Rebekka Salm «1943», Auszug aus einer noch unveröffentlichten Arbeit

Vor dem Zugfenster lagen Äcker, nackte Sträucher und Bäume, vereinzelte Häuser und Ställe mit eingefallenen Ziegeldächern, wie in besseren Zeiten hingeworfen und dann vergessen. Alles schien mit Mehlstaub überzogen. In zwei Wochen war Weihnachten. Ihre Schwägerin Lieke hatte Emma angeboten, die Feiertage bei ihr zu verbringen. Doch Emma wusste, dass Lieke kaum genug für sich und die Kinder hatte.
Nicht genug Geld.
Nicht genug Kraft.
Sie sah Bahnhofsgebäude vorbeiziehen, ohne Rauchwolken an den Schornsteinen, als hielten sie den ganzen Winter durch den Atem an. Bahnübergänge mit hochgezogenen Schranken verharrten im lautlosen Gruss an den Führer. Krähen flogen auf. Träge schoben sie sich in den bleiernen Himmel über ihnen. Und obwohl die Vögel in Bewegung waren, schien die Welt leblos, eingefroren wie das Bild auf der Leinwand, wenn der Film riss.
Cees und Emma hatten sich im Kino kennengelernt.
Emma hatte sich an einem Sonntagnachmittag im September mit einer Freundin im Ufa-Kino am Rembrandtplein mit den samtroten Sitzen und dem abgebröckelten Stuck an der Decke verabredet. Es lief «Hauptsache glücklich» mit Hans Rühmann. Ein durchwegs banaler Film. Gerade als die beiden Hauptdarsteller erfuhren, dass die von ihnen erst geliehene und dann verlorene Brosche ein Vermögen wert war, fror das Bild auf der Leinwand ein und die Lichter im Saal gingen an.
«Wussten Sie, dass jedes Mal, wenn der Film reisst, er durch das Kleben ein Stückchen kürzer wird?»
Der Mann, der Emma angesprochen hatte, sass zu ihrer Linken. Er war so gross, dass sie sofort Mitleid hatte, mit der Person, die das Pech hatte, den Platz hinter ihm erwischt zu haben. Seine Haare waren blond und millimeterkurz geschnitten, die Augen blau. Die Schneidezähne standen schief und wenn er schluckte, hüpfte sein Adamsapfel lustig auf und ab. Die Schuhe, die kaum Platz fanden zwischen den Sitzreihen, waren zerkratzt und an zwei Stellen blitzen die Socken durchs aufgeplatzte Leder.
«Und wie oft muss dieser Film noch reissen, bis er verschwindet?», fragte Emma nun ihrerseits. Der Fremde lachte und hielt ihr die Hand hin. Elf Monate später hatten sie geheiratet. Nur sie beiden und die Trauzeugen, Cees Schwester Lieke und Emmas Bruder Willem.
Emma zog den Goldring aus ihrer Manteltasche, der an einem Haken neben dem Fenster hing. Sie probierte ihn an all ihren Fingern an. Das Material war kühl und abweisend, wie es auch Cees gewesen war, als sie sich im Krematorium an der Pienemanstraat von ihm verabschiedet hatte.
Sie konnte die Gravur auf der Innenseite des Rings lesen, ohne ihn vom Zeigfinger abstreifen zu müssen. «Vor altjid» stand darin. «Für immer». Und das Datum ihrer Hochzeit. Natürlich hatte Emma gewusst, dass «Für immer» lediglich eine Metapher für eine sehr lange Zeitdauer war. Fünfzig Jahre. Vielleicht mehr. Aber dreizehn Monate, da war sich Emma sicher, war weit entfernt von einer Ewigkeit. Sie fühlte sich betrogen. Von Gott. Nicht dass Emma an ihn glaubte, aber für einen Irrtum in dieser Grössenordnung konnte dennoch niemand anders verantwortlich sein als er.
Sie griff ein weiteres Mal in die Manteltasche und fischte Foto und Postkarte raus. Das Foto zeigte Cees und war im Jahr ihrer Hochzeit entstanden, als sie mit den Fahrrädern zur Karger Seenplatte gefahren waren. Cees hatte die Unterarme auf den Lenker gestützt, im Mundwinkel ein Grashalm. Das Haar etwas länger als bei ihrem ersten Treffen, vom Fahrtwind zerzaust. Die Augen direkt auf die Kamera gerichtet, einen Hunger im Blick. Hunger auf sie.
Hunger auf das Leben, das vor ihm lag.
Cees war nicht satt geworden.
Je mehr Emma sich zu erinnern versuchte, an die vielen Details, die alle zusammen Cees ausgemacht hatten, umso weniger gelang es ihr. Er war zu einem dunklen Fleck vor ihrem inneren Auge geworden. Ganz so, als hätte sie ihn zu lange im Gegenlicht betrachtet und dann den Blick auf den Schnee vor dem Zugfenster gerichtet. Mit jedem Meter, den sie sie sich ratternd von Cees entfernte, sah sie die Umrisse der Leerstelle, die er hinterliess, deutlicher.
Distanz schaffte Klarheit.
Heilung verschaffte sie nicht.
Ihr gebrochenes Herz rief mit jedem Schlag nach Cees wie ein kaputtes Morsegerät.
Emma hatte ihn einäschern lassen. Bei der Beerdigung hatte es geregnet wie aus Kübeln. Sie war mit ihrer Schwägerin am Grab gestanden. Beide hatten sie sich an ihre Schirme geklammert, in der Hoffnung, sie mögen ihnen Halt vor dem Ertrinken bieten. Emmas Bruder war zu dieser Zeit bereits im Untergrund und schrieb für die Widerstandszeitung «Het Parool». Ob er noch lebte oder nicht, Emma wusste es nicht. Nur mit einem Koffer war sie danach zu Lieke und den drei Kindern gezogen. Der Jüngste konnte noch nicht einmal laufen. Ihr Mann, ein jüdischer Kaufmann, war bereits Monate zuvor in Richtung Schweiz geflohen. Noch immer wartete Lieke auf eine Nachricht von ihm. Täglich stand sie am Fenster, gab vor, die Gardinen zu richten, die Nippes auf dem Fensterbrett neu zu arrangieren. Jeden Tag war der Briefträger an ihrer Haustür vorbeigegangen, unbeeindruckt vom regelmässigen Faltenwurf des Wohnzimmervorhangs oder der exakten Ausrichtung der Häkeldeckchen.
Emma hatte sich bei Lieke ins Wohnzimmer gesetzt, auf den Sessel aus grünem Samt und mit den schwarzlackierten Armstützen. Dort hatte sie ihre ganze Kraft darauf verwendet, nicht auseinanderzubrechen.
Sie spürte die Risse, die sich unter ihrer Haut über den ganzen Körper zogen, sich mehrfach kreuzten über der Brust. Die Bruchkanten rieben sich an ihrem Fleisch, machten sie wund, so dass jede Berührung, jede Umarmung ihren Schmerz vergrösserte. Sie sprach nur, wenn man sie etwas fragte, weinte nur, wenn niemand in der Nähe war. Das Ticken der Wanduhr mit den goldenen Zeigern, die im Wohnzimmer über dem Buffet aus Walnussholz hing, waren die Sprossen, an denen sie sich aus der Dunkelheit hinaus zurück ins Leben hangelte.
Tick-tick-tick.
Jeden Tag aufs Neue. Nur um nachts wieder ins Bodenlose zu fallen. Sie war eine Art weiblicher Sisyphos. Mit dem Unterschied, dass sie dem Tod kein Schnippchen geschlagen hatte, sondern der Tod ihr.
Ab und zu spielte sie mit den Kindern. Doch wenn sie ehrlich war, ertrug sie den Anblick der drei Buben kaum. Mit ihren hellblonden kurzen Haaren und den blauen Augen erinnerten sie Emma zu sehr an Cees. Ruben, der älteste, schien sogar die schiefe Zahnstellung seines Onkels geerbt zu haben. Auch sie hatten Kinder gewollt. Emma zwei, Cees drei. Sobald der Krieg vorbei war, so war der Plan gewesen, wollten sie ihre Koffer packen und nach Frankreich fahren. Sie wollte nach Paris, den Eiffelturm besteigen, durch den Louvre schlendern und unter herausgedrehten Markisen Milchkaffee trinken und dabei den Tauben zusehen, die von der Schönheit der Stadt unbeeindruckt nach den Krumen zwischen den Pflastersteinen pickten. Cees wollte in die Bretagne, gegen den Wind der Küste entlangwandern, Weissbrot in Sud tunken, in dem Muscheln mit weit aufgerissenen Mündern lagen und den Schiffen zusehen, wie sie schrumpften und in die Naht schlüpften, die Himmel und Erde am äussersten Ende der Welt zusammenhielt.
Italien hatte bereits kapituliert, Mussolini war in Gefangenschaft. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis auch Hitler von den Alliierten besiegt und Europa befriedet werden würde. Und dann würden sie losziehen, Emma und Cees. Für immer war eine lange Zeit, da liess sich eine ordentliche Reise machen. Und danach eben Kinder. Zwei oder drei.
Gott hatte anders entschieden.
Dieser Gott, der anstelle eines Herzens ein harter Laib Brot in der Brust hatte.
Sie glättete den wollenen Rock und kniff die Augen zusammen. Nicht weinen. Die ältere Dame auf der anderen Seite des Gangs blickte schon wieder von ihrer Zeitung hoch und warf Emma missbilligende Blicke zu. Der Stoff hinter ihrem Kopf, der das Polster vor Abnutzung schützte, war so zerknittert wie ihr mürrisches Gesicht.
Draussen zerteilte Schneeregen den Himmel von oben links nach unten rechts. Die Flocken am Fenster konnten sich nicht halten, ergaben sich der Wärme, die aus dem Zugabteil zu ihnen herausdrückte und rutschten weg, hinterliessen nichts als feuchte Spuren auf Emmas Spiegelbild.
Ein Tropfen fiel auf die Postkarte auf ihrem Schoss.
Sie war von Beatrix. Auf der Vorderseite das Bild einer Holzbrücke, die über einen Fluss führte, dahinter ein Kirchturm, der über Häuserdächer ragte.
Berge waren nirgends zu sehen. Emma hatte immer geglaubt, dass die Schweiz aus nichts als Berge bestehe. Und aus Tälern zwischen den Bergen.
Beatrix war eine Freundin ihrer Mutter. Als Kind waren die beiden in Leiden in dieselbe Schulklasse gegangen und anschliessend hatten sie im gleichen Betrieb eine Ausbildung zur Damenschneiderin gemacht. Beatrix war die Trauzeugin gewesen, als Emmas Eltern geheiratet hatten. Anfangs der zwanziger Jahre war sie dann ihrem Ehemann, einem Geschichtsprofessor, in die Schweiz gefolgt. Emma hatte Beatrix danach nur noch einmal gesehen, an der Beerdigung ihrer Mutter. Da war Deutschland gerade in Polen einmarschiert.
Nach Cees Tod hatte Emma ihr einen Brief geschrieben. Die Antwort hatte der Briefträger vor wenigen Tagen in Liekes Briefschlitz in der Haustür geschoben. Liekes hatte geweint.
Aus Freude, dass Emma einen Weg nach draussen offenstand.
Aus Enttäuschung, dass die Postkarte nicht den Namen ihres Mannes als Absender trug.

