Ich war fünfzehn Minuten zu früh und sah ihn schon, als ich kam, über den kleinen Platz zwischen den Geleisen und dem Bahnhofsgebäude schwanken. Ein Mann, nicht viel älter als ich, mit kurzen Hosen, blossfüssig, nur halb in den Bund gestopftem Hemd und einer offenen Umhängetasche. Als der Zug in die Gegenrichtung eingefahren war und sich die Türen öffneten, torkelte er auf eine Tür zu, blieb aber wenige Zentimeter davor stehen, die Tür schloss sich und er blieb immer noch stehen, während der Zug direkt vor seiner Nase wegfuhr. Er stand da, mit den Zehenspitzen an der Kante, und schwankte. Bevor ich glaubte, er würde fallen und mich zu einer Rettungsaktion zwingen, taumelte er zurück und hockte sich auf die Bank neben mich. Er sagte nichts, obwohl er so nah bei mir sass, dass ich den Alkohol roch, ohne dass er in meine Richtung geschaut hätte. Er murmelte. Ich verstand ihn nicht.
„Fahren Sie auch?“, verstand ich schliesslich.
„Nein, ich warte auf eine Bekannte. Sie wird mit dem nächsten Zug einfahren.“
„Helfen sie mir?»
„Ihnen helfen? Wie kann ich ihnen helfen?“
Würde er mich um Geld anbetteln? Zum ersten Mal sah ich ihm ins Gesicht. Er war wohl ein paar Jahre jünger als ich. Sein rechtes Auge war rot und blau unterlaufen, ein Veilchen. Die Augenbrauen so, als wären sie tätowiert, die Haare im Nacken kurz, die Stirnhaare lang und verschwitzt bis tief in sein Gesicht. Eigentlich gar nicht das Gesicht eines Alkoholikers. Wäre er nüchtern gewesen, hätte ich ihn vielleicht als Künstler taxiert. Aber an dem Mann stimmte beim zweiten Bick einiges nicht. Seine Füsse waren zerschlagen, die Haut an den Knien aufgeschürft. Die Taschen seiner kurzen Hose nach aussen gestülpt, das Hemd bis zum Bauchnabel offen.
„Scheiss Alkohol“, sagte er mit einem Mal ganz deutlich. Dann ergoss sich ein längeres Gemurmel, als hätte er sich und mich im Selbstgespräch vergessen.
„Ich muss ins Spital“, verstand ich wieder.
„Besuchen sie dort jemanden?“, stellte ich mich dumm.
Er antwortete nicht, bewegte die Lippen.
„Können sie mir helfen?“ Er sah mich an, flehend und traurig.
„Klar helfe ich, wenn ich kann.“
„Ich muss in den Zug. Ich muss ins Spital. Scheiss Alkohol.“
„Aber ich kann sie nicht begleiten. Ich erwarte eine Bekannte.“
„Nein, bloss zum Zug, bloss einsteigen helfen. Der nächste Zug ist doch der Richtung Spital.“
„Ja. Ich helfe gerne.“
Es waren höchstens noch zwei, drei Minuten. Meine Bekannte und ich, wir hatten uns noch nie gesehen. Sie ist Schriftstellerin, ich ihr Leser. Sie besucht mich. Schon meine Situation war eigenartig genug, war ich es doch, der normalerweise zu Schriftstellerinnen und Schriftstellern fährt. Der Mann neben mir nestelte in seiner Tasche, während sein linkes Knie nervös zitterte. Es zog eine Flasche aus seiner Umhängetasche, unzweifelhaft eine Schnapsflasche, drehte am Verschluss, setzte die Flasche an die Lippen und nahm einen nicht enden wollenden Schluck. Es dauerte eine kleine Weile, bis er den Verschluss wieder drehte und die Flasche in der Tasche sinken liess.
„Scheiss Alkohol.“
„Wissen die Leute im Spital, dass sie kommen?“
„Ich muss von dem Zeug weg. Die helfen mir dort. Dort wird alles viel besser. Sie müssen mir nur helfen. Bis zum Zug, Einsteigen helfen. Helfen sie mir? Sie müssen mir helfen!“
Waren das Tränen in seinem glasigen Blick?
Da sassen auf einem sonst verlassenen Bahnhof zwei Männer nebeneinander auf einer Bank. Wäre jemand dazugekommen, hätte man meinen müssen, wir würden zusammengehören. Beide etwa gleich alt, beide mit blauer Tasche, der eine mit Schuhen, der andere blossfüssig.
Er sah mich an. Diesmal sagte er nichts. Als müsse er mit einem tiefen Blick prüfen, ob man meiner Hilfe trauen könne. Ich war mir nicht sicher, ob die Hilfe seiner Unentschlossenheit diente, oder seinem unsicheren Gang. Da sass einer, verfluchte den Alkohol, während er mit grossen Schlucken aus einer Schnapsflasche trank.
„Helfen sie mir?“
„Klar doch, ich helfe ihnen gerne. Der Zug muss jeden Moment einfahren. Wohnen sie hier?“
„Ich wohne hier. Ja, ich wohne hier. Aber ich muss zum Zug. Die warten auf mich.“
Was hätte ich sagen sollen? Hätte ich ihn ermuntern sollen? Was würde meine Bekannte denken, wenn ich ihr mit torkelnder Begleitung entgegenkäme? Ich hoffte, sie würde eine oder zwei Türen weiter dem Zug entsteigen, damit ich Zeit finden würde, den Blossfüssigen in den Zug zu buxieren, bevor es zur ersten wirklichen Begrüssung käme.
„Jetzt sieht man den Zug schon. Ich helfe ihnen.“ Er würde gleich aufstehen müssen, damit er die paar Meter bis zu einer Tür schaffen würde und ich seine nackten Füsse über die Schwelle schieben kann.
Und tatsächlich. Die blaue Tür blieb genau vor uns stehen. Meine Bekannte erkannte ich sofort über die Schulter des Betrunkenen. Ich sah, wie sich ihr Gesicht aufhellte, wie sie um den gebeugten Mann herumgehen wollte, um mich zu begrüssen. Es muss eigenartig ausgesehen haben, denn ich lächelte ihr bloss verlegen entgegen und sprach dem Mann zu, den ich am Oberarm gefasst hatte. Ich fühlte mich, als wäre ich für den Mann verantwortlich.
„Machen Sie’s gut“, sagte ich, ohne Anzeichen, dass er verstanden hatte.
Ich machte einen Schritt zurück, drehte mich um und begrüsste sie endlich.
So wie ich den einen aus den Augen verlor, nahm sie mich ein.
Gallus Frei, 1962 geboren in St. Gallen, Literaturvermittler, Veranstalter, Moderator, Herausgeber des von Hand geschriebenen und gestalteten Literaturblatts, Betreiber zweier Literaturwebseiten (literaurblatt.ch für Rezensionen, Berichte, Gastbeiträge und gegenzauber.literaturblatt.ch für literarische Gastbeiträge aller Art), Programmleiter des Literaturhauses Thurgau, Jurymitglied der SRF-Bestenliste, Blogpartner des Schweizer Buchpreises seit 2019.