Klaus Merz „firma“, der Anfang

Wir führen
nur sporadisch Buch.
Es geht um die Denk-
würdigkeiten.

 

20. Juli 1968

Fast dämmert es schon unter den hohen Bäumen der Badeanstalt, die ihre Kronen mit den nahen Friedhofsbäumen verschränken. Seit je schwebt leichter Karbolineumgeruch, vermischt mit einem Hauch von Urin, über den grünen Wassern. Frau Droz macht Kasse und räumt das Leckereienkabäuschen auf, sie will heim, läutet mit ihren Schlüsseln. Während der junge Heilsarmeeoffizier zu einem letzten Überschlag vom Einmeterbrett ansetzt, greifen wir entschlossen nach den Kugelschreibern und setzen unsere Signaturen unter den Mietvertrag des Gebäudes, der schon seit dem Morgen in doppelter Ausführung vor uns auf den Badetüchern liegt: Die Firma steht.

 

7. August 1969

Kurz vor Feierabend versetzt Alexander, unser kaufmännischer Lehrling, die junge Belegschaft in Unruhe: Es gebe kein richtiges Leben im falschen, habe er über Mittag in einem Nachruf gelesen. Und er fragt grübelnd nach, ob es das „richtige“ Leben vielleicht gar nicht gebe. Da unser Dasein schon von Grund auf „falsch“ angelegt sei: sodass es eigentlich nur das falsche im falschen geben könne. Was ja dann aber, minus mal minus ergibt plus, durchwegs wieder zum „richtigen“ führen müsse. Unsere Belegschaft atmet auf, hörbar.

 

2. September 1971

Im Frühjahr entsteht neben dem florierenden Betrieb eine Minigolfanlage, achtzehn Bahnen, was bei den Angestellten natürlich stets für unliebsame Ablenkung sorgt und auch wochentags „viele Sportbegeisterte samt Familie ans Schlageisen ruft“, wie der Berichterstatter des Tagblattes elegant festzuhalten weiß. – Am Samstag, es nieselt, ziehen wir das Milchglas hoch, bis über den Scheitelbereich.

 

16. Mai 1972

Wir werden durchleuchtet. Der Wagen der Frauenliga fährt vor – Schirmbild – und macht uns alle ein wenig krank. Zuerst sind die Männer an der Reihe, sie machen sich schon im Freien oben frei. Einatmen. Still- halten. Ausatmen. „Aufatmen“, sagen die Raucher und langen noch schnell nach einem Sargnagel, bevor sie wieder an die Arbeit gehen. „Nach dem Durchleuchten der Damen riecht es jeweils weniger streng im Wagen als bei den Herren, Angstschweiss halt“, sagt der Fahrer, er raucht eine mit. „Die strahlende Röntgenschwester hat uns ja alles ganz leicht gemacht“, sagen wir, versenken die Kippen im  Abwasserschacht.

 

19. Januar 1973

Irina, die wir kurz nach dem Scheitern des Prager Frühlings bei uns aufgenommen und dann gern in der Firma behalten haben, trägt ein Medaillon um den Hals. Wer sich denn unter dem feinen Golddeckel verstecke, wollen wir immer wieder von ihr wissen. Sie widersetzt sich den Neckereien konsequent, „zieht den Eisernen Vorhang zu“, sagt Graber und erschrickt, als Irina ihm ihr Kleinod vor die Nase hält: Es ist ein Bildchen des jungen Jan Palach, der sich aus Protest gegen den sowjetischen Einmarsch auf dem Wenzelsplatz selbst angezündet hat. Vier Jahre zuvor, auf den Tag genau.

 

19. April 1975

Wäre der Geschlechtsverkehr nicht offensichtlich in geschäftseigenen Räumen vollzogen worden, wir hätten darüber hinwegsehen können: Die beiden Beteiligten zeigen ihre erhitzten Gesichter, dahinter unscharf das Firmenlogo. (Vom Fotografen, der das Bild kurz nach Neujahr ans Schwarze Brett gepinnt hat, keine Spur.) Wir haben Stellung beziehen müssen und halten fest: Es ist Liebe. Unterm Reisregen der gesamten Belegschaft verlässt das Hochzeitspaar kurz vor Mittag guter Hoffnung die Kirche.

 

2. April 1978

In unserem Firmenkeller wird getrommelt und geschwitzt. Mittwochnachmittags ist schulfrei, Kambers Sohn hat sich mit drei Freunden und ihrem Schwermetall zwischen den Kartoffelhorden eingerichtet. Von fern nur erahnen wir Obergeschossigen, was es heisst, wenn einem Hören und Sehen vergehen soll. „Gezinst“ wird auf den 1. Januar, ein Gratiskonzert für die Belegschaft, so steht’s im „Vertrag“. Noch wissen wir nicht, ob wir uns darauf freuen oder davor fürchten sollen.