Rebekka Salm, wohnhaft in Olten, studierte Islamwissenschaften und Geschichte in Basel und Bern, arbeitet als Texterin und Erwachsenenbildnerin im Migrationsbereich und ist Mutter einer Tochter. Publikationen in verschiedenen Literaturformaten, 2019 gewann sie den Schreibwettbewerb des Schweizer Schriftstellerwegs. Ihre Siegergeschichte ist im Buch «Das Schaukelpferd in Bichsels Garten» (2021) erschienen. 2022 erschien bei Knapp ihr Debüt «Die Dinge beim Namen«. 2023 erhielt sie von den Kantonen Baselland und Solothurn je den Förderpreis Literatur. 

Beitragsbild © Timo Orubolo

Flurina Badel «Be calm / Nur ruhig», übersetzt aus dem Rätoromanischen (Vallader) von Ruth Gantert

In avrigl algua l’ultima naiv, id es da scuar glera. In cumün savura da grascha. Pens vi da pleds cacofonics: puglina, chavallina, chaclana, buatscha. Tscherch ün pled per chaja da muos-chas. Tüpflischiss. I füss da pulir las fanestras. Tuot lascha fastizis. Eir scuar glera. Il strom da la scua lascha inavo lingias onduladas da la puolvra sülla salaschada. Fetsch rinchs sur tuot la plazzetta via.

Sün banc d’porta baiva cafè. In tuotta calma. N’ha increschantüm – da fluors. Da chalamandrins per exaimpel, da chaminella. Bram il cuffort da l’er in lügl, less sezzer illa sumbriva da l’estragun, mas-char salvgia, verer dalöntsch. Vez ün utschè grisch sül prà. O esa ün crap? Ün crap aint il ögl.

Svöd la chartera. Ün bof am tira bod ourd’man la posta, am sbarüffa ils chavels. Daspö mais soffla il vent be plü in üna direcziun. Cul cuors dal flüm chi sbocca aint il Mar Nair. Là baivan delfins minerals da Lucius, Emerita, Sfondraz e Bonifacius chi nu güdan neir na cunter il catar dal mar. Aint ill’aua impestada prospereschan algas, medusas nu stan cun bocca sütta ed our da las boccas riaintas da las ritschas cula moc. Ma quists dis ningün nu pensa al mar cupichà. Il plü da tuot a las minas. Srantadas d’orizis noudna illas uondas agitadas, giran per quai aint. Eu less cha’l vent volvess – las truppas, ils tancs, camiuns e lantscharaketas, ils bombardaders, jets ed elicopters, las corvettas, bastimaints e suotmarins – ils utschels grischs aint il Mar Nair. Quists dis daja protestas cun fögls albs. Sculozza bluotta invezza da pleds scumandats.

Lav giò la vaschella. Pens vi dal pais da l’aua sül muond. Tuot ils mars, lais, flüms, ils auals, las funtanas. E l’aua aint illas nüvlas eir. Tuot quist’aua chi nu vegn schlavazzada our’i’l univers, pervi da la gravitaziun. E perquai cha’l muond rotescha, gira cunter l’ura giò pel scul. Pens vi dal pled gravidanza, vi da la pel s- charpada suot l’umblin. Id es favrer ed eu dundag cun peis scuzs sün linoleum verdaint. Per na far la cupicha, am tegna vi da la duonna da part. Quella disch la gravitaziun güda. Eu nu sa co ch’üna boa chi strangla tira il flà. Rouv per ajer. Inchün divra üna fanestra. Coura, illa cuntraglüm, naiva s-chür.

In gün daja üna tampestada cha’ls granels cloccan vi da las fanestras da stüva. L’uffant vi dal bruost doza cuort il cheu per verer che chi capita, lura tetta’l inavant. Il rest dal di daracha. Vers saira esa nüvel cotschen. Ils pumpiers pumpan l’aua our dal schler inuondà dals vaschins. Cun l’uffant sün bratsch siglia tras ils fundigls sün plazzetta. L’uffant dà üna risada, muossa cun seis daintin vers l’aua. Aua sarà seis prüm pled, ma quai uossa nu savaina amo. In üert vezza cha züchas e zucchettis han föglia s-charpada. Ün pêr fluors decapitadas.

Petal per petal gelg as pierla our dals büttels da l’enotera. I düra be ün pêr secundas fin cha las fluors sun prontas per splendurir tras la not. Ellas sun sömmis da di, insömgiats da dadaint inoura. Da not insömgia da dadoura inaint. Il plümatsch schmatschà insembel la bunura. Mia membra crappa ed il cheu eir. Pleds van a cupicha, petrifichada resta pichà, chajusa segua, sün quel chalamer, s-chandler – i füss da far laina. Tuot douvra alch. Eir il sömgiar. I füss da dostar sia said. Ils sömmis süman.

In gazetta legia knattertrocken. Quists dis ningün nu disch stà. In nossas boccas sun uondas da chalur, mancanza d’aua, sechüra. La prada sechaditscha büschma. O esa l’ajer?
Quists dis durmina nüds. Trais bes-chas sainza pail chi giaschan üna sper tschella. Minchatant duos da quellas fan l’amur, dascus per na sdasdar l’uffant. Bes-chas chi’s guardan aint ils ögls. Guardain ils corps donnagiats. Nöglia da mal – be ün pêr nattas. Il tagl sur meis öss tuorp. Il tagl sur seis spinal. Meis daintulin stort. La pel scorchada da sia schnuoglia. Fin uossa eschna rivats da s-champar.

Baiv giò dal chüern. Giod il gust da fier süls lefs. Id es october ed eu lasch oura l’aua dal bügl, l’ultima jada per quist on. Cun ün barschun sgratta giò las ritschas da las paraids da beton, lav giò las restanzas da crema da sulai dals turists. Spet fin cha’l bügl s’ha darcheu impli, es spejel pel tschêl. Il tschêl es blau. Blau sco las ragischs dal nuscher schmers. Sia tschücha es amo adüna larmuossa. Rinchs clers dadaoura, quels dadaint s- chürs. Iris e pupilla püffan amunt.

Seguisch a mia sumbriva. Ella passa ouravant sur prada stipa. Sglischa sur mürs sechs e stailas da chardun. Ün chan bubla. Ils utschels grischs nu’s laschan disturbar. Il vent nun ha fat la volva. La bouda nu tuorna amunt. I’m para evidaint ch’eu pens il pled crappar. Sun surpraisa cha saint tantüna il tun da quist text ch’eu less scriver daspö avrigl. Davo ch’eu n’ha fat ir a bügl ils impissamaints, sguotna pled per pled culur latun.


Im April schmilzt der letzte Schnee, Kies muss weggefegt werden. Im Dorf riecht es nach Mist. Ich denke an kakofonische Wörter Vogelkot, Pferdeäpfel, Ziegenköttel, Kuhfladen. Suche ein Wort für Fliegendreck. Tüpflischiss. Die Fenster müssten geputzt werden. Alles hinterlässt Spuren. Auch das Kiesfegen. Der Strohbesen lässt staubige Wellenlinien auf dem Pflaster zurück. Zieht Kreise über den ganzen Vorplatz.

Ich trinke Kaffee auf der Bank vor der Tür. In aller Ruhe. Habe Heimweh – nach Blumen. Zum Beispiel nach Klee, nach Kamille. Sehne mich nach dem Trost des Kräuterbeets im Juli, möchte im Schatten des Estragons sitzen, Salbei kauen, in die Ferne schauen. Ein grauer Vogel sitzt auf der Wiese. Oder ist es ein Stein? Ein Stein im Auge.

Ich leere den Briefkasten. Eine Böe reisst mir fast die Post aus der Hand, zerzaust mir die Haare. Seit Monaten weht der Wind nur noch in eine Richtung. In diejenige des Flusslaufs, der ins Schwarze Meer mündet. Da trinken Delphine Minerale von Lucius, Emerita, Sfondraz und Bonifacius, die auch nicht helfen gegen den Meereskatarrh. Im verseuchten Wasser gedeihen Algen, Quallen treiben im Trüben und aus den lieblichen Mündern der Nixen quillt Schleim. Aber in diesen Tagen denkt niemand ans hinfällige Meer. Höchstens an die Minen. Von Gewittern entfesselt schwimmen sie in den wilden Wellen, irren umher. Ich wollte, der Wind drehte – die Truppen, Tanks, Lastwagen und Raketenwerfer, die Bomber, Jets und Helikopter, die Korvetten, Schiffe und U-Boote – die grauen Vögel im Schwarzen Meer. In diesen Tagen gibt es Proteste mit weissen Blättern. Blankes Grauen statt verbotener Wörter.

Ich wasche das Geschirr. Denke an das Gewicht des Wassers auf der Welt. Alle Meere, Flüsse, Bäche, Quellen. Und auch das Wasser in den Wolken. All das Wasser, das nicht ins Universum geschleudert wird, wegen der Schwerkraft. Und weil die Welt sich dreht, fliesst sie im Gegenuhrzeigersinn durch den Gully. Ich denke an das Wort Schwangerschaft, an die zerfetzte Haut unter dem Bauchnabel. Es ist Februar und ich wanke mit nackten Füssen über das grünliche Linoleum. Halte mich, um nicht hinzufallen, an der Hebamme fest. Sie sagt, die Schwerkraft hilft. Ich weiss nicht, wie eine Schlange beim Würgen atmet. Bitte um Luft. Jemand öffnet das Fenster. Draussen, im Gegenlicht, schneit es dunkel.

