Zsuzsanna Gahse «Wie sonst?»

Und ihre Eltern haben Sie dann aus den Augen verloren? Beide gleichzeitig? 

Sie sagen nichts?

Bin ich Ihnen zu nahegetreten? Ich wollte Sie nicht beleidigen, ich wollte Sie ja verteidigen. Kennen Sie diesen Satz, diesen gesungenen Satz aus der Fledermaus? Könnte ich Ihnen vorsingen, vorsingen lassen. Aha, gefällt Ihnen nicht. Ich wollt Sie nicht beleidigen.

Entschuldigen Sie.

Mögen Sie Lieder und welche am liebsten? 

Mit einem Mal sehen Sie merkwürdig aus. Wie eine hölzerne Gestalt. Im Augenblick sehen Sie aus wie eine Statue! Come una statua. Über die starre Statue könnte man auch singen.

Nun habe ich es verstanden. Sie finden es lächerlich, Sie mit Sie anzusprechen. Kommt nicht wieder vor.

Bist du ein Anhänger von Elvis? Du magst ihn also nicht.

Eher den Armstrong, die schöne tiefe, kratzige Stimme? 

Derzeit gibt es Songs im Schweizer Dialekt, die sich südamerikanisch ausnehmen. Wäre das etwas?

Anfangs hast du Lisa erwähnt, die Braunblonde. Warum habt ihr euch getrennt?

Hast du wirklich Angst vor Frauen? Vor allen Frauen, oder hast du dir das eingeredet?

Gibt es das, gibt es alle Frauen als ein einziges großes Gebilde? Das frage ich mich auch. Ich glaube, dass es das nicht gibt. Alle Frauen zusammen gibt es nicht. Sie sind absolut unterschiedlich, divers, tausenderlei. Daher ist in den alten Dichtungen immer von einmaligen Frauen die Rede. Die Ersehnten sind einmalig. Im Hochgesang sind alle Ersehnten einmalige Frauen.

Nun aber, aber versammeln sich die einmaligen Frauen. Ausgerechnet sie. Fischschwärme von Einzelwesen. Sie schwirren aus.

Denkst du jetzt an das Forellenquintett? Eher nicht. Ich glaube nicht, dass du gerade an Schubert denkst.

Magst du eine Zigarette? 

Gerade will mir kein Zigarettenlied einfallen. Dafür die sengende Sonne.

Oh, Insel in der glühenden Sonne, der Morgen bricht an. Die erschöpften schwitzenden Schwarzen hören nachts die Trommel und den philosophischen Calypso (jemand sagte, der Calypso sei philosophisch), bald bricht der Morgen an, während ich (in diesem Fall ist Ich ein schwarzer Sänger) schwere Lasten tragen und heben muss, zum Himmel empor heben, aber wo ich auch sein mag, auf welchen Meeren ich auch segeln mag, werde ich immer Deine Ufer preisen. 

Sobald mir die Sonneninsel einfällt, folgt das Lied vom mutterlosen Kind. Manchmal, manchmal fühle ich mich wie ein mutterloses Kind, weit weg von zu Hause, weit, weit weg von zu Hause, manchmal fühle ich mich wie ein mutterloses Kind. A motherless child. Meist fällt mir gleich darauf oder kurz vorher Moses ein, der den Pharao auffordert, seine Leute mit ihm ziehen zu lassen. Let my people go. 

Außerdem gibt es ein altes Lied mit einer ähnlichen Grundlaune, das ich allerdings nur in der von Kodály bearbeiteten Version kenne. Spät war ich aufgebrochen, war unterwegs, weit weg von zu Hause, ging immer weiter, aber auf halbem Weg blieb ich stehen, schaute zurück und hatte die Augen voller Tränen. Seither gibt es mittags Kummer, Kummer ist mein Abendbrot, unglücklich sind alle Stunden, und ich weine nicht selten unter dem Himmel voller Sterne.

Es gibt eine mehr oder minder bekannte Herbst-Melodie, vom Text her eher unbekannt, wobei in geglückten Fällen die Texte zusammen mit der Musik loslegen, sie sind miteinander unterwegs. In diesem Herbstlied sagt ein Ich ihrem Gegenüber, dass sie ihn nicht liebe, sie sagt ihm das mitten ins Gesicht (im Original sagt sie ihm das in die Augen). Später stellt sich heraus, und nach wie vor erzählt das der Text, dass sie das nur gesagt habe, um seine Antwort zu hören. Erst stand er wortlos vor ihr, dann ging er stumm, und seither sieht die Erzählerin seinen Blick, immerzu die dunklen Augen. Er sagte kein Wort und ging stumm. Vergilbte Herbstblätter fallen von den Bäumen, ihn hatte der Herbst fortgefegt. Automn Leaves.

Tränen, die sind das Ende, Tränen und leere Hände. Blieben allein zurück, Tränen vom großen Glück. 

Das war Ende der 50er Jahre neben Shantys ein Lied, das heute nicht einmal auf YouTube auftaucht. Ein Billiglied, allerdings mit guten Beschleunigungen, mit wechselnden Tempi. Einfach zu singen, am besten mit Gitarrenbegleitung.

