Johanna Hansen «Brief an David Oates»

April 2016

Lieber David,

wir sind manchmal doch weiter voneinander entfernt als ich gerne glauben möchte.
Sie w i s s e n, weshalb Sie schreiben, wenn Sie sagen: „Wir sind kleine Gefäße, die an einem Ozean nippen. Mein Bestreben als Autor ist es, diesem wilden Exzess Ehre zu erweisen.“
Was für ein Vorhaben! Ich beneide Sie darum.
Dagegen komme ich mir vor, als säße ich nackt – wie Victorine Meurent auf Edouard Manets Bild Frühstück im Freien  zwischen lauter sorgfältig gekleideten Damen und Herren, die einen kulturellen Dialog führen, der nicht (wie bei Manet) unter Gleichrangigen, sondern über meinen Kopf hinweg stattfindet. 
„Chi-Ball“, „Chakra“, „kosmische Verlängerungsschnur“?
Sie zweifeln daran, David, aber Sie haben in bestimmten Lebenssituationen Erfahrungen damit gemacht. Respekt! Da kann ich nicht mitreden.
„Wörter sind dünn“, sagen Sie. Aber warum kommt mir so vor, als gehorchten sie Ihnen aufs Wort? Mir steht diese Sicherheit nicht zur Verfügung. 
Ich träume nachts oft, vor einem Schrankkoffer zu stehen, ohne darin etwas zu finden, was mich kleidet. Dann schau ich an mir herunter und erschrecke vor meiner Nacktheit.
Wenn ich aufwache oder durch ein Museum gehe oder durch die diversen Kanäle zappe, die uns umwerben, begegne ich diesem Moment des Erschreckens überall wieder. Meine Lage ist die, nackt zu sein, denke ich manchmal. Nackt begegne ich mir auf vielen Bildern. Und in vielen Sätzen. Dort ist auch häufig von Dingen die Rede, die ich nicht verstehe. Was ist richtig und was falsch? Wer bestimmt den Dresscode? Ich habe keine Antwort darauf und gehöre selten „dazu“. Bei meiner Suche nach einem Gegenüber ist es wohl meine Aufgabe, austariert zu werden von einem mich musternden Blick. Oder es gibt erst gar keinen Blickkontakt.
Dafür fehlen mir die Worte. Sie gehorchen mir einfach nicht.

Wie gerne würde ich hin und wieder Mondschein-Romantik vermitteln. Sie sagen, Sie hofften dies nicht zu tun. Warum nicht? Steht Mondschein nicht jedem Dichter, der den Eigengeruch der Nacht aus der Lichtverschmutzung bergen will? Da ist sie wieder: die Sehnsucht. Auch nach Mondschein-Romantik.
Ich male mir immer noch das Paradies Schlaraffenland Arkadien aus. Kann einfach nicht die Finger davonlassen. Vielleicht bin ich ernsthaft krank und habe wieder zu viele Äpfel gegessen. Vielleicht lebte ich gesünder, wenn ich das Angebot des freundlichen Clubs akzeptierte, der mich bei sich aufnehmen möchte. Das Problem ist nur, dass ich nichts anzuziehen habe, um mich dort vorzustellen.

Gerade komme ich aus Paris zurück, wo ich erneut zwei Monate verbrachte. Wie schon vor zwei Jahren, als Sie und ich uns zufällig dort über den Weg liefen. Dieses Mal liefen mir ständig Soldaten in kugelsicheren Westen über den Weg, Maschinengewehre im Anschlag.
Der Ausnahmezustand war überall sichtbar. Ich grüßte die Soldaten, die vor unserem Haus standen, und sie grüßten zurück. Aus welchem Land kommen Sie, fragten sie nach einer Weile des Grüßens erstaunt, denn sie waren es nicht gewohnt, gegrüßt zu werden.

Aus Deutschland, antwortete ich. Sie lächelten. Deutschland nimmt so viele Flüchtlinge auf. Verwandte von uns. Freunde, sagten sie. 
Traten höflich auf dem schmalen Gehweg zur Seite, wenn sie mich sahen. Da glaubte ich einen Moment lang, im Paradies angekommen zu sein. Wertgeschätzt zu werden, weil das Land, in dem ich lebe, etwas gelernt hat aus seiner Vergangenheit. Wären da nur nicht die ständig wiederkehrenden Anschläge auf Asylantenheime. Im Feuerlegen kennt mein Heimatland sich gut aus.