Im Juni hämmert ein Sturm seine Hagelkörner gegen die Stubenfenster. Das Kind an der Brust hebt kurz den Kopf um zu sehen, was los ist, dann saugt es weiter. Den restlichen Tag regnet es. Später leuchten die Wolken rot. Die Feuerwehrleute pumpen Wasser aus dem überfluteten Keller der Nachbarn. Mit dem Kind auf dem Arm springe ich über die Pfützen auf dem Vorplatz. Das Kind lacht auf, zeigt mit dem Fingerchen auf das Wasser. Aua, Wasser, wird sein erstes Wort sein, aber das wissen wir jetzt noch nicht. Im Garten sehe ich die zerfetzten Blätter der Kürbisse und Zucchetti. Ein paar geköpfte Blumen.

Ein gelbes Blütenblatt nach dem andern wirbelt aus den Knospen der Nachtkerze. Es dauert nur einige Sekunden, bis die Blumen bereit sind, durch die Nacht zu leuchten. Sie sind von innen nach aussen geträumte Tagträume. In der Nacht träume ich von aussen nach innen. Am Morgen ist das Kissen zusammengedrückt. Meine Glieder aus Stein, und auch der Kopf. Wörter fallen übereinander, Salzsäule bleibt stehen, Schisshase folgt, darauf Schreibstau, Scheiterhaufen, Holz müsste gehackt werden. Alles hat seine Bedürfnisse. Auch das Träumen. Dessen Durst müsste gestillt werden. Die Träume vertrocknen.

In der Zeitung lese ich knattertrocken. In diesen Tagen sagt niemand Sommer. In unseren Mündern sind Hitzewellen, Wassermangel, Trockenheit. Die verdorrten Wiesen wispern. Oder ist es die Luft?
In diesen Tagen schlafen wir nackt. Drei Tiere ohne Pelz, die nebeneinander liegen. Manchmal lieben sich zwei von ihnen, leise, um das Kind nicht zu wecken. Tiere, die sich in die Augen sehen. Wir schauen die versehrten Körper an. Nichts Schlimmes – nur ein paar Narben. Der Schnitt auf meinem Schambein. Der Schnitt auf seiner Wirbelsäule. Mein krummer kleiner Finger. Die aufgeschürfte Haut auf seinem Knie. Bis jetzt sind wir davongekommen.

Ich trinke vom Brunnenrohr. Geniesse den Geschmack des Eisens auf den Lippen. Es ist Oktober und ich lasse das Brunnenwasser aus, zum letzten Mal dieses Jahr. Kratze mit einer Bürste die Algen von den Betonwänden, spüle die Sonnencreme-Resten der Touristen aus. Warte, bis der Brunnen sich wieder gefüllt hat, ein Spiegel für den Himmel. Der Himmel ist blau. Blau wie die Wurzeln des gefällten Nussbaums. Sein Stumpf tränt noch immer. Helle Ringe aussen, die inneren dunkel. Iris und Pupille starren hinauf.

Ich folge meinem Schatten. Er geht voran auf steiler Wiese. Gleitet über Trockenmauern und Distelsterne. Ein Hund bellt. Die grauen Vögel lassen sich nicht stören. Der Wind hat nicht gedreht. Der Steinschlag kehrt nicht bergwärts zurück. Es scheint mir naheliegend, dass ich das Wort erschlagen denke. Ich bin überrascht, dass ich endlich den Ton dieses Textes höre, den ich seit April schreiben möchte. Nachdem ich die Gedanken getränkt habe, tropft Wort für Wort, messingfarben.

Dichterin und ihre Übersetzerin

 

Flurina Badel, tinnitus tropic / tropischer tinnitus, poesias / lyrik, Übersetzung von Ruth Gantert, Flurina Badel, Visueller Beitrag von Jérémie Sarbach. Nachwort von Dumenic Andry, 156 Seiten, Zürich, Edition Howeg, 2023

Flurina Badel, 1983 geboren, lebt in Guarda im Engadin. Nach einer Erstausbildung zur Journalistin war sie als freischaffende Dokumentarfilmerin und Moderatorin tätig. 2015 absolvierte sie den Master of Fine Arts am Institut Kunst der HGK FHNW in Basel und war 2017/2018 Gaststudentin am Institut für Sprachkunst der Universität für angewandte Kunst Wien. Seit 2014 arbeitet sie hauptberuflich im Künstler-Duo Badel/Sarbach, dem unter anderem der Manor-Kulturpreis 2019 verliehen wurde. Seit 2016 ist Flurina Badel die zuständige Redaktorin der rätoromanischen Literatursendung «Impuls» bei Radiotelevisiun Svizra Rumantscha und sie moderiert oder kuratiert kulturelle Anlässe wie zum Beispiel das Symposium LitteraturA Nairs. Flurina Badel schreibt zweisprachig, auf Rätoromanisch und Deutsch. Für ihre Texte wurde sie 2018 mit dem OpenNet-Preis der Solothurner Literaturtage und mit dem Double-Stipendium des Migros-Kulturprozent, 2020 mit dem Schweizer Literaturpreis und 2022 mit dem rätoromanischen Literaturpreis Term Bel ausgezeichnet.

Ruth Gantert wurde 1967 in Zürich geboren, wo sie heute lebt. Sie studierte Romanistik in Zürich, Paris und Pisa. Sie war Dozentin für französische Literatur an der Pädagogischen Hochschule St. Gallen. Heute ist sie Literaturvermittlerin, Redaktorin und Übersetzerin.

Webseite der Autorin 

Beitragsbild © Mayk Wendt

Zsuzsanna Gahse «Wie sonst?»

Und ihre Eltern haben Sie dann aus den Augen verloren? Beide gleichzeitig? 

Sie sagen nichts?

Bin ich Ihnen zu nahegetreten? Ich wollte Sie nicht beleidigen, ich wollte Sie ja verteidigen. Kennen Sie diesen Satz, diesen gesungenen Satz aus der Fledermaus? Könnte ich Ihnen vorsingen, vorsingen lassen. Aha, gefällt Ihnen nicht. Ich wollt Sie nicht beleidigen.

Entschuldigen Sie.

Mögen Sie Lieder und welche am liebsten? 

Mit einem Mal sehen Sie merkwürdig aus. Wie eine hölzerne Gestalt. Im Augenblick sehen Sie aus wie eine Statue! Come una statua. Über die starre Statue könnte man auch singen.

Nun habe ich es verstanden. Sie finden es lächerlich, Sie mit Sie anzusprechen. Kommt nicht wieder vor.

Bist du ein Anhänger von Elvis? Du magst ihn also nicht.

Eher den Armstrong, die schöne tiefe, kratzige Stimme? 

Derzeit gibt es Songs im Schweizer Dialekt, die sich südamerikanisch ausnehmen. Wäre das etwas?

Anfangs hast du Lisa erwähnt, die Braunblonde. Warum habt ihr euch getrennt?

Hast du wirklich Angst vor Frauen? Vor allen Frauen, oder hast du dir das eingeredet?

Gibt es das, gibt es alle Frauen als ein einziges großes Gebilde? Das frage ich mich auch. Ich glaube, dass es das nicht gibt. Alle Frauen zusammen gibt es nicht. Sie sind absolut unterschiedlich, divers, tausenderlei. Daher ist in den alten Dichtungen immer von einmaligen Frauen die Rede. Die Ersehnten sind einmalig. Im Hochgesang sind alle Ersehnten einmalige Frauen.

Nun aber, aber versammeln sich die einmaligen Frauen. Ausgerechnet sie. Fischschwärme von Einzelwesen. Sie schwirren aus.

Denkst du jetzt an das Forellenquintett? Eher nicht. Ich glaube nicht, dass du gerade an Schubert denkst.

Magst du eine Zigarette? 

Gerade will mir kein Zigarettenlied einfallen. Dafür die sengende Sonne.

Oh, Insel in der glühenden Sonne, der Morgen bricht an. Die erschöpften schwitzenden Schwarzen hören nachts die Trommel und den philosophischen Calypso (jemand sagte, der Calypso sei philosophisch), bald bricht der Morgen an, während ich (in diesem Fall ist Ich ein schwarzer Sänger) schwere Lasten tragen und heben muss, zum Himmel empor heben, aber wo ich auch sein mag, auf welchen Meeren ich auch segeln mag, werde ich immer Deine Ufer preisen. 

Sobald mir die Sonneninsel einfällt, folgt das Lied vom mutterlosen Kind. Manchmal, manchmal fühle ich mich wie ein mutterloses Kind, weit weg von zu Hause, weit, weit weg von zu Hause, manchmal fühle ich mich wie ein mutterloses Kind. A motherless child. Meist fällt mir gleich darauf oder kurz vorher Moses ein, der den Pharao auffordert, seine Leute mit ihm ziehen zu lassen. Let my people go. 

Außerdem gibt es ein altes Lied mit einer ähnlichen Grundlaune, das ich allerdings nur in der von Kodály bearbeiteten Version kenne. Spät war ich aufgebrochen, war unterwegs, weit weg von zu Hause, ging immer weiter, aber auf halbem Weg blieb ich stehen, schaute zurück und hatte die Augen voller Tränen. Seither gibt es mittags Kummer, Kummer ist mein Abendbrot, unglücklich sind alle Stunden, und ich weine nicht selten unter dem Himmel voller Sterne.

Es gibt eine mehr oder minder bekannte Herbst-Melodie, vom Text her eher unbekannt, wobei in geglückten Fällen die Texte zusammen mit der Musik loslegen, sie sind miteinander unterwegs. In diesem Herbstlied sagt ein Ich ihrem Gegenüber, dass sie ihn nicht liebe, sie sagt ihm das mitten ins Gesicht (im Original sagt sie ihm das in die Augen). Später stellt sich heraus, und nach wie vor erzählt das der Text, dass sie das nur gesagt habe, um seine Antwort zu hören. Erst stand er wortlos vor ihr, dann ging er stumm, und seither sieht die Erzählerin seinen Blick, immerzu die dunklen Augen. Er sagte kein Wort und ging stumm. Vergilbte Herbstblätter fallen von den Bäumen, ihn hatte der Herbst fortgefegt. Automn Leaves.

