politik und Gesellschaft vermischen sich mit persönlichen Erfahrungen und Eindrücken. Alltägliche Bilder sind hinterlegt mit Fragen an diese Welt.
Illustration © leale.ch