In Paris lief ich mir die Füße wund. Die Stadt überwältigte mich ohne Angabe von Gründen. Der Ausnahmezustand ließ sie außerdem ganz anders aussehen als beim letzten Aufenthalt. Kontrollen am Gare du Nord. In den Kaufhäusern. Absperrbänder. Terrorwarnung. Keine endlosen Touristenschlangen vor den zentralen Sehenswürdigkeiten. Abgeriegelte öffentliche Grünflächen, wo ich vor zwei Jahren noch flanierte. Was ich wiedererkannte, war architektonische Grandiosität neben Verfall. Eleganz neben Obdachlosigkeit. Stinkende Abfälle neben üppig blühenden Kamelien in struppigen Hinterhöfen. Schon nach wenigen Ausflügen musste ich mich ins Atelier zurückziehen. Meine Füße streikten. 
Ich streifte mir Schwimmflossen über und tauchte ab. Las in Jean-Pierre Abrahams Buch „Der Leuchtturm“ über das Leben und die Einsamkeit weit draußen im Atlantik.

„Ohne mir dessen bewusst zu sein, bin ich in die stumpfen Seelen alter Seemänner vorgedrungen…Ich wüsste zu gerne, ob sie auf hoher See jenen Moment erlebt haben, da die Haut dünn, endgültig lichtdurchlässig wird.“

Gedankenträgerin, Tusche auf Papier 2019

Jean-Pierre Abraham öffnet mit einer weit ausholenden Handbewegung das Fenster zur Stille. Sie wird zum Leuchtturm vor der Küste der Bretagne. 
Nach der Lektüre gab ich jeden Plan auf, etwas Bestimmtes fertigstellen zu wollen. 
Wochenlang studierte ich das Moos auf dem Haufen rostiger Fahrräder vor meinem Fenster. Hatte Besuch von einer einzelnen Taube, die immer auf exakt derselben Stelle des gegenüberliegenden Daches ihr Revier in Besitz nahm. Hörte aus dem Tanzstudio nebenan Übungen in Schreitherapie.
In der Waschküche lernte ich ein junges finnisches Genie kennen. Ein Komponist, der seine Mütze tief über die Augen gezogen hatte, gab mir den Link zu seiner ersten Symphonie. 
Am Ende des Waschprogramms murmelte er entschuldigend so etwas wie „zeitgenössische Musik findet wenig Zustimmung“ und verschwand nahezu völlig unter seiner Mütze. 
Direkt neben meinem Atelier lag ein russisches Studio. Dort malte Olga Tänzerinnen in Pastelltönen. Da uns eine gemeinsame Sprache fehlte, verständigten wir uns mittels gefüllter russischer Eier und Baguette. Olga beschrieb mir ihre Bilder, indem sie fliegende Bewegungen mit den Armen machte und die Hand aufs Herz legte. Sich die Augen rieb, als müsse sie weinen, wenn sie von Abreise zu sprechen schien und auf ihr Gepäck zeigte.

Ich tauchte noch tiefer in meine Skizzenbücher und hatte das Gefühl, die Seine in meinen Ohren rauschen zu hören. Wahrscheinlich war ich längst auf den Grund des Flusses gesunken, über mir nichts als bleigraues Wasser, durch das sich Ausflugsboote schraubten. An Deck spiegelte sich der Himmel in chinesischen Selfies. Jemand hatte mit weißer Farbe einzelne Worte auf die Trottoirs der Brücken zur Île Saint- Louis und Île de la Cité gestempelt: Ich bin, stand dort oder: Vernunft. Traum.

Vier Worte reichen, um Philosophie auf die Straße zu bringen! Das begeisterte mich. Vier Worte, die wirksamer sind als jede Vorschrift im deutschen Straßenverkehr. Die Franzosen bauen auf ihren Descartes wie auf solide Brückenpfeiler, die bis in die Moderne reichen.  Hier trägt kaum jemand einen Fahrradhelm, fährt niemand auf dem Gehweg, auch wenn es keine Fahrradwege gibt.
Rote Ampeln und Fahrspuren dienen lediglich als grobe Orientierung. Trotzdem funktioniert der Verkehr.  Selbst Kinder überqueren die Straße bei Rot und niemand regt sich darüber auf. Ich nahm den Bus zum Jardin des Plantes, um mich von der Frage abzulenken, weshalb so ein Verhalten bei uns undenkbar wäre.
Erschöpft vom Stadtlärm ließ ich mich auf eine Parkbank fallen.

