Alexander Estis «Handwörterbuch der russischen Seele»

A

ARALSEE. Ob es im Aralsee Korallen gibt, das ist nach wie vor ungeklärt. Nicht weil man es nicht untersucht hätte, sondern weil man zu bequem ist, es nachzulesen.
Obwohl es also ungeklärt ist, ob es im Aralsee Korallen gibt, glauben viele, daß er seinen Namen von den darin möglicherweise vorhandenen Korallen hat und früher Korallsee hieß. Aber auch das ist natürlich ungeklärt.

ARBEITSTEILUNG. Einer schaufelt, zwanzig schnauben; einer schraubt und zwanzig schauen; einer schmiedet, zwanzig klauen; einer schreit und alle glauben.

ARMEE, UNSERE. Unsere unbesiegbare Armee, unser unschlagbares Heer, unsere braven Jungs, unsere tapferen Männer, unsere furchtlosen Verteidiger, unsere großen Eroberer, unsere glorreichen Gefallenen, unsere sieghaften Versehrten, unsere hilflosen Invaliden, unsere hungernden Veteranen, unsere verarmten Rückkehrer, unsere nicht zurückkehrenden Kinder.

AUSLAND, Ausland! Wieso willst du in dieses Ausland, Swetlana? Es ist nicht gut hier, sagst du? Aber im Ausland eben auch nicht, Swetotschka, nein, sogar noch schlechter. Wie viel mehr schreckliche Katastrophen ereignen sich im Ausland als hier? Wie viel mehr verrückte Absurditäten? Und wie viel mehr Terror und Krieg? Die Kriege sind alle im Ausland, Swetlanotschka, selbst unsere Kriege. Schalt doch den Fernseher mal an. Im Ausland ist alles schlechter, zumindest vom moralischen Standpunkt aus. Und der moralische Standpunkt, Swetlana, wo ist der? Hier!

B

BABUSCHKA Großmutter, alte Frau. Babuschka heißt eigentlich Matrjoschka. In einer Matrjoschka ist immer noch eine und darin noch eine, und darin wiederum noch eine. Babuschkas kommen meist auch zu mehreren vor, aber sie sind innen hohl.
Babuschkas bilden die stabilste Institution Rußlands. Babuschka ist Gesetzgeberin, Strafverfolgerin, Staatsanwaltschaft, Rechtsprechung und Strafvollzieherin in einem. Ihr Hauptwerkzeug, das Geschnatter, von dem man nie wissen kann, ob es von ihr selbst oder von den sie begleitenden Elstern ausgeht, ist, demgemäß, zugleich Gesetz, Urteil und Höchststrafe. Es verfolgt und findet dich überall.
Also kauf dir lieber Matrjoschkas.

BAUMSTUMPF. Wenn ein Verbannter nach drei Jahrzehnten ins heimatliche Dorf zurückkehrt, aus solcher Gegend, wo ödes Felsgrau oder das trockene Gras der Steppe oder nur weißer, unendlich weißer Schnee den Boden zudeckt; wenn ein Verbannter von dort zurückkehrt und findet keinen, nur leere Häuser, nur, längst erkaltet, Kohle, Asche, dann lehnt er sich an eine Mauer oder hinunter schaut er in den Brunnen oder er setzt sich auf einen Baumstumpf und bleibt dort sitzen.

BALALAIKA Russisches Saiteninstrument; ebenso die Gusli. Die Balalaika hat nur drei Saiten, und zwei davon sind auch noch gleich. Aber ich mag die Balalaika trotzdem. Manchmal denke ich, das ist doch öde, drei Saiten, und zwei davon auch noch gleich. Nicht nur gleich, sogar identisch, ganz identisch, fast als wäre es eine einzige Saite. Dann hätte die Balalaika insgesamt sogar nur zwei Saiten. Und das ist doch öde, denke ich manchmal.
Balalaika, sage ich dann vorwurfsvoll, sieh dir die Gusli mal an, sage ich, so viele Saiten hat die Gusli, die kann ich nicht einmal zählen! Aber die Balalaika antwortet: Iwan, wenn du sie nicht zählen kannst, dann kannst du sie auch nicht spielen. Also sei es zufrieden. Und sie hat recht!