Tränen, die sind das Ende, Tränen und leere Hände. Blieben allein zurück, Tränen vom großen Glück. 

Das war Ende der 50er Jahre neben Shantys ein Lied, das heute nicht einmal auf YouTube auftaucht. Ein Billiglied, allerdings mit guten Beschleunigungen, mit wechselnden Tempi. Einfach zu singen, am besten mit Gitarrenbegleitung.

Abgedroschen, ausgeleiert, abgenutzt, abgesungen und trotzdem absolut ansprechend ist der lachende Bajazzo. Verzweifelte Arie eines Verlorenen. Ist er verloren?

Singen Sie oft?

Entschuldigung. Singst du oft?

Nie, wirklich nie? Liedallergie?

Wirst Du oft nach deiner Herkunft gefragt? Oder nach den Liedvorlieben.

Liedvorlieben ist ein gutes Wort.

Endlos nach der Herkunft zu fragen ist abscheulich. 

Am besten nicht antworten, nur singen. Please hear my cry (Sam Cook).

 

(erschienen online in “Für den Fall», Salzburger Literaturhaus und in OSTRAGEHEGE, der Zeitschrift für Literatur und Kunst)

«Kaum zu fassen, wie unterschiedlich Berge betrachtet werden. Investitionsmöglichkeiten, Urlaubsregionen, Jagdgebiete, Regionen für Klettertouren zum Himmel hinauf …», notiert die Ich-Erzählerin von Bergisch in eine ihrer Mappen. Unterwegs in nicht nur freundlichen Alpengegenden sammelt sie in unterschiedlichen Hotels und Berghütten Porträts von Besuchern und den heimischen Gastgebern. Öfters ist sie auch mit Freunden unterwegs, die ihr Interesse für Speisen, Sprachen und deren topografische Zusammenhänge teilen. Sie sammeln Farben, suchen sogar nach Farblosigkeiten, und zu sechst entwickeln sie die Idee eines begehbaren Tagebuchs, um ihre Beobachtungen aufschlussreich archivieren und präsentieren zu können.
Nach und nach tauchen weitere Gebirge auf, unter anderem das Uralgebirge oder etwa die Guayana-Region, und auch die Berge aus Literatur und Kunst sind mit von der Partie.
In über 500 Aufzeichnungen entfaltet Zsuzsanna Gahse ein feinmaschiges Zusammenspiel zwischen den sechs Personen und zugleich entsteht ein lebendiges Panorama der Bergwelten, eine vielschichtige Typologie des «Bergischen».

Zsuzsanna Gahse, geb. 1946 in Budapest, aufgewachsen in Wien und Kassel, lebte längere Zeit als Schriftstellerin in Stuttgart und Luzern, zurzeit wohnt sie in Müllheim, Schweiz. Zahlreiche Preise und Auszeichnungen, u. a. aspekte-Literaturpreis (1983), Adelbert-von-Chamisso-Preis (2006), Italo-Svevo-­Preis (2017), Werner-Bergengruen-Preis (2017), Schweizer Grand Prix Literatur (2019).

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Beitragsbild © privat

Hans Gysi «Paul geht fort» (Auszug)

1

Paul war in einem Alter, wo die Schönheit keine so grosse Rolle mehr spielte und die Erfahrungen einen langsam dahin brachten, die noch verbleibende Zeit zu geniessen oder mindestens ohne grossen Druck zu verbringen. Was wollte man noch erreichen? Welche Stadt noch besuchen? Welche Pläne noch zur Ausführung bringen? So ungefähr lauteten die Fragen, die Paul an sich selbst richtete. Dennoch beschäftigte ihn sein Alter so sehr, dass er, wenn er nachts erwachte, manchmal die Jahre nachrechnete und es nicht recht fassen konnte, dass er nun schon an der Schwelle seines letzten Lebensabschnitts stand. Um besser zu begreifen, was die Zahlen bedeuteten, machte er es sich zur Gewohnheit, die Jahre in seiner Vorstellung wie eine Landschaft aus Kurven und Hyperbeln neben sich auf der Fläche seines Bettes auszulegen und sie gewissermassen von der Seite zu betrachten. Vielleicht war seine Seele irgendwo dort im Gelände unterwegs. Er stellte sich vor, dass die Episoden sei- nes Lebens kleine Täler bildeten, Mulden und Diagramme, die eine fremde und schöne Landschaft beschrieben, welche er einst bewohnt haben mochte. Dadurch gewann sein Leben etwas Fassbares und zugleich etwas Künstliches, sodass er bald nicht mehr wusste, ob er in seinen eigenen Erinnerungen kramte oder in einem fremden Buche las.

2

Paul hatte Kathrin. Kathrin hatte Paul. Sie war freundlich und klug. Und sie hatte noch viele andere Qualitäten, von denen Paul kaum sprach. Sie war etwas bekümmert wegen Pauls Gesundheit. Paul war ihr nicht gleichgültig, das spürte er immer häufiger. Manchmal lachte sie ansteckend und hell. Dann wieder war sie ganz still in sich gekehrt. Die Gefühle bestimmten ihre Befindlichkeit. Auch Paul war ein Gefühls- mensch, gelegentlich ganz nah am Wasser gebaut. Er passierte ihm, dass er weinend im dunklen Kino sass, sich seiner Tränen leicht schämend. So fuhren ihre Gefühle Achterbahn: sie an der steilsten Stelle und er in gemächlicher Ebene oder umgekehrt. Mit den Gefühlen kam die Ungleichzeitigkeit, und sie wurde ein ständiger Begleiter. Kathrin hatte den Eindruck, dass Paul sich zu viel auflud. »Und man weiss«, sagte sie, »dass dieses Alter gefährlich ist: Die Kräfte lassen nach und die Anforderungen steigen!« Paul versuchte, eins nach dem andern anzupacken, vorsätzlich ruhig und nüchtern, doch im Grunde wusste er, dass sie recht hatte. Er konnte sich ein Leben ohne Kathrin nicht vorstellen. In den langen Jahren war sie zu einem Teil von Pauls Da- sein geworden, körperhaft. Ob sie sich nach einer eventuellen Wiedergeburt nochmals zusammentäten, darüber hatte sich Paul keine Gedanken gemacht. Er glaubte nicht an die Wiedergeburt in diesem Sinne. Kathrin hatte viele Vorzüge, das wusste Paul. Zum Beispiel konnte man ihr kaum etwas vormachen, ausser man überraschte sie wie ein lahmer Zauberer mit einer vergessenen Taube aus dem Zylinder. Dass sie vergesslich war, schätzte Paul besonders. Er hatte es nötig.

3

Bevor Paul zur Arbeit ging, prüfte er mit einem schnellen Blick seine Silhouette im Spiegel und dachte an manch eine seiner Gesten, die eine ungeschickte bis fahrige Form annahmen. Manchmal fluchte er leise über ein Missgeschick oder einen Fehlgriff. Da fiel ihm ein Behälter aus der Hand und zu Boden, dort trat sein Fuss nicht mehr sicher auf, was ihn leicht schwanken liess. Das Schwanken konnte er mit et- was Glück in ein sportliches Wippen verwandeln. Vielleicht, dachte er bei sich, war der kritische Punkt überschritten, wo mit täglichem Training und grosser Disziplin etwas auszurichten war. Absurd. Paul war noch nicht so weit, wusste aber, dass man die eigene Unfähigkeit verdrängte und über grösser werdende Defizite hinwegsah, solange man sie kompensieren oder mit Aktivitäten überdecken konnte. Wie ein Feldforscher, der sich für seltene Käfer interessiert und sie auf Nadeln aufspiesst, so fühlte sich Paul, wenn er an sich selbst Ticks und Gewohnheiten beobachtete: Das waren ähnliche Nadelstiche, die ihn unbeweglich zu machen drohten. Häufiger erinnerte ihn sein fahriges Grinsen, eine schiefe Kaubewegung oder ein Kratzen am Kopf und eine selbstvergessene, unbewegte Miene an Bildeinstellungen, die er von seinen älter werdenden Eltern gespeichert hatte. Es graute ihn vor einem Alter, wo ihm Nasenpopel am Hemd kleben würden oder Sabber aus dem Mund rinnen in Selbstvergessenheit und aus Unachtsamkeit. Seine eigene Schusseligkeit nahm zu, da half nichts. Vielleicht sollte er einen Hut tragen, dachte Paul etwas hilflos.

4

Paul hatte Arbeit, er war Lehrer. Zu einem Satz von vierzig Prozent war er eingestellt. Daneben arbeitete er frei fürs Theater. Als Teilzeitlehrer hatte er grosse Träume, weil er viel Zeit mit ihnen verbringen konnte. Er liebte es, in der Stunde Schiefertafeln vollzuschreiben. Wichtige Eckdaten und Zahlen konnte man darauf wieder finden. Paul dachte: Der Unterrichtende hat ein Gedächtnis, aus dem zieht er das Nötigste ans Trockene, wie ein Fischer die Netze einholt. Was beim Fischer die Netze, sind bei ihm die Kreidestifte und der grüngraue Belag der Wandtafeln. Die Tafeln kann er aufklappen, aber er hat kein Recht, alle Tafeln zu füllen, auch das Stehenlassen von Textpartien ist nur in Ausnahmefällen erlaubt. Denn ein Teilzeitlehrer ist Gast in den bereitgestellten Zimmern. Was Paul schrieb, verbündete sich am Schluss der Stunde mit dem Wasser des Tafelschwamms und rann davon. Die Quintessenz seiner Lektionen versammelte sich im Schwamm und am untern Rand der Tafel in trüben Pfützen. Das war das Sichtbare des Bleibenden und gleichzeitig ein schönes Bild für die Vergeblichkeit, das Verschwinden der Erkenntnis. In leichter Melancholie betrachtete er das weisslich-graue Wasser und dachte: Die Schule ist eine Attrappe, die sich in der Weltgeschichte verliert.