 

7. Februar 1980

Hutlose Lieferanten werden nicht empfangen! Das Emailschild dräut über dem Geschäftseingang unseres einzigen Untermieters, dem permanent klammen Hutfabrikanten mit seinen sieben Kindern. Aus Solidarität zu ihm und seiner kleinen Belegschaft, der zarten Modistin aus Graz, entschliessen wir uns, über der Tür des eigenen Betriebes eine entsprechende Warntafel anzubringen: Herzlose Lieferanten werden nicht empfangen. Der Nachbar dankt es uns mit einem Allwetterhut.

 

7. Januar 1981

Mit ihrem nigelnagelneuen Schweizer Pass in der Jackentasche hat unsere lebensfrohe Irina ihre erste, lang ersehnte Reise in die einstige Heimat angetreten. Anfangs Woche ist sie wieder aus Pilsen zurückgekehrt. Sie habe ihr Geburtshaus betreten, sei vorgegangen bis zum Wohnzimmer: „Auf der Ofenbank sitzt Grossvater, Onkel Pepin auf der Couch, Grossmutter hantiert wie immer in der Küche.“ Beim Erzählen steigen Irina Tränen in die Augen: „Aber ich“, sagt sie, „bin eine andere geworden. Eine Fremde.“

 

11. Juni 1981

„Zweierlei Blunzen. Und dann geschnetzeltes Herz, hat unser neuer Kunde beim Mittagessen im Salzamt in Auftrag gegeben, während mir in meiner kulinarischen Unentschlossenheit nur das Schnitzel (aber was für eines!) in den Sinn gekommen ist.“ – Fast habe er sich vor dem Schlachtverständigen ein wenig geschämt. Überhaupt sei es einer seiner anregendsten Kundenbesuche seit Jahren gewesen, berichtet Karl, der langjährige Aussendienstmitarbeiter, bevor er uns die Bestellliste der Wiener Firma, korrekt wie immer, durchfaxt.

Klaus Merz, geboren 1945 in Aarau, lebt in Unterkulm/Schweiz. Zahlreiche Auszeichnungen, u.a. Hermann-Hesse-Literaturpreis 1997, Gottfried-Keller-Preis 2004, Aargauer Kulturpreis 2005, Werkpreis der schweizerischen Schillerstiftung 2005, Basler Lyrikpreis und Friedrich-Hölderlin-Preis (beide 2012) sowie zuletzt Rainer-Malkowski-Preis (2016) und Christine-Lavant-Preis (2018). Seit Herbst 2011 erscheint bei Haymon die Werkausgabe Klaus Merz in mehreren Bänden. 2020 ist mit der Erzählung «Im Schläfengebiet» ein Sonderdruck in bibliophilem Gewand und mit einem Begleitwort von Beatrice von Matt erschienen.

Beitragsbild © Fotowerk Aichner

Sepp Mall «Holz und Haut»

Liebeslied morgens

Wenn die Nacht dann / fällt
sind es gleich Millionen km
im Quadrat
Wie sollen zwei Zeilen / dies alles
durchmessen
mit ihren Zollstöckchen und Vers-
mäßchen
Wer Glück hat / hält
sich an den Rand der Dateien
(in den Dämmerschleifn der Ufer)
hofft dort deine Lippen zu
finden (um 5 Uhr morgens)
: die Landmassen des Tags
Wo sonst / lässt sich auf-
tauchen
im ersten Licht sich schütteln
wie ein Hund
: allem Unheil entronnen

 

Weiter nichts

Ein (Jänner) Tag / der hinausläuft
ins Grau
Wir trinken aus Leichtsinns-
Tassen / ver-
steckn uns hinter Kosenamen
Warum nicht (alles) aufzählen
die vertanen Jahre
all die entglittnen / Möglichkeiten
: und plötzlich alles hergeben wollen

Auf deinen Wangen Granatapfel-
farbn
und im Hecheln der Sekunden
(Liebesschwüre)
: wieder warten auf Schnee

 

Rien

Wir aßen zu Mittag
aßen zu Abend
Nichts als ein Hinhalten der Stunden

Dann irgendwann / das Zu-
nachten buchstabiern
lentement (Silbe für Silbe)
Und dein Kopf in meinem Schoß
: Nichts / nichts
über die Städte zieht Rauch
Flüchtig / wie alles

 

In die Nacht

Das Versprechen / sich nicht
aus den Augen zu verliern
Die Sträucher / die sich ducken im Wind
Und Schnee / der auf Felder fällt
(in glänzende Ackerfurchen)
Weit draußen die Häuser zusammen-
gedrängt

Schritt für Schritt verliern die Bilder
an Farbigkeit
verblassen im milchigen Licht
im Flockengestöber / das übers Hirn
zieht
: doch noch / ist es nicht

 

Sepp Mall «Schläft ein Lied», Haymon, 2014, 80 Seiten, CHF 24.90, ISBN 978-3-7099-7142-0

Sepp Mall, geboren am 1955 in Graun/Südtirol, lebt und arbeitet in Meran. Autor, Lehrer und Herausgeber. Schreibt vor allem Lyrik und Romane, ist aber auch als Übersetzer sowie mit Hörspielen und Theaterstücken an die Öffentlichkeit getreten. Diverse Preise und Stipendien, u.a. Meraner Lyrikpreis 1996. Für die Arbeit an dem Gedichtband „Holz und Haut“ (2020) erhielt Sepp Mall das Grosse Literaturstipendium 2017/18 des Landes Tirol.