BALLETT. Das Ballett ist ein Traum, weil der Mensch vom Ballett träumt. Der Mensch träumt von den schwindelerregenden Pirouetten, von den artigen Pas de trois, von der schwerelosen Akkuratesse der Bewegung; davon träumt der Mensch.
Aber in Wirklichkeit träumt er nicht vom Ballett, er träumt vielmehr davon, vom Ballett zu träumen. In Wirklichkeit träumt er von Warmwasser. Davon träumt der Mensch. Oder vielleicht von Wohnraum. Aber er würde gern von was anderem träumen, der Mensch, und zwar vom Ballett.

BÄR, DER. Der Bär, das ist ein richtiger Russe. Er redet nicht gern, brummt nur vor sich hin, und nicht einmal das macht er gern. Er ist mürrisch und träge. Erst wenn du ihn am Riemen ziehst und mit dem Zuckerwürfel lockst, wenn du ihn wachrüttelst, ihn, sozusagen, involvierst in den Trubel, dann erst wird er rege, kommt in Fahrt, jongliert, brüllt, tanzt dir was vor auf der Arena. Danach nimmt er seinen Zuckerwürfel entgegen. Und dann wird er wieder mürrisch, kauert sich in die Ecke seines Käfigs und leckt sich die Pfoten.

BAZAR Markt; Händel. Maxim sagt, Kostja sei ein Gauner und ein Dieb obendrein. Kostja sagt, das sei reine Verleumdung, weil Maxim einen Neid habe auf seinen, also Kostjas, neuen Wagen. Kostja sagt, Maxim gebe sich für einen Polizisten aus, sei aber in Wirklichkeit nur ein Bahnkontrolleur, und selbst das nur im Regionalverkehr. Maxim sagt, Wirklichkeit sei ein Konstrukt und allein der Geist der Sittlichkeit könne uns retten. Kostja sagt, Maxim sei ein hundselender Idealist. Maxim sagt, Kostja sei Materialist und gerade deswegen ein Gauner, egal ob er den Wagen ge- stohlen habe oder nicht. – Was für ein Bazar!

BEMITLEIDEN, SICH SELBST. Wir haben gelernt, uns niemals selbst zu bemitleiden. Wir sind unermüdliche, eherne Pioniere, wir sind allzeit bereit. Doch auf Dauer zermürbt es natürlich, immer bereit zu sein, ehern und unermüdlich, nie sich selbst zu bemitleiden, auf Dauer raubt das alle Kraft. Ach, wir armen, wir elenden Pioniere!

BENEHMEN. Der Russe kann sich nicht benehmen, besonders in Deutschland, und zwar weil er nicht muß. Müßte er sich benehmen, könnte er es allerdings auch nicht, und zwar weil er nicht will. Aber wollte er sich benehmen, dann könnte er es, auch wenn er’s nicht müßte.

BESOBRASIE. Ungestalt, Formlosigkeit, Schande und Häßlichkeit. Davon gibt es in Rußland viel, aber auch außerhalb; aber vor allem innerhalb. Sagen wir, deine Frau hat dich verlassen, aber nicht einfach so, sondern sie hat den Schmuck deiner Großmutter mitgenommen, aber nicht einfach mitgenommen, sondern verkauft und mit dem Geld einen Anwalt bezahlt, aber keinen einfachen, sondern mit Beziehungen, und der hat Alimente durchgesetzt, und nun suhlt sich die Frau auf den Malediven im Sand und schlürft Mojitos und hat sich sogar Großmutters Schmuck zurückgekauft: wie fühlst du dich da? Und, sagen wir, gleichzeitig ist auch noch Krieg irgendwo im Kaukasus. Besobrasie.

BIRKEN. Weißt du, Bruder, Birken gibt es nur in Rußland. In den unendlichen heimatlichen Wei- ten, die es auch nur in Rußland gibt. Du sagst, es gibt woanders auch Birken? Das weiß ich doch, du Esel. Es gibt auch woanders Birken. Aber eben nicht solche Birken. Das hier sind schlanke, hochgewachsene Birken, wie im Lied, Birken- mädchen sind das. Verstehst du? Es sind unsere Birken. Hör mir auf mit deinem woanders, du profaner Kerl. Es gibt nur hier russische Birken, nirgends sonst. Und warum? Weil es woanders die heimatlichen Weiten nicht gibt, Bruder, dar- um gibt es auch nicht die russischen Birken.

