Levin Westermann «Parti sans laisser d’adresse / unbekannt verzogen»

Levin Westermann: Die Gedichte in »unbekannt verzogen« habe ich in den Jahren 2009 bis 2012 geschrieben. Im Winter 2012 ist das Buch dann bei Luxbooks (Wiesbaden) erschienen. Es war mein Debüt. Der Titel war recht schnell vergriffen und wurde nie nachgedruckt. (Ab 2016 hat Luxbooks keine Bücher mehr publiziert, 2020 wurde die GmbH aufgelöst.) 
 
Ich bin mit meinem zweiten Gedichtband zu Matthes & Seitz Berlin gegangen. M&S hat sich dann vor ein paar Jahren auch die Rechte an »unbekannt verzogen« gesichert. So ist nun alles unter einem Dach. 
 
Marina Skalova hat vor vier Jahren erstmals einzelne Gedichte aus »unbekannt verzogen« für Literaturmagazine übersetzt. Es war ihre Idee, das gesamte Buch zu übersetzen, und sie hat das Projekt dann auch auf die Beine gestellt und mit Cheyne einen wirklich tollen Verlag für die Publikation gewinnen können. 
 
Wir haben uns über die Jahre mehrfach getroffen und via eMails über Details in der Übersetzung ausgetauscht, aber ich muss unbedingt betonen: der Credit für »Parti sans laisser d’adresse« gebührt ganz klar Marina! Denn sie spricht Deutsch und Französisch fliessend, publiziert in beiden Sprachen, und hat bereits viele andere literarische Werke übersetzt. Mein Französisch ist leider eher schlecht — und somit habe ich Marina voll und ganz vertraut. Da lief sehr viel über den Klang der Sätze, den Fluss der Zeilen. Denn ich schreibe vor allem mit dem Ohr. Und der Klang der Gedichte funktioniert über die Sprachgrenze hinweg.  Dafür bin ich Marina ungemein dankbar. Sind es noch meine Gedichte? Es sind unsere Gedichte. Denn jede Übersetzung ist schlussendlich eine Kollaboration. Davon bin ich überzeugt.
 

 

Die Zerlegung der Zeit

WIE EIN FRESKO, das vom rand her eitert,
sagst du. drei mal drei entsprechungen entfernt,
auf dem grund des sees. wir schalten um auf kiemenatmung.
somnambulismus from this point forward. zunehmender druck,
bei abnehmender sicht. die welt wird immer kleinerkleiner.
das schroffe antlitz eines quastenflossers, hängende gärten,
triefend vor nass. stille, oder: die abwesenheit von lauten,
sagst du.

DISKUSSFISCHE UND QUITTEN, suspended in time,
mid-flight. einer ahnung folgend, spiegelverkehrt.
je schwarze raucher, desto rochen. schiffsleichen
wie in kupfer gestochen. ach, sagst du, und dann:
manche farben zählt man besser nicht. sedimenthorizonte,
fernab des wetterleuchtens. immer eine rostige reling
und immer daran pulen. noch leiser: das rauschen,
auch knistern genannt.

UNDERTOW

tiefensog jade-
gestirn blei-
westen-beige f-
dur alpha ten
fragment tao
mangokranz-
glutorange
begradigt d-dur
alpha lavasaft
fragment lava
begradigt d-dur
zeta quark–
korallen farbe
komma dunkel
gewicht kappa
element saft
klammer zu

NICHTS IST KLAR, niemals nur einfach.
blicke als ornament wahrnehmen, abstrakte muster,
die ordnung der nelken. mit dem finger auf die eleganz
im flug einer möwe deuten. keine flötenklänge, keine bekenntnisse,
auch kein liebesanspruch, nicht in diesem foto. ich kenne die menschen,
sie tragen die körper, in denen sie sterben, sagst du. wahn
oder dialektik,
oder beides? immerhin, das gewicht des herzens unter wasser,
die wiederholung
der wellen vor der steilküste von ravlunda.

EINE GLEICHUNG mit einer unzahl
von unbekannten: nesseltiere, plastiktüten,
unsere fussspuren im sand. einst meinten wir, die ausnahme zu sein,
die sich dem metrischen muster entzieht, doch jetzt wissen wir,
dass sich türen automatisch schliessen, auf der nachtseite der worte.
die ablation der sinne beim wiedereintritt in die atmosphäre,
sagst du. und der kaffee in den tassen ist noch schwarz,
die zerlegung der zeit in mundgerechte trümmer.

 

La décomposition du temps

COMME UNE FRESQUE dont les bords suppurent,
dis-tu. à une distance de trois fois trois équivalences,
au fond du lac. nous basculons en respiration branchiale.
somnambulisme à partir de ce point. la pression augmente,
à mesure que la vue décline. le monde toujours plus petitpetit.
la figure rude d’un coelacanthe, jardins suspendus,
à l’humidité ruisselante. silence, ou l’absence de sons,
dis-tu.

DISCUS ET COINGS, suspendus dans le temps,
en plein vol. ils suivent une idée, à l’envers des reflets.
vers les fumeurs, les raies pullulent. épaves de navires,
comme gravées dans le cuivre. bah, soupires-tu et tu dis :
certaines couleurs ne valent pas le coup. horizons sédimentés,
loin des éclairs de chaleur. et toujours un bastingage rouillé
où toujours farfouiller. tout doucement, un bruissement,
on dit aussi : grésillement.

UNDERTOW

abysses air
cage impossible
JT jadis nul
jade constell-
ation bi-plomb
alpha net dur
fragment tao
à l’ouest du b
eige do ré mi si
fragment aval
aquarium PC
zeta quark
couleur nef
poids corail
à élément kappa
X silence fin
de parenthèse

RIEN N’EST CLAIR, jamais juste simple,
percevoir les regards en ornements, des motifs abstraits,
l’agencement des oeillets. renvoyer du doigt à l’éléganc
du vol d’une mouette. pas de sons de flûtes, pas de confessions,
ni demande d’amour, pas sur cette photo. je connais les gens,
ils portent les corps dans lesquels ils meurent, dis-tu. folie
ou dialectique,
ou les deux ? au moins, le poids du coeur sous l’eau, la répétition
des vagues, au pied de la côte abrupte de ravlunda.

UNE ÉQUATION avec une myriade
d’inconnues : corail, méduses, sacs en plastique,
nos traces de pas dans le sable. jadis nous pensions être l’exception
qui se dérobe au schéma métrique, à présent nous savons
que des portes ferment automatiquement, au verso des mots.
l’érosion des sens lors du retour dans l’atmosphère,
dis-tu. et le café dans les tasses est encore noir,
la décomposition du temps, débris à la mesure des bouches.

 

Levin Westermann, 1980 in Meerbusch geboren, studierte an der Hochschule der Künste Bern und lebt als freier Schriftsteller in Biel. 2020 wurde er mit dem renommierten Clemens-Brentano-Preis der Stadt Heidelberg ausgezeichnet, 2021 mit den Schweizer Literaturpreis, 2022 mit dem Deutschen Preis für Nature Writing.

Marina Skalova, 1988 in Moskau geboren, lebt in Genf. Sie ist Übersetzerin und Schriftstellerin. Auf Deutsch liegt bisher der zweisprachige Band „Atemnot (Souffle court)“ (2016) sowie das Theaterstück „Der Sturz der Kometen und der Kosmonauten“ (2019) vor. „Exploration du flux“ erschien 2018 bei Le Seuil, Paris.

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Beitragsbild © Bettina Wohlfender