Briefe haben die lästige Eigenart, einem erste Sätze abzuverlangen. Die beiden folgenden Varianten habe ich erwogen und dann verworfen:
(1) Wie du bereits bemerkt haben dürftest, ist ein Mail von mir zu dir gelangt. Ich habe dir geschrieben und soweit wir unseren Wahrnehmungen trauen können, bist du jetzt gerade dabei, es zu lesen.
(2) Noch ist nichts, zumindest, wenn davon abgesehen wird, dass «noch ist nichts» streng genommen nicht nichts ist. Inzwischen jedoch ist auf jeden Fall etwas.
Der Entscheid ist schließlich zugunsten dessen gefallen, was du bisher eben gelesen hast. Zu beachten ist, dass es immerhin um die ersten Sätze eines Briefes geht, der seinerseits ein erster ist von mir an dich. Sätze am Anfang bergen ein geradezu beängstigendes Zerstörungspotenzial. Schlagartig lassen sie Optionsräume von freiheitsrauschender Weite kollabieren zu erbärmlich engen Verschlägen, die auch noch den zaghaftesten Flügelschlag verwehren. Nur sind sie, sofern überhaupt etwas gesagt werden soll, kaum zu vermeiden, die ersten Sätze. Denn – müßig darauf hinzuweisen – Sätze über erste Sätze sind, so sie denn am Anfang stehen, auch erste Sätze.
Dir wird nicht entgehen, dass ich mich ein bisschen winde, bemüht bin, möglichst keine Gestalt anzunehmen, in der Gegend herumschillere und gleichsam zur Gasförmigkeit tendiere. Ich bitte um Nachsicht, da ich ja absolut null Ahnung habe, wie du diesem Brief, der nun real geworden ist, gegenübergestanden hast, solange er bloß als unscheinbarer Keimling im Raume der Möglichkeiten vor sich hindämmerte, d. h. während der Zeitspanne zwischen der Bekanntgabe deiner Mailadresse und jetzt. Restlos offen für mich die Frage, ob du meine Aussage, ich würde dir schreiben, gleich wieder vergessen hast oder seither mit hoher Frequenz deine Mailbox einsiehst, hoffend oder fürchtend, da könnte was von mir drin liegen, oder ob dir die beiden Alternativen gleichwertig sind, du aber neugierig bist, welche eintreten würde, oder ob nicht mal das oder einfach gar nichts. Aber genug nun des Herumdümpelns in seichten Gewässern, hinaus aufs offene Meer und hinabgehorcht in die dunklen Tiefen (Schaumkronen an der Oberfläche werden ignoriert, mögen sie auch Inspiration versprechen).
Folgendem Tagtraum habe ich mich neulich hingegeben: zu zweit loszufahren mit dem Auto Richtung Sizilien, Gibraltar, egal, wohin auch immer. Dabei kein Gedanke an die gängigen Zwecke einer solchen Reise. Weder ginge es darum, sich durch Kunst und Kultur beeindrucken zu lassen, noch um das Erleben kulinarischer Höhenflüge und ebenso wenig auch um Faulenzereien am Strand. Nein, Ziel wäre das Unterwegssein, das Niemandsland der Autobahnen. Von einer Kapsel umfangen, gleichsam in uteraler Geborgenheit durch die Welt zu gleiten in dieser drin und doch ihrem Zugriff entzogen. Auf sich selbst zurückgeworfen und darin miteinander verbunden zu sein. Sich dann Geschichten zu erzählen, erlebte und erfundene, Debatten zu führen, es eskalieren zu lassen, zu streiten, Einblicke zu gewähren und Ausblicke zu entwerfen, verlegen zu werden, zu lügen und sich dazu zu bekennen, sich zu fürchten, sich geborgen zu fühlen, sich zu berühren (gutesittenkonform – oder auch nicht), zu lachen und zu weinen, Rätsel zu lösen, zu tratschen, zu dösen, zu schweigen, dem anderen vorzulesen, aufschäumendes Cola zum Mund zu führen, den Vorder- oder Hintermann Arschloch zu nennen, Kaffee reinzukippen in verlassenen oder belebten Raststätten und gleich weiterzuziehen, zu fragen, was das alles überhaupt soll etc. – darum ginge es und das ausgedehnt und sich erstreckend, eindringlich und verwandelnd.
