Simon Froehling «Körper, ein Verb»

Und Familie, das sind Schnüre, oder sagen wir: Blutsfamilie, das sind Schnüre, wählen wir rot, sind rote Schnüre über eine Landkarte gespannt, wie im Krimi, und die Fakten, die ich kenne, Stichwort Migration, sind Reissnägel, Länder aufgespiesst, wie mit den Flaggen der Besetzer früher, der Besetzer heute, sind Schottland, sind England, sind Griechenland, sind Deutschland, sind Australien, sind Südafrika, sind immer wieder die Schweiz, und man stelle sich trotz der Statik dieses Bildes die Bewegungen vor von all den Körpern, Mutterkörpern, Väterkörpern, all die Grossmütter, Grossväter und die Söhne und die Töchter und alle Formen dazwischen, bewegt bis hier und jetzt, tägliche Berührungspunkte per SMS, Email, Telefon, Wie geht es dir, what are you doing? 

Ich schreibe, sage ich, I’m writing about the things written into our bodies, into our genes, über die Heimatlosigkeit, über Identitäten, die wie Wasser sind, die Ozeane sind zwischen unseren Kontinenten, jedes Festschreiben eine Fiktion, So bin ich, so bin ich nicht, an diesen Orten, Geburtsort, Bürgerort, Wohnort, verbunden mit Schnüren, die Sehnen sein könnten oder Handlinien, in denen ungefähre Lebenslängen zu lesen sind, die aber sonst keine Antworten bereithalten, zum Beispiel auf die Frage nach gefühlten Geschlechtern, die nichts mit Pronomen in einer Signatur zu tun haben, oder auf die Frage nach der Asexualität meines Bruders, und immer wieder danach, warum wir keine Kinder wollen, meine Schwester und ich, Aren’t you worried you’ll regret it? Eines Tages bereut ihr es bestimmt, und all die anderen Fragezeichen, die eigentlich Symptome sind, als Diagnosen verkleidet, Grossmutters Alkoholismus zum Beispiel, und die Depressionen, die wie Flechten alle Äste unseres Stammbaums überziehen, oder die Frage nach der Ängstlichkeit meiner Mutter sowie jene nur ein Mal laut gestellte nach ihrer möglichen Unehelichkeit, ihrer Hautfarbe, dort zu dunkel, hier zu hell, und Opas Bemerkung zu unserem Vater, seinem Sohn, Wir dachten schon, du kommst mit einer Einheimischen zurück.

Überhaupt, was wir uns alles eingeheimst haben auf dem Weg von dort nach hier, all die Eigenheime hinter elektrifizierten Zäunen, all die SUVs mit ihren gepanzerten Scheiben, die Rassehunde mit ihren spitzen Zähnen, in Objekte umgemünzte Privilegien, um all die Peinigungen wettzumachen, festgeschrieben in unseren Körpern, die mein Körper sind, so dass ich nicht atmen kann am Morgen (hier, wo das Ich erwacht) und mein erstes Gefühl die geerbte Angst von meiner Mutter, sie setzt sich täglich auf meine Brust, in der ausserdem eine lange Leier von Asthma hustet, ausgelöst durch Allergien, durch Anstrengung und überhaupt: 

Alles, was sich angesiedelt hat in meinem Körper an Geschichten und Geschichte, selten nachzulesen, über geächtete Körper, verfolgte Körper, Körper lange ohne Stimme und wenn, dann umso schriller, diese History Herstory Theystory, die nichts mit Herkunft, mit Abstammung zu tun hat und deren Stein lange vor Stonewall ins Rollen kam, ja all die Steine, die geworfen worden sind und immer noch werden von marschierenden, protestierenden Körpern, all die grossen Brocken, in die Wiege gelegt, in den Weg gelegt, diesen instrumentalisierten, politisierten, verhandelten Körpern, diesen zu weiblichen, zu queeren Körpern, Körper nicht männlich genug, aber trotzdem gut als Arbeitskraft, besteuert und später zur Ruhe gesetzt, ruhig gestellt.

Ruhig Blut, mahnen meine Ahnen, und die Bilder, die ich sehe, sind das Blut, das wir spenden dürfen oder nicht, aus einem Buch, das ich gelesen habe oder nicht, sind die Rechte, die man uns zugesteht oder nicht, sind all die Paragrafen, die jenes verbaten und dieses noch immer verbieten , aus einer Ausstellung, die ich besucht habe oder nicht, sind die Nachkommen, die wir haben wollen, sollen, müssen oder nicht, aus einem Film, den ich gesehen habe oder nicht, und ich sehe, du siehst, wir sehen wieder rot, die Schnüre vermehren sich, Six degrees of separation, schlussendlich haben wir mit der ganzen Welt geschlafen, zu lange geschlafen, nicht genug geschlafen, und jetzt, wo ich heiraten darf, wo mein Bruder heiraten darf, meine Schwester heiraten darf in den meisten unserer Länder, das Echo des Standesbeamten auf Schweizerdeutsch zu meinem Vater, später übersetzt von der Trauzeugin meiner Mutter: Wir hätten es schon lieber, Sie würden eine hiesige heiraten. 

