Christine Bonvin «Sprachlos» -«Tschuldigung» 3

Wer hätte das gedacht? Niemand. Wirklich niemand kann sich vorstellen, dass der Samichlaus vor einer Fünfjährigen verstummt. 

Tinas Einfallsreichtum kannte beinah keine Grenzen. Ständig hatte sie Ideen, spann Geschichten im Kopf und überraschte die Erwachsenen mit ihren Gedankengängen. Unter anderem holte sie sich Inspiration aus den Globibüchern. Zum Beispiel band sie eines Tages ein Portemonnaie an einen unsichtbaren Faden, legte es auf die Straße vor dem Haus und versteckte sich hinter dem Gartenzaun. Ein Mann bückte sich, um nach dem Geldbeutel zu greifen, aber Tina zog ruckzuck am Faden und brachte das gute Stück in Sicherheit.  Der verdutze Mann hörte ein Kichern im Busch. 

Wenn sie nicht zu Streichen aufgelegt war, hörte sie Märchen ab Tonband. Mit Vorliebe das der Gebrüder Grimm „Von einem der auszog, das Fürchten zu lernen“. Ihre Eltern sorgten sich manchmal, ob der Unbekümmertheit und fantasievollen Ausflügen ihrer Tochter, ließen sie aber gewähren. Nur ab und zu hoben sie den Mahnfinger und sagten: „Wenn du nid brav bisch, chunnt de Samichlaus, steckt dich in Sack und nimmt dich mit in Schwarzwald. I sim Waldhüsli muesch du hälfe schaffe und chasch kein Schabernack meh anstelle.“ 

Tina beeindruckte das nicht. Ein Plan begann zu wachsen. Sie konnte sich prima vorstellen, wie es wäre, in einer Hütte im Wald zu wohnen, mit dem Nikolaus und seinem Esel. Ob der Mann wohl auch eine Frau hatte?, fragte sie sich. Denn ihre Mutter beklagte sich immer wieder darüber, dass Tinas Hosen Löcher hatten, auf die sie Flicken nähen musste. Aber vielleicht besaß der Samichlaus ja selbst eine Nähmaschine und konnte damit umgehen. Und sonst wäre es auch egal. So wichtig waren ihr die Klamotten nicht. 

„De Samichlaus chunnt morn, aber muesch kei Angscht ha. Er bringt dir sicher öppis mit“, verkündete die Mutter anfangs Dezember. Tina freute sich. Für sie war es unvorstellbar, dass jemand, der den Kindern Geschenke brachte, nicht lieb war. Diejenigen, die eine Fitze bekamen, hatten es wohl verdient, denn sonst würden sie ja keine bekommen – oder? Und weil sie neugierig war, wie es im Schwarzwald sein würde, packte sie ihre Siebensachen in einen Plastiksack. Eine Unterhose, ein Unterhemd, Socken, einen Pulli, die Lieblingshose und ihren Stoffdackel Seppli. Sie sagte niemanden etwas und lernte brav das Sprüchli auswendig, das der Vater ihr beibrachte:

Was isch das für es Liechtli,
was isch das für en Schii?
De Chlaus mit de Laterne
lauft grad de Wald durii.
Siin Esel, de hät glade,
er rüeft I-a, I-a!

Hüt dörf ich mit mim Meischter
emal is Schtedtli gaa.
Im Sack da häts vill Nüssli,
au Tirggel, Zimetstern,
die träg ich, au wänn’s schwer isch,
für d‘ Chinde schüli gern. 

Ihre Gedanken schweiften immer wieder zum drolligen Esel, den sie füttern und streicheln wollte und dem Häuschen im tiefen, dunklen Tannenwald. Das würde ein Erlebnis. Sie freute sich riesig. Sie konnte es kaum erwarten. Um sich abzulenken und die Zeit zu vertreiben, ging sie in den Garten. Dort stand ein Stechpalmenstrauch. Sorgfältig zupfte sie ein paar der stacheligen Blätter ab. Sie plante eine kleine Überraschung für ihren Bruder. Er hatte sie ausgelacht, als sie ihren Vers auswendig gelernt hatte.

„Du bringsch sicher keis Wort use, wenn de Chlaus da isch. Dänn vergoht dir din Uebermuet. Und will du immer so frech bisch mit mir, nimmt er dich sicher mit.“

Sie hatte ihm wortlos einen Tritt ans Bein versetzt. Nun schlich sie unbemerkt in sein Zimmer, platzierte die stacheligen Blätter auf der Matratze seines Bettes, formvollendet versteckt unter dem Leintuch. Es schauten nur die Spitzen aus dem Laken am Fußende. Moritz würde eine picksende Überraschung erleben, wenn er sich hinlegte. Aber er hatte es verdient, kleine Schwestern auslachen, war nicht nett. Vor dem Nikolaus brauchte sie keine Angst zu haben, der war unterwegs. Der spähte jetzt bestimmt nicht durch das Fernrohr, um Mädchen zu beobachten, wie sie ihren Brüdern Streiche spielten. Außer er hätte die Engel angestellt. Dieser Gedanke verunsicherte sie ein wenig. Aber sie würde es ihm später überzeugend erklären, falls er sie darauf ansprach. 