Im kommenden Herbst erscheint bei Haymon neu: «Holz und Haut» Gedichte.

Beitragsbild © Claudia Pircher

Andreas Neeser «Mücken»

Manchmal bin ich ausser Haus. Mitten am Tag, eine halbe Stunde, öfter abends, wenn die Mücken tanzen im Schwarm. Ich gönne mir diese kleinen Abwesenheiten, ich geniesse sie mittlerweile ohne schlechtes Gewissen. Ein kurzes Austreten, eine Art Ausgang. Wenn mir danach ist, trete ich aus mir heraus, gehe ein paar Schritte, flusswärts, bis mir leichter wird, oder hinauf zum Waldrand, immer den Mücken nach. Die Nachbarn grüssen mich, als kennten sie mich, und ich grüsse zurück, obwohl sie keinen Namen haben. Früher stand es mir auf der Stirn, von weitem sichtbar, ich ging wie ein Aus-, wie ein Ausserhäusiger, auffallend licht. Längst habe ich gelernt, mich so zu verlassen, dass keinem von uns beiden etwas anzumerken ist, nicht dem Hausherr, nicht dem Spaziergänger. Wir sind absolut unverdächtig, und es stimmt, wir haben eben noch Kaffee getrunken, Wäsche aufgehängt, die Nägel geschnitten, gleich werden wir einkaufen, guten Tag, Frau Martello – und Ihnen? Die Gewissheit, auch dann als der zu gelten, der ich war, wenn ich es nicht mehr bin, macht es mir leicht, aus dem Haus zu gehen, zur Brombeerhecke, über die klingende Kuhweide, ins sumpfige, sirrende Gehölz, wo die Schwärme tanzen bis spät in den Abend, bis weit in den Herbst. Trotzdem behalte ich es für mich, wenn ich so gehe, aus Vorsicht, aus einer nicht zu verlernenden Ängstlichkeit heraus, vielleicht.

Und dann tanzen sie, am Fluss, am Waldrand, zu Hunderten. Etwas grundloses Leichtes lässt sie schweben, lose gewirkte, von innerster Absichtslosigkeit gehaltene Lebenspunkte, dunkles, taumelndes Textil. So tanzen sie, so tanzen sie mir vor. Mehr ist da nicht.

Manchmal erschrecke ich, wenn ich mich auf dem Rückweg durch die Dorfgassen in einem der sauberen Fenster sehe. Ich zögere einen Moment, bleibe stehen. Es ist jedesmal erstaunlich, wie wenig ich auf mich gefasst bin, auf den, der ich immer auch bin, wenn ich von den Mücken zurückkehre. Als schaute ich mich von aussen an, das eigene Haus. Ein unauffälliger Blick auf die unauffällige Fassade. Seltsam, heimzukommen, selbst nach so kurzer Abwesenheit, einzutreten in sich selbst wie in ein Gebäude, und so viele Zimmer, über und über voll mit abgewohntem Leben.

So komme ich zurück, wenn ich von den Mücken zurückkehre. Schritt für Schritt, mit wechselndem Mut, gehe ich auf mich zu. Aber wenn ich über die Schwelle trete, bin ich so voll und so leicht, ich könnte schweben. Und ich seh sie, von innen, ich hör sie, sie singen im Ohr.

Andreas Neeser
«Zwischen zwei Wassern»
Roman
Haymon Verlag Innsbruck 2014

Andreas Neeser, geboren 1964, studierte Germanistik, Anglistik und Literaturkritik an der Universität Zürich. Langjährige Unterrichtstätigkeit an der Alten Kantonsschule Aarau. 2003 bis 2011 Aufbau und Leitung des Aargauer Literaturhauses in Lenzburg. Seit 2012 lebt Andreas Neeser als Schriftsteller in Suhr bei Aarau.
Mitglied von Autor/innen der Schweiz (AdS), Deutschschweizerisches PEN-Zentrum und VAA. Mitglied der Jury für den Franz-Tumler-Preis.
Ein neuer Roman erscheint im Januar 2020 im Haymon Verlag Innsbruck.

Rezension zu Andreas Neesers Mundartliteratur auf literaturblatt.ch

Webseite des Autors