Hans Gysi «Paul geht fort», edition 8, 2022,
128 Seiten, CHF 21.00,
ISBN 978-3-85990-454-5

Der Protagonist dieser melancholisch-witzigen Prosaminiaturen ist ein Mensch mit ambivalentem Innenleben, das vielen bekannt vorkommen könnte. Paul ist Lehrer, unterrichtet routiniert seine Klassen und ist in einem Alter, «wo die Schönheit keine so grosse Rolle mehr spielt». Er beobachtet gerne Menschen, die ›Comédie humaine‹ regt ihn zu Betrachtungen an, er schreibt Bücher und hat auch etwas Erfolg damit. Kurz: Er scheint im Leben angekommen zu sein, hat sich eingerichtet.
Da ist aber auch ein Zaudern, ein Zweifeln, eine innere Unruhe, die ihn den Boden unter den Füssen verlieren lässt. Gefangen im «Dickicht der Pflichten», «festgezurrt von Vorbild und Gewohnheit», sucht Paul nach Auswegen aus seinem Alltag, misst sich an seinen Träumen – und bricht auf.
Hans Gysis Texte bestechen durch den nachdenklichen Grundton mit stets präsentem Humor, die fein gezeichneten Beobachtungen und die überraschenden Wendungen, die in einem Finale voll tiefsinnigem Nonsens gipfeln.

Hans Gysi ist 1953 in Arosa geboren und aufgewachsen. Schulen und Ausbildung hat er in Arosa, Schiers gemacht und studiert an der Uni Zürich gemacht. 1976 Sek.-Lehrer Phil I. Von 1982-85 Schauspielakademie Zürich. Seit 1985 zwei Jahre als Schauspieler tätig beim Kitz und später freischaffend als Schauspieler, Regisseur, Theaterpädagoge und Autor mit verschiedenen Theatergruppen Viele Inszenierungen vom Frühlingserwachen bis zur Kleinbürgerhochzeit, u.a. auch mit Andreas Schertenleib «Ich habe eine grosse Sache im Grind», ein Glauserabend. Hat den Förderpreis des Kantons Thurgau erhalten, einen Werkpreis der PRO HELVETIA und einen Förderpreis des Kuratoriums Aargau. Den Rilkepreis erhielt er für das Buch «pocket songs» im Verlag edition 8. Weitere Lyrikbände bei edition 8: «Zettel und Litaneien», «Ein Tag mit Chili Geschmack», lebt in Kreuzlingen Thurgau.

Klaus Merz „firma“, der Anfang

Wir führen
nur sporadisch Buch.
Es geht um die Denk-
würdigkeiten.

 

20. Juli 1968

Fast dämmert es schon unter den hohen Bäumen der Badeanstalt, die ihre Kronen mit den nahen Friedhofsbäumen verschränken. Seit je schwebt leichter Karbolineumgeruch, vermischt mit einem Hauch von Urin, über den grünen Wassern. Frau Droz macht Kasse und räumt das Leckereienkabäuschen auf, sie will heim, läutet mit ihren Schlüsseln. Während der junge Heilsarmeeoffizier zu einem letzten Überschlag vom Einmeterbrett ansetzt, greifen wir entschlossen nach den Kugelschreibern und setzen unsere Signaturen unter den Mietvertrag des Gebäudes, der schon seit dem Morgen in doppelter Ausführung vor uns auf den Badetüchern liegt: Die Firma steht.

 

7. August 1969

Kurz vor Feierabend versetzt Alexander, unser kaufmännischer Lehrling, die junge Belegschaft in Unruhe: Es gebe kein richtiges Leben im falschen, habe er über Mittag in einem Nachruf gelesen. Und er fragt grübelnd nach, ob es das „richtige“ Leben vielleicht gar nicht gebe. Da unser Dasein schon von Grund auf „falsch“ angelegt sei: sodass es eigentlich nur das falsche im falschen geben könne. Was ja dann aber, minus mal minus ergibt plus, durchwegs wieder zum „richtigen“ führen müsse. Unsere Belegschaft atmet auf, hörbar.

 

2. September 1971

Im Frühjahr entsteht neben dem florierenden Betrieb eine Minigolfanlage, achtzehn Bahnen, was bei den Angestellten natürlich stets für unliebsame Ablenkung sorgt und auch wochentags „viele Sportbegeisterte samt Familie ans Schlageisen ruft“, wie der Berichterstatter des Tagblattes elegant festzuhalten weiß. – Am Samstag, es nieselt, ziehen wir das Milchglas hoch, bis über den Scheitelbereich.

 

16. Mai 1972

Wir werden durchleuchtet. Der Wagen der Frauenliga fährt vor – Schirmbild – und macht uns alle ein wenig krank. Zuerst sind die Männer an der Reihe, sie machen sich schon im Freien oben frei. Einatmen. Still- halten. Ausatmen. „Aufatmen“, sagen die Raucher und langen noch schnell nach einem Sargnagel, bevor sie wieder an die Arbeit gehen. „Nach dem Durchleuchten der Damen riecht es jeweils weniger streng im Wagen als bei den Herren, Angstschweiss halt“, sagt der Fahrer, er raucht eine mit. „Die strahlende Röntgenschwester hat uns ja alles ganz leicht gemacht“, sagen wir, versenken die Kippen im  Abwasserschacht.

 

19. Januar 1973

Irina, die wir kurz nach dem Scheitern des Prager Frühlings bei uns aufgenommen und dann gern in der Firma behalten haben, trägt ein Medaillon um den Hals. Wer sich denn unter dem feinen Golddeckel verstecke, wollen wir immer wieder von ihr wissen. Sie widersetzt sich den Neckereien konsequent, „zieht den Eisernen Vorhang zu“, sagt Graber und erschrickt, als Irina ihm ihr Kleinod vor die Nase hält: Es ist ein Bildchen des jungen Jan Palach, der sich aus Protest gegen den sowjetischen Einmarsch auf dem Wenzelsplatz selbst angezündet hat. Vier Jahre zuvor, auf den Tag genau.

 

19. April 1975

Wäre der Geschlechtsverkehr nicht offensichtlich in geschäftseigenen Räumen vollzogen worden, wir hätten darüber hinwegsehen können: Die beiden Beteiligten zeigen ihre erhitzten Gesichter, dahinter unscharf das Firmenlogo. (Vom Fotografen, der das Bild kurz nach Neujahr ans Schwarze Brett gepinnt hat, keine Spur.) Wir haben Stellung beziehen müssen und halten fest: Es ist Liebe. Unterm Reisregen der gesamten Belegschaft verlässt das Hochzeitspaar kurz vor Mittag guter Hoffnung die Kirche.

 

2. April 1978

In unserem Firmenkeller wird getrommelt und geschwitzt. Mittwochnachmittags ist schulfrei, Kambers Sohn hat sich mit drei Freunden und ihrem Schwermetall zwischen den Kartoffelhorden eingerichtet. Von fern nur erahnen wir Obergeschossigen, was es heisst, wenn einem Hören und Sehen vergehen soll. „Gezinst“ wird auf den 1. Januar, ein Gratiskonzert für die Belegschaft, so steht’s im „Vertrag“. Noch wissen wir nicht, ob wir uns darauf freuen oder davor fürchten sollen.

 

7. Februar 1980

Hutlose Lieferanten werden nicht empfangen! Das Emailschild dräut über dem Geschäftseingang unseres einzigen Untermieters, dem permanent klammen Hutfabrikanten mit seinen sieben Kindern. Aus Solidarität zu ihm und seiner kleinen Belegschaft, der zarten Modistin aus Graz, entschliessen wir uns, über der Tür des eigenen Betriebes eine entsprechende Warntafel anzubringen: Herzlose Lieferanten werden nicht empfangen. Der Nachbar dankt es uns mit einem Allwetterhut.

 

7. Januar 1981

Mit ihrem nigelnagelneuen Schweizer Pass in der Jackentasche hat unsere lebensfrohe Irina ihre erste, lang ersehnte Reise in die einstige Heimat angetreten. Anfangs Woche ist sie wieder aus Pilsen zurückgekehrt. Sie habe ihr Geburtshaus betreten, sei vorgegangen bis zum Wohnzimmer: „Auf der Ofenbank sitzt Grossvater, Onkel Pepin auf der Couch, Grossmutter hantiert wie immer in der Küche.“ Beim Erzählen steigen Irina Tränen in die Augen: „Aber ich“, sagt sie, „bin eine andere geworden. Eine Fremde.“

 

11. Juni 1981

„Zweierlei Blunzen. Und dann geschnetzeltes Herz, hat unser neuer Kunde beim Mittagessen im Salzamt in Auftrag gegeben, während mir in meiner kulinarischen Unentschlossenheit nur das Schnitzel (aber was für eines!) in den Sinn gekommen ist.“ – Fast habe er sich vor dem Schlachtverständigen ein wenig geschämt. Überhaupt sei es einer seiner anregendsten Kundenbesuche seit Jahren gewesen, berichtet Karl, der langjährige Aussendienstmitarbeiter, bevor er uns die Bestellliste der Wiener Firma, korrekt wie immer, durchfaxt.

Klaus Merz, geboren 1945 in Aarau, lebt in Unterkulm/Schweiz. Zahlreiche Auszeichnungen, u.a. Hermann-Hesse-Literaturpreis 1997, Gottfried-Keller-Preis 2004, Aargauer Kulturpreis 2005, Werkpreis der schweizerischen Schillerstiftung 2005, Basler Lyrikpreis und Friedrich-Hölderlin-Preis (beide 2012) sowie zuletzt Rainer-Malkowski-Preis (2016) und Christine-Lavant-Preis (2018). Seit Herbst 2011 erscheint bei Haymon die Werkausgabe Klaus Merz in mehreren Bänden. 2020 ist mit der Erzählung «Im Schläfengebiet» ein Sonderdruck in bibliophilem Gewand und mit einem Begleitwort von Beatrice von Matt erschienen.