I got married at the rat house, sagt meine Mutter und meint das Rathaus, When are you finally going to tie the knot? Und ich sage, Ich zähle immer noch, ich Rattenfänger, I’m counting the scars, sie sind unzählig, die Narben, gefrässige Nagetiere, sie sind Hundebisse, sind Beschneidungen, sind diverse Löcher für Piercings, aktuell und verheilt, sind Tätowierungen, ganz viele und eine einzige aus Dachau auf dem Unterarm meiner Stiefgrossmutter, den Ärmel immer wieder hochgezogen, ein Vorhang zum Grauen, damit sich das Bild einbrenne in mir und sie nicht ausscheide aus meiner Geschichte, aus unserer Geschichte, der Geschichte ganz allgemein, und die Narben sind ein falsches Knie, sind ein neues Hüftgelenk, sind unzählige Leistenbrüche und immer wieder Blinddarmoperationen, sind gezogene Weisheitszähne und vereiste Warzen, sind ein amputierter Daumen, sind sexuelle Übergriffe, nicht nur von Männermenschen, über die wir nie, nie sprechen, sie sind zwei Überfälle mit einer geplatzten Lippe, zwei gebrochenen Rippen und diversen Prellungen, sind Beschimpfungen auf der Strasse, in Klubs, aus Autos heraus, recht oft, von den Leichen nicht zu sprechen, lassen wir die Toten ruhen, meist war es Krebs und, soviel ich weiss, nur einmal Suizid.

You need to keep it together, reiss dich zusammen, also zurren wir die Schnüre fest (hier, wo das Ich wieder stirbt) und unser Kokon, das sind ein möglichst gebildeter Geist und dazu die gelaserten Augen, sind das neue Gebiss, die begradigten Zähne, sind die falschen Brüste und das Bodybuilding, sind das bisschen Botox immer wieder, sind die Fruchtsäure-Peelings und das Make-up, ganz dezent, der Nagellack und das getönte Haar, sind die Bitte nach Berührung, Please touch us, touch our sick body, our young body, our ancient body, our white, Black, yellow body, touch our soft skin, our old skin, our dry, scaly, flaky skin, denn bald sind wir Schmetterlinge, bald schimmern, bald flattern unsere Flügel und lösen Wirbelstürme aus, und bald, bald sind wir Wind.

Simon Froehling, geboren 1978, ist schweizerisch-australischer Doppelstaatsbürger. Neben rund einem Dutzend Theaterstücken und Hörspielen hat er zwei Romane veröffentlicht (Lange Nächte Tag, 2010; Dürrst, 2022) und war sowohl für den Ingeborg-Bachmann-Preis als auch den Schweizer Buchpreis nominiert. Neben seiner Arbeit als Autor ist er als freier Dramaturg am Tanzhaus Zürich tätig. «Körper, ein Verb» wurde zuerst in Literatur + Kritik, Ausgabe Nr. 575/576 vom Juli 2023, im Otto Müller Verlag, Salzburg, veröffentlicht.

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Quentin Mouron «Extrait de L’Âge de l’héroïne»