Abgedroschen, ausgeleiert, abgenutzt, abgesungen und trotzdem absolut ansprechend ist der lachende Bajazzo. Verzweifelte Arie eines Verlorenen. Ist er verloren?

Singen Sie oft?

Entschuldigung. Singst du oft?

Nie, wirklich nie? Liedallergie?

Wirst Du oft nach deiner Herkunft gefragt? Oder nach den Liedvorlieben.

Liedvorlieben ist ein gutes Wort.

Endlos nach der Herkunft zu fragen ist abscheulich. 

Am besten nicht antworten, nur singen. Please hear my cry (Sam Cook).

 

(erschienen online in “Für den Fall», Salzburger Literaturhaus und in OSTRAGEHEGE, der Zeitschrift für Literatur und Kunst)

«Kaum zu fassen, wie unterschiedlich Berge betrachtet werden. Investitionsmöglichkeiten, Urlaubsregionen, Jagdgebiete, Regionen für Klettertouren zum Himmel hinauf …», notiert die Ich-Erzählerin von Bergisch in eine ihrer Mappen. Unterwegs in nicht nur freundlichen Alpengegenden sammelt sie in unterschiedlichen Hotels und Berghütten Porträts von Besuchern und den heimischen Gastgebern. Öfters ist sie auch mit Freunden unterwegs, die ihr Interesse für Speisen, Sprachen und deren topografische Zusammenhänge teilen. Sie sammeln Farben, suchen sogar nach Farblosigkeiten, und zu sechst entwickeln sie die Idee eines begehbaren Tagebuchs, um ihre Beobachtungen aufschlussreich archivieren und präsentieren zu können.
Nach und nach tauchen weitere Gebirge auf, unter anderem das Uralgebirge oder etwa die Guayana-Region, und auch die Berge aus Literatur und Kunst sind mit von der Partie.
In über 500 Aufzeichnungen entfaltet Zsuzsanna Gahse ein feinmaschiges Zusammenspiel zwischen den sechs Personen und zugleich entsteht ein lebendiges Panorama der Bergwelten, eine vielschichtige Typologie des «Bergischen».

Zsuzsanna Gahse, geb. 1946 in Budapest, aufgewachsen in Wien und Kassel, lebte längere Zeit als Schriftstellerin in Stuttgart und Luzern, zurzeit wohnt sie in Müllheim, Schweiz. Zahlreiche Preise und Auszeichnungen, u. a. aspekte-Literaturpreis (1983), Adelbert-von-Chamisso-Preis (2006), Italo-Svevo-­Preis (2017), Werner-Bergengruen-Preis (2017), Schweizer Grand Prix Literatur (2019).

Webseite der Autorin

Beitragsbild © privat

Margret Kreidl «Hausübungen»

Hausübung

Ein Bild ist kein Vergleich. Schreib diesen Satz
auf den Küchentisch. Dann stell eine rote Tulpe
in eine langhalsige Vase. So wird das Licht
nach oben brennen.

Hausübung

Ein Fenster ist keine Tür. Denk über diesen Satz
vor dem Einschlafen nach. Wenn der Wecker läutet,
steh auf. So wirst du vom Hundertsten ins Blaue
kommen.

Hausübung

Ein Stuhl ist kein Auto. Mach aus diesem Satz
ein Gedicht mit vierzehn Zeilen. Lern es auswendig.
So wirst du immer einen Parkplatz finden.

Hausübung

Ein Tisch ist kein Fisch. Sag diesen Satz
im Stehen. Dann wasch dir die Hände.
So wirst du begreifen, was der Fall ist.

Hausübung

Eine Melone ist keine Melone. Wiederhole diesen Satz
hundertmal. Dann trink langsam ein Glas Leitungswasser.
So wirst du die Kerne vergessen.

Hausübung

Rotwein ist kein Orangensaft. Übersetze diesen Satz
ins Französische. Dann putz dir die Zähne. So wirst du
verstehen, was eine Flasche ist.

Hausübung

Eine Frau ist kein Mann. Schau diesen Satz
so lange an, bis du müde wirst. Dann leg dich
ins Bett. So wirst du wieder zum Kind.

(Margret Kreidl, Hausübungen, aus: Jahrbuch der Lyrik 2019, Hg. von Christoph Buchwald und Mirko Bonné, Schöffling Verlag, 2019)

Margret Kreidl lebt als freie Schriftstellerin in Wien. Veröffentlichungen, zuletzt: «Einfache Erklärung. Alphabet der Träume», Edition Korrespondenzen Wien 2014. Theateraufführungen, zuletzt: gemeinsam mit Marlène Saldana und Jonathan Drillet: «Grinshorn et Wespenmaler. drames patriotiques», hTh Montpellier 2016. Im Frühjahr 2017 erschien in der Edition Korrespondenzen, Wien: «Zitat, Zikade. Zu den Sätzen» und 2018 beim Berger Verlag «Hier schläft das Tier mit Zöpfen».

Margret Kreidl performt zusammen mit dem Jazzduo Stories am kommenden 30. August in St. Gallen im Kultbau. Infos hier!

SRF: Raoul Schrott erklärt Margret Kreidl

„Hier schläft das Tier mit Zöpfen“

Margret Kreidl: Zettel, Zitat,Ding – Gesellschaft im Kasten