BLINYS Russische Pfannkuchen. Singular: Blin; Plural: Bliny. Blinys ist die Mehrzahl von Bliny. Bliny wiederum ist die Mehrzahl von Blin. Schon dadurch sind Blinys sehr demokratisch. Darüber hinaus sind sie aber noch rund, sodaß man von jeder Seite gleich gut abbeißen kann. Sehr demokratisch. Aber das ist noch nicht einmal alles. Zusätzlich kann man sie mit allem möglichen befüllen, mit Schmand, mit Pastete, mit Marmelade, mit Kaviar, sogar mit deutscher Mettwurst oder amerikanischer Erdnußbutter. Ja, das ist alles möglich. Und das ist noch immer nicht alles. Blinys schmecken allen gleich gut, ob du aus Jakutien kommst, aus Mordwinien oder Baschkirien, ob du Holzfäller bist oder Leiter der Nationalbank, ob Patriot oder Staatsfeind. Ja, sogar dem Staatsfeind schmeckt es. Blinys sind reine demokratische Materie. Nur geplättet.

BORSCHTSCH. Borschtsch muß man schlürfen. Richtig mit Geräusch. Deshalb heißt er auch so: Borschtsch. Vorher muß man ihn allerdings kochen. Dazu braucht man Herzblut, Geduld und Rote Beete, von allem etwa gleichviel. Am Ende gibt man Schmand hinzu. Man schmeißt ihn, schleudert, schmettert ihn richtig in den Suppenteller. Deshalb heißt er auch Schmand.

BREITE DER SEELE. Die deutsche Seele ist in ihren Maßen konstant. Mit der russischen Seele verhält es sich ganz anders. Nicht an jeder Stelle ist die russische Seele gleich breit. Oft kommt es einfach darauf an, wie sie gerade liegt. So kann sie sich wider jedes Erwarten plötzlich als außerordentlich breit erweisen oder umgekehrt. Das ist das Geheimnis ihrer Breite.

(Die wiedergegebenen Texte sind nur die jene unter den Anfangsbuchstaben A und B!)

Alexander Estis wurde 1986 in einer jüdischen Künstlerfamilie in Moskau geboren; hier erhielt er eine Ausbildung an Kunstschulen und bei Moskauer Künstlern. Seit 2016 lebt er als freier Autor in Aarau. Alexander Estis arbeitet vorwiegend in literarischen Kleinformen (Kürzestprosa, Aphoristik, Glossen, szenische Miniaturen, Epigramme und lyrische Fragmente). Seine Texte werden in Anthologien und Zeitschriften (u.a. Sinn und Form, Lichtungen, Entwürfe) sowie als eigenständige Sammlungen publiziert. Ausserdem verfaßt er Essays, Glossen und Kolumnen (NZZ, Frankfurter Rundschau, Berner Zeitung, The European, Unabhängige Moskauer Zeitung u.a.). Für seine Texte erhielt er mehrfach Auszeichnungen und Stipendien, zuletzt den Rolf-Bossert-Gedächtnispreis. 2020–2021 ist er Lydia-Eymann-Stipendiat in Langenthal (Schweiz).

Alexander Estis «Handwörterbuch der russischen Seele.
Für den täglichen Privatgebrauch in deutschen Haushalten»,
Parasitenpresse Köln, 2021, mit Zeichnungen von Lydia Schulgina
70 Seiten, CHF 19.00, ISBN: 978-3-947676-70-5

Was ist der Unterschied zwischen Babuschka und Matrjoschka? Warum gibt es nur in Rußland richtige Birken? Wo gelangt man hin, wenn man mit der Transsibirischen Eisenbahn fährt? Warum hat die Balalaika nur drei Saiten? Worin besteht die Aufgabe des FSB? Welcher Kaviar schmeckt besser – roter oder schwarzer? Warum ist Putin fast wie Puschkin? Und vor allem: Weshalb ist die russische Seele so breit? Wer sich diese und ähnliche Fragen schon einmal gestellt hat, wird im »Handwörterbuch der russischen Seele« von Alexander Estis fündig werden – aber keine Antworten erhalten.

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