Beitragsbild © Fotowerk Aichner

Tommie Bayer «Die Begegnung von Henne und Ei an einem Nachmittag im Kurpark von Badenweiler»

„Ach“, sagt der Mann, der mich eben überholt hat und nun, nach einem Seitenblick, den Kopf zu mir her dreht, „ich verfolge deine Arbeit mit Ver­gnügen.“
Er trägt Cordhosen, ausgetretene Schuhe und einen dieser hellen, beigen Rentneranoraks. Sein schütteres Haar ist weiss, und sein Gesicht hat diesen alterslosen Ausdruck zäher Sportler. Er ähnelt Luis Trenker.
Geschmack ist wichtiger als Benehmen, denke ich und verzeihe ihm das Duzen, nicke mit dem Kopf und lächle, wie immer, wenn jemand mich lobt. Ohnehin gehöre ich der Generation an, die das Duzen einst für ei­nen Fortschritt hielt und sich nur langsam zur Revision früherer Ideale durchringt. Allerdings: wie rede ich ihn an? Der Mann ist sechzig oder siebzig.
„Natürlich auch mit du“, sagt er mit herablassender Geduld, „ich tre­te in der ersten Person Einzahl auf.“ Kann der Gedanken lesen?
„Ja“, sagt er. „Eine der leichteren Übungen.“
Er zieht mich am Arm zu einer Parkbank. Entgeistert folge ich ihm und denke, dass ich, wenn das wirklich stimmt, jetzt nichts mehr denken darf.
„Versuch das gar nicht erst“, sagt er und lächelt.
Ich bin gern in Badenweiler, spaziere durch den Park und stelle mir vor, wie hier früher mondäne Damen, Dichter, Schwindler und Emporkömm­linge, Ausbeuter und Adel über den…
„Ausbeuter“, sagt der alte Mann, „so ein Quatsch. Erschien dir nie der Gedanke plausibel, ich könnte euch mit Bedacht so gebaut haben? Sagt dir der Name Darwin denn gar nichts?“
Will der Typ mir etwa im Ernst weismachen, er sei… er habe… das darf doch wohl nicht wahr sein!
„Doch“, sagt er, „darf es wohl. Du hast die Wahl: glaub‘s, glaub‘s nicht, mir egal, ich bin nicht so empfindlich wie ihr meint.“
Ich wage es kaum ihn anzusehen, aber irgendwie muss ich raus aus dieser verflixten Situation. Er sieht gar nicht aus wie ein Spinner. Aber wie sehen die aus? Spinner gibt‘s in jeder Form. Ich muss ihn loswerden. Schnell und höflich. Vor allem schnell. Ich hebe den Kopf und versuche, das Gesicht aufzusetzen, mit dem ich schon manches geschniegelte Mor­monenpaar Sonntag morgens um elf aus meinem Hausflur komplimen­tiert habe, aber mein Ausdruck blasierter Starre muss dem vollständiger Verblüffung gewichen sein, als ich ihn grinsend vor mir sehe, und er ist umgezogen!
„Da staunst du“, sagt er nur.
Allerdings staune ich. Er hat auf einmal einen Turban auf dem Kopf, Sandalen an den Füssen und ein indisches Gewand am Leib. „Tja“, sagte er und deutet mit dem Daumen auf zwei vorübergehende Inder, „das kommt von denen da.“
„Sie sind ein Zauberer, stimmt‘s? Sie wollen Ihre Tricks an mir pro­bieren“, sage ich. „Noch ein, zwei Wunder, dann geben Sie mir Ihre Karte, sagen Nichts für ungut und laden mich zu Ihrer Vorstellung ein.“
„Du“, sagt er nur.
Ich bin verärgert und fühle mich gehänselt. „Fällt mir schwer, Sie zu duzen, wenn Sie mir diese respekteinflössenden Nummern hier vorführen. Hauen Sie gleich noch ein Fünfmarkstück durch die Tischplatte? Soll ich in meine Brieftasche gucken, und da liegt dann Ihre Visitenkarte?“
„Deine“, sagt er.
„Ich hab keine“, antworte ich trotzig. 
„Keine Tricks, ehrlich.“ Seine Kleidung ist wieder wie vorher. „Und ausserdem, welche Tischplatte überhaupt?“
„Ich kapiere nichts mehr“, sage ich.
„Das fällt mir auch auf.“ In seiner Stimme ist ein Unterton von Spott. „Ich hätte gedacht, dass du ein wenig flinker wärst. Deine Bücher machten mir den Eindruck.“
Jetzt hat er mich wieder. Meine Bücher – wie schön so etwas klingt. Der Mann ist ein Fan und will mich beeindrucken, weil er selbst von mei­ner Arbeit so hingerissen ist. So jemanden fertigt man nicht ruppig ab, das wäre nicht anständig. 
„Ihr seid doch alle gleich“, sagt er seufzend, „die affigsten Ungeheu­er, die man sich vorstellen kann“, aber es klingt verzeihend und so, als freue er sich, den richtigen Knopf gedrückt zu haben. Dass er das weiss, ist mir peinlich.
„Komm schon, so war‘s auch nicht gemeint. Es ist nur, weil du manchmal über mich schreibst und ich bei deinen Texten hin und wieder schmunzeln musste, da dachte ich, ich mach dir eine Freude und sprech dich mal an.“
„Nett“, sage ich, „danke.“
„Na, auf geht‘s, du willst mir doch Fragen stellen. Die Gelegenheit, mich mal persönlich zu sprechen, das ist doch was, oder?“
„Aber ich glaube doch nicht mal an Sie…, dich.“
„Was meinst du, weswegen ich mit dir rede?“
„Weil ich‘s noch nötig habe vielleicht?“ 
„Hör mir gut zu“, jetzt klingt er ernstlich ungehalten. „Meine Zeit will ich nicht mit dir verplempern. Wenn du dich blöd stellst, dann war es das. Ich hatte so eine Vorstellung von amüsantem Geplauder. Auf zähen Dialog, bei dem es nur darum geht, dich von mir zu überzeugen, bin ich nicht scharf. Das ist ein bisschen unter meiner Würde, weisst du?“
„Alles klar“, sage ich, „Du bist es. Ich stell mich nicht mehr stur. Ver­sprochen. Und ich stell dir Fragen. Zum Beispiel die, warum du mit mir sprichst, obwohl ich nicht an dich glaube. Sprichst du nur mit Ungläubi­gen?“
„Ausschliesslich“, sagt er, „ja. Und unter denen am liebsten mit den Künstlern.“
„Und wieso?“
„Die lassen mir ein bisschen mehr Freiheit.“
„Die Künstler?“
„Die Ungläubigen überhaupt. Die haben keine so genaue Vorstel­lung von mir, da ist noch ein bisschen Spielraum zur Entfaltung drin. Und die Künstler haben den Vorteil, mich als Konkurrenz anzusehen, das macht es kurzweiliger. Übrigens, da du davon sprichst, so ungläubig, wie du glaubst, bist du nicht. Die Art, wie du mich angezogen hast, spricht Bände. Dieser Anorak hier: ich bitte dich. Die weissen Haare. Dieser Turnlehrerstil. Du hast sehr wohl eine feste Vorstellung von mir.“
„Soll das heissen, dass du immer so aussiehst, wie sich jemand dich vorstellt? Dass du eine Art Chamäleon bist? Dass die Menschen dich phan­tasieren, und du die Gestalt ihrer Bilder annimmst?“ 
„Brav. Er hat‘s kapiert. Schön, dass du wieder klar bist. Mach einen Test.“
Das ist keine schlechte Idee. Ich muss ihn mir nur vorstellen und prü­fen, ob er sich entsprechend verwandelt. Aber nein, Mist, das geht ja nicht. Er kann doch Gedankenlesen. Das bewiese also gar nichts.
„Bist du immer noch am Beweisen? Ich dachte, das hätten wir hinter uns.“
„Entschuldige“, sage ich betreten.
Er legt seine Hand auf meinen Arm und sagt: „Schau mich an, wenn jemand vorbeikommt. Vielleicht hast du Glück und es ist ein Japaner. Achtung. Da kommen welche. Sogar schön hintereinander, die Versuch­sanordnung stimmt also. Konzentrier dich, dann hast du was zu lachen.“
Bis die drei Spaziergänger nah genug herangekommen sind, frage ich ihn noch, ob er hier wohne, er sagt „Nur zur Zeit, bin auf Kur“, und da passiert uns schon der Erste, ein älterer Herr mit sensiblem Gesicht, einer Baskenmütze und langem, weissem Haar. Ich beobachte meinen Neben­mann genau, und tatsächlich verwandelt er sich blitzschnell in eine rötli­che Wolke voller undefinierbarer Gestalten, ich glaube Tiere zu sehen, ei­nen Baum, eine Art Vulkanausbruch und eine Menge Gewusel, dessen Konturen ich nicht zu erfassen vermag. 
„Pech“, sagt er und hat wieder seine normale Gestalt. „Das war ein Waldorflehrer. Achtung, der Nächste. Pass auf.“
Der Zweite, auch ein älterer Herr, im Pullover und mit einer Akten­tasche unterm Arm, geht mit schnellem Schritt an uns vorbei. Wieder ver­wandelt sich mein Turnlehrer, und sein Anblick wechselt schnell und ab­gehackt wie unter Stroboskoplicht zwischen einem Dreieck mit Auge und dem klassischen, bärtigen, nikolausähnlichen alten Mann. „Na siehst du?“ sagt er und lächelt mich an. „Au, jetzt bin ich selber gespannt. Eine Mutter mit Kind.“
Die Frau geht vorbei. Sie ist jung, trägt ihr Baby in einem Tuch über der Schulter und lächelt mir flüchtig zu. Ich habe keine Zeit, zurückzulä­cheln, oder mich zu wundern, dass sie nur mich und nicht den alten Herrn neben mir beachtet, weil ich seine Verwandlung nicht verpassen will. Es ist unglaublich: Er ist zwei Gestalten gleichzeitig. Die eine sieht ein bisschen aus wie George Clooney oder Cary Grant, aber ich kann mich nicht darauf konzentrieren, denn die andere ist eine riesige weibliche Brust. Ein phä­nomenaler, in seiner Monstrosität befremdlich skurriler Anblick. Ich bin sprachlos.
Er sitzt wieder vor mir in seinem Anorak und lacht von Ohr zu Ohr. „Das war gelungen, auf sowas hab ich gehofft“, sagt er, „das lässt uns den fehlenden Japaner verschmerzen.“
Wir schweigen eine Weile, denn mein Kopf ist jetzt tatsächlich so leer, wie ich ihn noch vor wenigen Minuten gern gehabt hätte. Er wartet geduldig, bis ich wieder soweit gefasst bin, dass ich eine vernünftige Frage stellen kann: „Heisst das, also, begreif ich das richtig, dass die Menschen dich erschaffen? Ihre Vorstellung von dir ist alles, was es gibt?“
„Na, der Gedanke wird dir doch nicht neu sein. Ja, um dir richtig zu antworten, das heisst es.“
„Sehen sie dich?“
„Nur die Künstler. Normale Menschen haben ihre Phantasien nicht als Wirklichkeit vor Augen.“
„Wenn jetzt einer vorbeikäme, der das Geld anbetet, würdest du dann als Tresortür oder Bündel von Scheinen hier liegen?“
„Theoretisch ja“, sagt er, „aber praktisch kommt das nicht vor. Kein Mensch stellt sich mich als Geld vor. Das ist eine Metapher. Hat nichts mit der Realität zu tun.“
„Und bei einem Atheisten?“
„Nichts. Absolut nichts. Da verschwinde ich einfach. Kommt aller­dings sehr selten vor. Echte Atheisten sind sehr, sehr dünn gesät.“
„Halt“, sage ich nach kurzem Nachdenken, „da stimmt doch was nicht. Vorher hast du behauptet, du habest die Menschen so gebaut, dass einer den andern ausbeutet, und jetzt soll ich dir glauben, dass die Men­schen dich erschaffen, entsprechend ihrer Wünsche und Phantasie. Da stimmt doch die Reihenfolge nicht!“ Ich bin stolz auf meine glasklare Lo­gik.
„Du meinst“, sagt er, „wenn ich die Menschen erschaffen habe, dann können sie nicht mich erschaffen haben?“
„Ja“, sage ich. „Genau.“
„Denk noch mal drüber nach. Ich kann sie doch so erschaffen haben, dass sie mich phantasieren, und sie können mich so phantasieren, dass ich sie erschaffen habe. Mit deiner Logik kommst du nicht so weit, wie du glaubst.“
„Hm“, sage ich. 
„Ich muss los.“ Er erhebt sich von der Bank. „War nett mit dir zu plaudern. Hast du noch eine Frage?“
„Ja, halt.“ Ich bin erschrocken, denn da das Eis nun mal gebrochen ist, könnte ich ewig so weiterfragen. „Moment, eine Frage noch: Gibt es dich?“
„Frag dich selber, ich bin deine Idee.“
Er geht, ich bleibe sitzen und rufe ihm nach: „Wenn du meine Idee bist, was ist dann mit dieser Begegnung hier? Ich treff dich, obwohl ich nicht mal an dich glaube. Das kann doch nicht meine Idee sein!“
„Doch“, ruft er fröhlich, „Selbstverständlich. Du musst mal dein Ver­hältnis zu Ideen überprüfen.“
Auf einen Schlag ist er verschwunden. Die späte Blondine im Pelz­mantel, die eben an ihm vorbeiging, das heisst, nur auf ihn zu, muss also ei­ne echte Atheistin sein. Ich hätte Lust, sie darauf anzusprechen, aber mein Bedarf an Gesprächen ist gedeckt. 

