Fritz Mühlemann «Föhn.Sturm»

das Zugseil besteht aus hundertzwei Drähten
und einer Kunststoffseele
die garantierte Bruchfestigkeit
bei zweiundfünfzigtausend Kilogramm
gewährt zehnfache Sicherheit
doch die Drahtseilbahn zur Heimwehfluh
nimmt den Betrieb erst im Mai auf

ein Kiesweg führt durchs Wäldchen
hoch zur Fluh
ich pfeife alte Schlagermelodien vor mich hin
‚Ein Schiff wird kommen‘
‚Junge, komm bald wieder‘
bedenke vor dem Ameisenhaufen
die Sorgen der Mütter
und das Abwesen

die Emsen ein und aus
immer strebend und gelassen sich bemühn
verschwinden in schwarze Löcher
tauchen auf aus schwarzen Löchern
Larven Insekten Raupen Stöckchen
in den Kieferzangen

das Chaos bleibt staufrei organisiert

tägliche Bewegung
beugt der Demenzerkrankung vor

den Abgrund zum Vater zur Mutter das Weh
zu Füssen zwei Seen
thront die Fluh

mein Blick schweift über das Bödeli
das behäbig Heimat verspricht
und mir doch fremd bleibt
grell leuchtende Farben
der Ruf der Ahnen
feudale Schlösser
Landsitze
Trauben
Feigen

zum Greifen nah legen sich mir die Firne
silbern verklärt ins Zwischenhirn

Föhn
Sturm

tobt der trockene Fallwind
über das Bödeli
deckt er Häuser und Ställe ab
entwurzelt Bäume
reisst Felsstücke los
wirft Boote auf den Seen umher

am Himmel dräuen Zeppelinwolkenschiffe
Glockentöne und Wildbachtosen
dringen von weither ans Ohr
Kreuzottern verlassen ihre Schlupfwinkel
zischeln giftig
die Hornissen sind reizbar
kein Singvogel zu hören

der unergründliche Atem des Herrn
bricht aus der Stille

der Balg hat es abgesehen auf irgendein Glütlein
bläst es an
bis so mancher First eingeäschert ist

Horn und Sturmglocken rufen zum Einsatz
auch Brandmeister und Schlauchlenker
sind nicht gefeit vor Föhnkrankheit
einer Mischung aus geistiger Apathie
und sexueller Erregung

nach erfolgtem Löschdienst
wird auf Kosten der Gemeinde ein Trunk getan
bei dem auch mal Unberechtigte
einen über den Durst bechern

das muss ein Föhnsturm sein
der mir zur Nacht ein Licht ansteckt
Aufruhr stiftet im Gehirn
wirre Dramen inszeniert

wild jagend meinen Text zerzaust
die Zeiten durcheinander wirbelt
mich über den Rand hinausschreiben lässt
bei den Göttern unterbringt

aufgewühlt blättere ich morgens
in diesem ungebärdigen Bilderbuch
bis mein Blick sich durch Klarheit trübt
Frühstückskaffee meine Welt ins Lot bringt

Fritz Mühlemann wurde 1950 in Bern geboren. Er ist Fotograf, Schriftsteller, Psychologe, Rentner und Traumwanderer mit Heimatort Bönigen auf dem Bödeli zwischen Thuner- und Brienzersee. Über die Jahre hat er zahlreiche Ausstellungen realisiert und Bücher veröffentlicht, unter anderem den Wiener Roman «dort wohnen die Narren» (edition clandestin, 2015), eine Spurenmontage aus Fotografien und Prosagedicht oder «kein ort aber krähengelächter», (Dendron Verlag, 2015), eine Sammlung, die Bilder und Texte vereint, die im Austausch mit Romie Lie entstanden. Neu bei edition clandestin: «Föhn.Sturm»

Fritz Mühlemann «Föhn.Sturm», Edition Clandestin, 2024, 176 Seiten, CHF ca. 38.90, 978-3-907262-57-3

Klaus Merz, Träger des Schweizer Grand Prix Literatur 2024 über «Föhn.Sturm»: Lieber Fritz Mühlemann, das sitzt! Auf dem Hintergrund von Historie und eigener Familiengeschichte entsteht vor unseren Augen ein buchstäblich illustrer Bericht und grosser Bericht.

Webseite des Autors

Beitragsbild © privat