Asseyez-vous, je vous en prie et parlez moi d`amour (Setzen Sie sich und erzählen Sie mir von der Liebe)

las ich auf einem kleinen Metalltäfelchen, das an unauffälliger Stelle auf der Sitzfläche der Bank angebracht worden war. Was für eine Begrüßung! 
Leichtfüßig sprang ich auf und verliebte mich sofort in weitere Parkbänke, wo spendable Pariser für ihren finanziellen Beitrag zum Erhalt des Gartens eigene Gedanken oder bemerkenswerte Zitate hinterlassen dürfen.
Mancher Besucher nickte mir amüsiert zu, weil ich vor den Bänken kniete, um die herzstärkenden Mittel auf den kleinen Täfelchen abzuschreiben.
Es sind zu viele, um sie hier alle wiederzugeben. Am besten kommen Sie selbst noch einmal nach Paris und testen die Wirkung, wenn Sie im Botanischen Garten von Bank zu Bank schlendern wie durch ein durch Fantasie geschütztes Areal. Hier ist vieles möglich, was außerhalb der Mauern, die den Park umschließen, schon wegen des Ausnahmezustands schwer vorstellbar ist.

Nous arrivons toujours à l`endroit où nous sommes attendus. (Wir kommen immer da an, wo wir erwartet werden)

Fast hätte ich den riesigen versteinerten Wirbelknochen übersehen, der wie ein Meteorit aus dem All in ein Blumenbeet gestürzt zu sein schien und als eine Art Mahnmal daran erinnert, dass Mensch und Natur irgendwann eine Einheit bildeten.  Gehörte der Wirbelknochen einst einem Pottwal? Ich weiß es nicht, aber zusammen mit Pfingstrosenduft, Buchsbaumornamenten und Orangerien ergab sich ein Szenario, das mir den Kopf verdrehte. Das Paradies schien kurzfristig um die Ecke zu liegen. Fast greifbar nah.
Mag sein, dass dieses Drehen des Kopfes die nötige Haltung ist, um den Glückszustand wahrzunehmen, den ich so oft vermisse. Wer stets absprungbereit lebt und das Aroma von frisch gepflückten Zitronen fast vergessen hat, wird schnell mutlos. 
Ich nahm mir vor, auf dem Rückweg eine Tarte Pommes et Compote zu kaufen.
Diese unvergleichliche Köstlichkeit müssen Sie unbedingt probieren. Auf einen knusprigen Mürbeteigboden wird zentimeterdick Apfelmus gelöffelt und mit hauchdünn geschnittenen leicht karamellisierten Apfelscheiben belegt. Ich schicke Ihnen das Rezept gern zu. Ein Biss davon genügt, und Sie sind…..Sie wissen schon wo.

à bientôt

Johanna

«Schreiben ist eine Art von Luftwiderstand», von Johanna Hansen illustriert

(Aus einem deutsch-amerikanischen Schriftwechsel, den Johanna Hansen mit dem Schriftsteller David Oates aus Portland/Oregon über zwei Jahre lang führte. Das Buch erschien im Wortschau Verlag mit dem Titel «Schreiben ist eine Art von Luftwiderstand».)

Johanna Hansen, Schriftstellerin, Malerin, Herausgeberin, Studium der Germanistik und Philosophie an der Rheinischen Friedrich-Wilhelm-Universität Bonn. Lebt in Düsseldorf. Zunächst Sprachlehrerin und Journalistin. 1991 Beginn der künstlerischen Tätigkeit. Seit 1993 zahlreiche Ausstellungen. Seit 2008 literarische Veröffentlichungen als Einzelpublikation, in Literaturzeitschriften, Anthologien und auf Literaturplattformen. Seit 2013 zusammen mit Wolfgang Allinger Herausgeberin der Literaturzeitschrift wortschau. Mehrfache Auszeichnungen. Zuletzt Lyrikpreis Feldkirch 2024.

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Beitragsbild © Elena Hill