Thommie Bayer, 1953 in Esslingen geboren, studierte Malerei und war Liedermacher, bevor er 1984 begann, Stories, Gedichte und Romane zu schreiben. Neben anderen erschienen von ihm «Die gefährliche Frau», «Singvogel», der für den Deutschen Buchpreis nominierte Roman «Eine kurze Geschichte vom Glück», «Das innere Ausland» und zuletzt «DasGlück meiner Mutter».

Rezensionen von «Das innere Ausland«, «Seltene Affären» und «Das Glück meiner Mutter» auf literaturblatt.ch

Webseite des Autors

Beitragsbild © Peter von Felbert

Alexander Estis «Handwörterbuch der russischen Seele»

A

ARALSEE. Ob es im Aralsee Korallen gibt, das ist nach wie vor ungeklärt. Nicht weil man es nicht untersucht hätte, sondern weil man zu bequem ist, es nachzulesen.
Obwohl es also ungeklärt ist, ob es im Aralsee Korallen gibt, glauben viele, daß er seinen Namen von den darin möglicherweise vorhandenen Korallen hat und früher Korallsee hieß. Aber auch das ist natürlich ungeklärt.

ARBEITSTEILUNG. Einer schaufelt, zwanzig schnauben; einer schraubt und zwanzig schauen; einer schmiedet, zwanzig klauen; einer schreit und alle glauben.

ARMEE, UNSERE. Unsere unbesiegbare Armee, unser unschlagbares Heer, unsere braven Jungs, unsere tapferen Männer, unsere furchtlosen Verteidiger, unsere großen Eroberer, unsere glorreichen Gefallenen, unsere sieghaften Versehrten, unsere hilflosen Invaliden, unsere hungernden Veteranen, unsere verarmten Rückkehrer, unsere nicht zurückkehrenden Kinder.

AUSLAND, Ausland! Wieso willst du in dieses Ausland, Swetlana? Es ist nicht gut hier, sagst du? Aber im Ausland eben auch nicht, Swetotschka, nein, sogar noch schlechter. Wie viel mehr schreckliche Katastrophen ereignen sich im Ausland als hier? Wie viel mehr verrückte Absurditäten? Und wie viel mehr Terror und Krieg? Die Kriege sind alle im Ausland, Swetlanotschka, selbst unsere Kriege. Schalt doch den Fernseher mal an. Im Ausland ist alles schlechter, zumindest vom moralischen Standpunkt aus. Und der moralische Standpunkt, Swetlana, wo ist der? Hier!

B

BABUSCHKA Großmutter, alte Frau. Babuschka heißt eigentlich Matrjoschka. In einer Matrjoschka ist immer noch eine und darin noch eine, und darin wiederum noch eine. Babuschkas kommen meist auch zu mehreren vor, aber sie sind innen hohl.
Babuschkas bilden die stabilste Institution Rußlands. Babuschka ist Gesetzgeberin, Strafverfolgerin, Staatsanwaltschaft, Rechtsprechung und Strafvollzieherin in einem. Ihr Hauptwerkzeug, das Geschnatter, von dem man nie wissen kann, ob es von ihr selbst oder von den sie begleitenden Elstern ausgeht, ist, demgemäß, zugleich Gesetz, Urteil und Höchststrafe. Es verfolgt und findet dich überall.
Also kauf dir lieber Matrjoschkas.

BAUMSTUMPF. Wenn ein Verbannter nach drei Jahrzehnten ins heimatliche Dorf zurückkehrt, aus solcher Gegend, wo ödes Felsgrau oder das trockene Gras der Steppe oder nur weißer, unendlich weißer Schnee den Boden zudeckt; wenn ein Verbannter von dort zurückkehrt und findet keinen, nur leere Häuser, nur, längst erkaltet, Kohle, Asche, dann lehnt er sich an eine Mauer oder hinunter schaut er in den Brunnen oder er setzt sich auf einen Baumstumpf und bleibt dort sitzen.

BALALAIKA Russisches Saiteninstrument; ebenso die Gusli. Die Balalaika hat nur drei Saiten, und zwei davon sind auch noch gleich. Aber ich mag die Balalaika trotzdem. Manchmal denke ich, das ist doch öde, drei Saiten, und zwei davon auch noch gleich. Nicht nur gleich, sogar identisch, ganz identisch, fast als wäre es eine einzige Saite. Dann hätte die Balalaika insgesamt sogar nur zwei Saiten. Und das ist doch öde, denke ich manchmal.
Balalaika, sage ich dann vorwurfsvoll, sieh dir die Gusli mal an, sage ich, so viele Saiten hat die Gusli, die kann ich nicht einmal zählen! Aber die Balalaika antwortet: Iwan, wenn du sie nicht zählen kannst, dann kannst du sie auch nicht spielen. Also sei es zufrieden. Und sie hat recht!

BALLETT. Das Ballett ist ein Traum, weil der Mensch vom Ballett träumt. Der Mensch träumt von den schwindelerregenden Pirouetten, von den artigen Pas de trois, von der schwerelosen Akkuratesse der Bewegung; davon träumt der Mensch.
Aber in Wirklichkeit träumt er nicht vom Ballett, er träumt vielmehr davon, vom Ballett zu träumen. In Wirklichkeit träumt er von Warmwasser. Davon träumt der Mensch. Oder vielleicht von Wohnraum. Aber er würde gern von was anderem träumen, der Mensch, und zwar vom Ballett.

BÄR, DER. Der Bär, das ist ein richtiger Russe. Er redet nicht gern, brummt nur vor sich hin, und nicht einmal das macht er gern. Er ist mürrisch und träge. Erst wenn du ihn am Riemen ziehst und mit dem Zuckerwürfel lockst, wenn du ihn wachrüttelst, ihn, sozusagen, involvierst in den Trubel, dann erst wird er rege, kommt in Fahrt, jongliert, brüllt, tanzt dir was vor auf der Arena. Danach nimmt er seinen Zuckerwürfel entgegen. Und dann wird er wieder mürrisch, kauert sich in die Ecke seines Käfigs und leckt sich die Pfoten.

BAZAR Markt; Händel. Maxim sagt, Kostja sei ein Gauner und ein Dieb obendrein. Kostja sagt, das sei reine Verleumdung, weil Maxim einen Neid habe auf seinen, also Kostjas, neuen Wagen. Kostja sagt, Maxim gebe sich für einen Polizisten aus, sei aber in Wirklichkeit nur ein Bahnkontrolleur, und selbst das nur im Regionalverkehr. Maxim sagt, Wirklichkeit sei ein Konstrukt und allein der Geist der Sittlichkeit könne uns retten. Kostja sagt, Maxim sei ein hundselender Idealist. Maxim sagt, Kostja sei Materialist und gerade deswegen ein Gauner, egal ob er den Wagen ge- stohlen habe oder nicht. – Was für ein Bazar!

BEMITLEIDEN, SICH SELBST. Wir haben gelernt, uns niemals selbst zu bemitleiden. Wir sind unermüdliche, eherne Pioniere, wir sind allzeit bereit. Doch auf Dauer zermürbt es natürlich, immer bereit zu sein, ehern und unermüdlich, nie sich selbst zu bemitleiden, auf Dauer raubt das alle Kraft. Ach, wir armen, wir elenden Pioniere!

BENEHMEN. Der Russe kann sich nicht benehmen, besonders in Deutschland, und zwar weil er nicht muß. Müßte er sich benehmen, könnte er es allerdings auch nicht, und zwar weil er nicht will. Aber wollte er sich benehmen, dann könnte er es, auch wenn er’s nicht müßte.