Was ist das? Eine Fantasterei, kultiviert und zur Blüte gebracht neulich allein im Auto auf einer langen Fahrt nach Hause. Der Urheber: ein verhinderter Romantiker, dem bisweilen ein Mutschub beschieden ist, der ihn sein Haupt erheben lässt, hinaus über die Schatten werfenden Mauern des Zynismus und der Melancholie. Ein flüchtiges Gebilde zunächst, umlauert von Zweifeln, in labilem Gleichgewicht, am Rande der Auflösung. Jetzt aber zu Papier gebracht, von Sarah gelesen und damit nun auch in ihrem Bewusstsein.
Beizufügen bleibt, dass ich beim Personal dieser Reise an dich und mich gedacht habe.
Zurück in unserer Stadt (ich unterstelle mal, dass es so weit kommen würde) ginge es dann so weiter: Es ist Nacht, schon spät, kaum jemand ist mehr unterwegs. Wir befinden uns auf der Brücke, dort, wo der See in den Fluss übergeht, und haben heiße Marroni dabei. Kalt ist es und der Wind lässt uns die Schultern hochziehen (auch wenn jetzt alles von Frühling labert). Kauend stehen wir ans Geländer gelehnt, schmeißen die Marronischalen in die träge Strömung unter uns und sinnieren darüber, wie weit sie wohl kommen würden, bevor sie der Zersetzung anheimfallen. Dann ein leises Lächeln auf dem Gesicht von einem von uns beiden, das, vom anderen wahrgenommen, auch diesen erheitert, und Augenblicke später, tief in der Nacht, mitten zwischen den Ufern, zwei dunkle Gestalten, durchgeschüttelt von tief entspringenden, machtvollen Eruptionen der Ausgelassenheit – und es war gut, dort auf der Brücke.
Eins wissen wir nun mit Bestimmtheit: Diese Geschichte wird sich so nicht zutragen, aber Unmengen besserer haben noch jede Chance, erlebt statt erzählt zu werden (ich glaube, dass, wenn man sich etwas nur genügend intensiv ausmalt, es sehr unwahrscheinlich wird, dass es so auch tatsächlich eintritt. Es ist, als hätte es durch seine starke mentale Präsenz seinen Seinsanspruch bereits erschöpfend eingelöst. Also sollte man sich hüten, Wunscherfüllungen innerlich vorwegzunehmen – aber wie das?).
Magst du noch, Sarah? Du musst! Denn jetzt kommt noch etwas ganz Wichtiges: Damals im Anschluss an den Film, du weißt schon, habe ich dich wissen lassen, dass ich mir bisweilen unsicher wäre darin, ob deinen Nöten eher sachlich-analytisch, nach Lösungen suchend zu begegnen sei oder ob es nicht viel passender wäre, dich einfach mal in den Arm zu nehmen. Du hast dann entgegnet, dass du umarmt augenblicklich haltlos zu weinen beginnen würdest. Seither, Sarah, möchte ich dich in den Arm nehmen, damit du weinst, so lange und heftig, wie es deiner Traurigkeit gemäß ist. Ich würde dich festhalten, bis dass du ausgeweint hast und nichts mehr zu weinen übrigbliebe. Und dann würden wir ein üppiges Mahl zu uns nehmen und Wein trinken und du würdest mir begeistert von irgendwelchen schicken, zum Kaufe reizenden Schuhen erzählen.
So, jetzt hast du was zu hören gekriegt und ich würde allerhand geben für ein Guckloch in deinem Kopfe mit meinem Auge ganz nahe dran. Denn was weiß ich schon? Gerade mal so viel, dass kein Zweifel besteht, dass ich noch mehr wissen möchte.
Mit liebem Gruss W.
Daniel Sonder, 1952 geboren in Chur, studierte Psychologie und Philosophie in Zürich. Im Anschluss war er viele Jahre in der Softwareentwicklung tätig. Das Schreiben, mehr oder weniger im Verborgenen, beschäftigt ihn schon lange. Mit dem Roman «Der Schönschreiber» tritt er nun erstmals an die Öffentlichkeit. Daniel Sonder ist Vater von drei erwachsenen Töchtern und lebt in Meilen am Zürichsee.
Interview mit Daniel Sonder auf literaturblatt.ch von Urs Heinz Aerni