Dans une ruelle piétonne de Prenzlauer Berg, coincée entre un bar à bières et un fast-food coréen, la Librairie du Nouveau Monde est le paradis du bibliophile.
– Vous avez la forme d’une libraire, mademoiselle Schulz. Vous n’avez pourtant pas une coiffure qui vous distingue, disons, d’une teinturière ou d’une enseignante au primaire (même s’il est exclu que vous soyez plasticienne ou coach en séduction). Vous n’avez pas non plus un regard, un sourire ou des mimiques qui vous trahissent. Il n’existe pas, spécifiquement, de nez de libraire, de sourcil de libraire, de carnation particulière; beaucoup de gens portent le même nez que le vôtre. Pourtant, en regardant votre visage, et pour peu que l’on sache différencier une femme d’une autre, on ne peut que s’écrier : «Voici une libraire!» Ce n’est pas tel élément singulier qui se surajoute à votre visage; c’est tout un masque qui se compose, lentement, en imperceptibles mouvements de fond. Vous deviendrez de plus en plus libraire, mademoiselle. Vous vous aggraverez. Les contours de votre visage, de votre masque, de votre vie (ces mots sont synonymes), seront de plus en plus nets. Oh, vous ne faites pas que vendre des livres, je le sais bien! Vous pratiquez la randonnée, la cuisine asiatique, vous donnez pour les aveugles et vous aimez, tard le soir, vous enfiler un doigt dans le derrière en écoutant Beethoven (particulièrement le majeur, particulièrement les derniers quatuors). Pourtant, vous serez toujours une libraire qui randonne, une libraire qui cuisine, une libraire qui donne – et une libraire qui se socratise lorsqu’elle rentre chez elle.
Mademoiselle Schulz pouffe.
– Et qui vous dit que j’attends toujours d’être rentrée chez moi?
Franck sniffe un trait de cocaïne à même la couverture du Tanzaï et Néadarné de Crébillon fils (dans l’édition Pékin Lou-Chou-Chu-La de 1734). Après avoir reniflé bruyamment, il dit, amusé, presque hilare:
– Voyons, mademoiselle, vous n’avez eu ici de plaisir que vaguement intellectuel, discrètement historique. Votre jouissance se tient quelque part entre la poussière et le néant. Mais votre provocation vous a coûté une rougeur; n’investissez pas à perte! Tournez-vous, je vous prie!
Ayant troussé la vieille libraire, Franck baise langoureusement son cul. Elle proteste. Il ne lui en maintient les cuisses que plus fermement; il y plante les ongles. Il se réjouit de ces fesses ridées comme d’un festin précieux. Il hume, il embrasse, il lèche, il mord. «Pas comme cela, Franck! se récrie la libraire. Vos doigts, vous me promettez vos doigts! Et voilà que vous m’arrosez de postillons, me faites la croupe en bave, me sarclez de morsures! Pour qui vous prenez-vous?» Elle se redresse, furieuse.
– Pardonnez mon appétit. J’ai toujours quelque répugnance à me servir de mes mains, sauf s’il s’agit de faire craquer une reliure ou de tuer un homme.
La vieille glousse.
– Voilà l’une de vos phrases, de vos trouvailles, suffisantes pour éblouir vos pucelles, vos bardaches. Avec moi, ça ne prend pas. Ouvrez-moi le cul et fermez votre gueule.
– Si la Poésie s’en mêle!
Franck retire sa chevalière, qu’il pose sur la table. Il inspire profondément et glisse son majeur entre les fesses de la libraire, puis son index. Il la débourre enfin à quatre doigts; il la fait virevolter dans les coins, sur les «éditions originales», sur les «autographes», sur les «beau papier», tous les «Hollande», tous les «Japon», tous les «maroquins rouges». Les amants tournoient. Le sol craque, tremble. Ils percutent une étagère. Bam! Trois Marmontel en tombent. Ils achoppent contre un pupitre: quatre Ronsard. Ils repartent en arrière, piétinent indifféremment Cazotte, Chénier et Thiers. Cette débauche! C’est un affolement. C’est une furie. Les vélins volent! Verlaine y passe. Sa poésie. Sa prose. En feuillets libres, en pluie d’agrafes. Les deux amants bondissent de l’autre côté de la pièce. Index, majeur, annulaire. Franck entonne un chant letton. Ils glissent sur un «grand format» ;Restif de la Bretonne. Ils se reprennent in extremis.» L’arrière-boutique! L’arrière-boutique!» glapit mademoiselle Schulz. Ils y parviennent; c’est une forêt de «débrochés», de «désagrafés», d’in-folio sans ordre ni rigueur. Ils s’y faufilent, y rèptent, s’y lovent – tout au cœur. L’Histoire. La Culture. La Poussière. La touffeur de tout ça! L’étranglement par les racines. Et les milles insectes, les cancrelats poilus, les mites tenaces. Les voilà pris à la gorge, aux organes, investis de haut en bas. Ils sont maintenant pressés de finir. Franck s’ankylose, il se sent las, il se sent triste. La douairière beugle, se tord, elle vesse profusément. Elle s’effondre, finalement, sur les œuvres complètes de Montesquieu (Belin, 1817).
Mademoiselle Schulz reprend place derrière le bureau de chêne. Légèrement rouge, elle roule une cigarette en lorgnant Franck qui dispose une autre ligne sur la couverture du Crébillon.
– Etes-vous toujours convaincu que je ne sois qu’une libraire, mon ami?
– Par la gueule et par le cul, pour pasticher votre poésie.
– Mais vous-même, Franck…
Il sourit.
– Je vous interdis de parler de moi.
Franck referme le volume de Tanzaï et Néadarné. Il glisse trois billets de cinq-cents euros sur le comptoir, baise brièvement la bouche de mademoiselle Schulz, et sort de la librairie. À côté, le fast-food coréen promet une réduction sur le bibimbap végétalien.

Quentin Mouron: «L’Âge de l’héroïne» (Editions La Grande Ourse, Paris 2016)

Quentin Mouron, Schriftsteller und Dichter mit schweizerisch-kanadischen Wurzeln wurde 1989 in Lausanne geboren und verbrachte seine Kindheit in Québec. Er schrieb bisher fünf Romane und avancierte schnell zum Stern am Himmel der jungen Literatur in der Romandie und in Frankreich.

Rezension von «Notre-Dame-de-la-Merci» auf literaturblatt.ch

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