Endlich läutete die Türglocke und Tina hörte ein Glöcklein bimmeln. Jetzt war er da, der große Moment. Sie rannte zur Türe und begrüßte den rotgekleideten Mann mit dem weiß gelockten Bart und den wallenden Haaren überfreundlich: „Sali Samichlaus, mir händ scho uf dich gwartet.“
„Guete obig, Tina. Danke für de fründlich Empfang. Ich freue mich uf de Besuch be dir und dinere Familie.“
„Und wo hesch de Esel?“, fragte Tina.
„De het sich leider de Fueß verstucht. Er ruht sich dehei us. Ich bin mit em Auto unterwägs.“
„Oh, de Armi!“

Die Eltern führten den Samichlaus in die Stube. Er setzte sich in Vaters Sessel. Unter seiner Brille durch schaute er die beiden Kinder prüfend an. Moritz trat hinter Tina. Es war, als wolle er sich ein wenig verstecken. 
„So, ihr zwoi. Sind ihr au immer brav gsi?“
„Meischtens“, antwortete die Kleine, ohne lange zu überlegen.
„Denn wott i emol luge was i do ine stoht!“, brummte der Claus in seinen Bart.

Er öffnete das dicke, rote Buch und schaute streng zu Moritz.
„Du hilfsch de Eltere viel im Garte. Und i de Schuel schaffsch fliessig. Aber du söttisch dini Schwöster weniger ärgere.“
Moritz nickte beschämt. Der Claus griff in seinen Sack und zog ein Geschenk daraus.
„Ich ha dir öppis mitbrocht. Aber zerscht wotsch mir sicher es Versli uf säge?“
„Sami niggi näggi, hinderem Ofe steggi, gib mir Nuss und Biere, denn chummi wieder führe“, ratterte der Junge runter. Er ging einen Schritt auf den Samichlaus zu, nahm das Säckli entgegen und stand schnell wieder hinter seine Schwester.
„Und jetzt, chumm ich dra?“, fragte sie ungeduldig.
„Jo, ich luge emol, was über dich im Buch stoht.“
 Der Claus runzelte die Stirn.
„Du bisch es liebs Chind, füetterisch immer s Büsi und tusch abtische nach em Äße. Du hesch aber öppe emol Flause im Chopf und chunsch z spot zum Zmittag, ohni d’Händ z wäsche.“
„Das isch nid so schlimm, Samichlaus. Weisch, de Papi seit immer, es bitzeli Dräck sig gesund.“
Der Nikolaus schmunzelte in seinen Bart.
„Ich chumme aber trotzdem mit dir in Schwarzwald. Ich hälfe dir bim Säckli mache. Und de Esel möchti au streichle. Mini Sache han i scho packt.“
Der Samiclaus öffnete und schloss den Mund, ohne etwas zu sagen. Er schaute das Kind verwirrt an. Sie stand strahlend und erwartungsvoll vor ihm und wartete auf seine Antwort. Die Eltern und der Bruder standen wie versteinert da.
„Tschuldigung. I ha di glaub nid rächt verstande. Du wottsch mitcho?“
„Jo. Ich mache au kei Arbet. Im Gägeteil, ich hälfe dir. Wenn du nid chasch Chleider flicke, isch das glich, denn laufi mit verrissene Hose ume.“

Langsam kam der Mann zur Besinnung. 
„Dis Mami, de Papi und din Brüder würdet dich sicher vermisse, wenn du furt gingsch.“
„I chumme jo wieder hei. Und sie händ scho lang gseit, dass i emol zu dir dörf.“
Er öffnete den Jutesack und meinte: „Jo, wenn du meinsch. Denn muesch aber i de Sack ine. Das i dich cha mitneh.“
Tina griff zu ihrem Plastiksack, den sie hinter den Sessel gestellt hatte, und stieg in den Jutesack.
„Tschüss, zäme“, winkte sie den verdutzten Eltern zu.
Diese schauten sich und den Claus fragend an. Was jetzt? Spätestens beim Raustragen würde sich das Kind anders besinnen, dachten sie und gaben sich entsprechende Handzeichen. Aber sie täuschten sich gewaltig. 

Mit dem Bündel über den Schultern schritt der Nikolaus verunsichert bis zur Türe, öffnete sie und wartete auf eine Reaktion. Es kam keine. Er trug den Sack bis zum Auto, legte ihn hinten in den Kofferraum und rührte sich nicht von der Stelle.
Die Mutter zog ihren Mann am Arm und flüsterte: „Du muesch öppis mache. Das dörf doch nid wohr si.“ 
Dieser meinte geduldig: „Wart emol ab.“
Tina lag im Sack, mit ihren Reisesachen. Sie freute sich auf den Esel und die Hütte im Tannenwald. Müdigkeit überkam sie und sie fiel in einen tiefen Schlaf.

Unterdessen überlegten die Eltern und der ratlose Samichlaus, was zu unternehmen sei. Es gab nur eine Lösung. Sie trugen den Sack wieder ins Haus. Tina war unendlich enttäuscht, als sie auf dem Sofa im Elternhaus erwachte. Ihr Traum vom Ausflug in die Schwarzwaldhütte hat sich in Luft aufgelöst. Warum der Nikolaus nie mehr zu Besuch kam, erfuhr sie erst Jahre später.

© Yvon Poncelet

Christine Bonvin ist im Aargau aufgewachsen, lebt aber seit vielen Jahren in Sierre im Wallis. Als Betriebswirtschafterin setzte sie ihre Energien ein, um eine Firma aufzubauen. Die Geschichten schlummerten in einer Schublade, bis es Zeit war sie herauszuholen. Nebst drei Krimis wurden auch ein Freizeitführer und zahlreiche Kurzgeschichten in Anthologien veröffentlicht.

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