BESOBRASIE. Ungestalt, Formlosigkeit, Schande und Häßlichkeit. Davon gibt es in Rußland viel, aber auch außerhalb; aber vor allem innerhalb. Sagen wir, deine Frau hat dich verlassen, aber nicht einfach so, sondern sie hat den Schmuck deiner Großmutter mitgenommen, aber nicht einfach mitgenommen, sondern verkauft und mit dem Geld einen Anwalt bezahlt, aber keinen einfachen, sondern mit Beziehungen, und der hat Alimente durchgesetzt, und nun suhlt sich die Frau auf den Malediven im Sand und schlürft Mojitos und hat sich sogar Großmutters Schmuck zurückgekauft: wie fühlst du dich da? Und, sagen wir, gleichzeitig ist auch noch Krieg irgendwo im Kaukasus. Besobrasie.

BIRKEN. Weißt du, Bruder, Birken gibt es nur in Rußland. In den unendlichen heimatlichen Wei- ten, die es auch nur in Rußland gibt. Du sagst, es gibt woanders auch Birken? Das weiß ich doch, du Esel. Es gibt auch woanders Birken. Aber eben nicht solche Birken. Das hier sind schlanke, hochgewachsene Birken, wie im Lied, Birken- mädchen sind das. Verstehst du? Es sind unsere Birken. Hör mir auf mit deinem woanders, du profaner Kerl. Es gibt nur hier russische Birken, nirgends sonst. Und warum? Weil es woanders die heimatlichen Weiten nicht gibt, Bruder, dar- um gibt es auch nicht die russischen Birken.

BLINYS Russische Pfannkuchen. Singular: Blin; Plural: Bliny. Blinys ist die Mehrzahl von Bliny. Bliny wiederum ist die Mehrzahl von Blin. Schon dadurch sind Blinys sehr demokratisch. Darüber hinaus sind sie aber noch rund, sodaß man von jeder Seite gleich gut abbeißen kann. Sehr demokratisch. Aber das ist noch nicht einmal alles. Zusätzlich kann man sie mit allem möglichen befüllen, mit Schmand, mit Pastete, mit Marmelade, mit Kaviar, sogar mit deutscher Mettwurst oder amerikanischer Erdnußbutter. Ja, das ist alles möglich. Und das ist noch immer nicht alles. Blinys schmecken allen gleich gut, ob du aus Jakutien kommst, aus Mordwinien oder Baschkirien, ob du Holzfäller bist oder Leiter der Nationalbank, ob Patriot oder Staatsfeind. Ja, sogar dem Staatsfeind schmeckt es. Blinys sind reine demokratische Materie. Nur geplättet.

BORSCHTSCH. Borschtsch muß man schlürfen. Richtig mit Geräusch. Deshalb heißt er auch so: Borschtsch. Vorher muß man ihn allerdings kochen. Dazu braucht man Herzblut, Geduld und Rote Beete, von allem etwa gleichviel. Am Ende gibt man Schmand hinzu. Man schmeißt ihn, schleudert, schmettert ihn richtig in den Suppenteller. Deshalb heißt er auch Schmand.

BREITE DER SEELE. Die deutsche Seele ist in ihren Maßen konstant. Mit der russischen Seele verhält es sich ganz anders. Nicht an jeder Stelle ist die russische Seele gleich breit. Oft kommt es einfach darauf an, wie sie gerade liegt. So kann sie sich wider jedes Erwarten plötzlich als außerordentlich breit erweisen oder umgekehrt. Das ist das Geheimnis ihrer Breite.

(Die wiedergegebenen Texte sind nur die jene unter den Anfangsbuchstaben A und B!)

Alexander Estis wurde 1986 in einer jüdischen Künstlerfamilie in Moskau geboren; hier erhielt er eine Ausbildung an Kunstschulen und bei Moskauer Künstlern. Seit 2016 lebt er als freier Autor in Aarau. Alexander Estis arbeitet vorwiegend in literarischen Kleinformen (Kürzestprosa, Aphoristik, Glossen, szenische Miniaturen, Epigramme und lyrische Fragmente). Seine Texte werden in Anthologien und Zeitschriften (u.a. Sinn und Form, Lichtungen, Entwürfe) sowie als eigenständige Sammlungen publiziert. Ausserdem verfaßt er Essays, Glossen und Kolumnen (NZZ, Frankfurter Rundschau, Berner Zeitung, The European, Unabhängige Moskauer Zeitung u.a.). Für seine Texte erhielt er mehrfach Auszeichnungen und Stipendien, zuletzt den Rolf-Bossert-Gedächtnispreis. 2020–2021 ist er Lydia-Eymann-Stipendiat in Langenthal (Schweiz).

Alexander Estis «Handwörterbuch der russischen Seele.
Für den täglichen Privatgebrauch in deutschen Haushalten»,
Parasitenpresse Köln, 2021, mit Zeichnungen von Lydia Schulgina
70 Seiten, CHF 19.00, ISBN: 978-3-947676-70-5

Was ist der Unterschied zwischen Babuschka und Matrjoschka? Warum gibt es nur in Rußland richtige Birken? Wo gelangt man hin, wenn man mit der Transsibirischen Eisenbahn fährt? Warum hat die Balalaika nur drei Saiten? Worin besteht die Aufgabe des FSB? Welcher Kaviar schmeckt besser – roter oder schwarzer? Warum ist Putin fast wie Puschkin? Und vor allem: Weshalb ist die russische Seele so breit? Wer sich diese und ähnliche Fragen schon einmal gestellt hat, wird im »Handwörterbuch der russischen Seele« von Alexander Estis fündig werden – aber keine Antworten erhalten.

Webseite des Autors

Christian Futscher «Der Vogel»

Es war an meinem zehnten oder elften Geburtstag, als mein Vater bei meiner Geburtstagsfeier, die in einem Garten stattfand, auf einen Baum kletterte. 
Als er oben war, rief er: „Ich bin ein Vogel!“ 
Dann begann er zu pfeifen und zu zwitschern.
Meine Freunde fanden das lustig, ich nicht.
Mein Vater bewegte die Arme, als ob sie Flügel wären. 
Dabei fiel er fast vom Baum.
Meine Freunde lachten, ich nicht.
„Komm sofort herunter!“, rief ich.
Als er endlich wieder unten war, sagte ich: „Wenn du noch einmal lustig bist, dann bringe ich mich um.“ 
Er hat nicht aufgehört, lustig zu sein.
Und ich lebe immer noch.

 

Kuh spielen

Im Schwimmbad trafen wir Freunde von mir, die sich zu uns setzten.
„Wer spielt mit mir Kuh?“, fragte mein Vater plötzlich in die Runde.
Meine Mutter und ich sahen uns an.
„Wie geht das?“, fragte einer meiner Freunde, und mein Vater antwortete: „Auf allen vieren durch die Wiese gehen, immer wieder laut muhen, mit dem Mund Gras zupfen, blöd in die Luft schauen …“, und nach einer kleinen Pause fügte er hinzu: „und mit dem Schwanz die Fliegen vertreiben!“ 
Daraufhin musste er selbst am meisten lachen. 

 

Die bissige Banane

Einmal waren zwei Freunde von mir zu Besuch, die auch mit uns zu Abend aßen. Es gab Würstel mit Senf und Ketchup.
Nach dem Essen gingen meine Freunde und ich ins Wohnzimmer, um dort fernzusehen. 
Plötzlich stürmte mein Vater mit einer geschälten Banane in der Hand ins Zimmer und rief: „Hilfe, die Banane hat mich gebissen! Au weh, au weh, tut das weh!“
In ein Ende der geschälten Banane hatte er einen geöffneten Mund, das heißt, ein aufgerissenes Maul hineingeschnitten, an dem sich etwas Ketchup befand. Und auch auf dem linken Unterarm, in den ihn die Banane gebissen hatte, war Ketchup.  
Mein Vater zeigte auf die Wunde an seinem linken Unterarm und wiederholte mit schmerzverzerrtem Gesicht: „Die Banane hat mich gebissen! Böse Banane! Ganz ganz bö-se Ba-na-ne!“
Später im Bett soll ich zu ihm gesagt haben, er sei „deppert, ultradeppert und sogar ultraschalldeppert“.

 

Lumpi

Irgendwann trieb mein Vater in einem Geschäft für Zauberartikel eine ganz besondere Hundeleine auf. Sie war verstärkt, in ihrem Inneren musste sich ein dickerer Draht befunden haben oder so etwas, an ihrem Ende war ein Hundegeschirr angebracht. Wenn man die Leine entsprechend hielt, sah es aus, als ob ein unsichtbarer Hund an der Leine wäre – eine beeindruckende, fast perfekte Illusion.
Mein Vater war begeistert von dieser Hundeleine. 
Dem unsichtbaren Hund gaben wir den Namen Lumpi.
„Lumpi ist ein Traumhund!“, sagte mein Vater. „Er bellt nicht, er haart nicht, er braucht nichts zu fressen und zu trinken, er beschwert sich nicht, jagt keinen Katzen nach, kackt nicht auf den Gehsteig, nicht einmal Gassi gehen muss man mit ihm.“  
Auch ich war eine Zeitlang begeistert von Lumpi.
Auf unseren Spaziergängen wurden wir immer wieder auf unseren unsichtbaren Hund angesprochen, was oft recht unterhaltsam war.
Kinder kamen gelaufen, interessierten sich für Lumpi, der auch recht laut knurren konnte, wenn mein Vater Lust hatte zu knurren.

 

Die Erbse

Meine Eltern und ich saßen in einem Gastgarten beim Essen. Auf meinem Teller befanden sich Fleisch mit Reis, Kohlsprossen und Erbsen. 
Während ich es mir schmecken ließ, sagte meine Vater plötzlich: „Die Erbsen sind die kleinen Brüder der Kohlsprossen.“ 
Ich korrigierte ihn: „Nein, es sind ihre Kinder!“
„Brüder!“
„Kinder!“
„Brüder!“
„Kinder!“

Meine Mutter mischte sich ein und rief: „Ruhe!“
„Nur eins noch“, sagte mein Vater: „Egal, ob die Erbsen die Brüder oder die Kinder der Kohlsprossen sind, keine von ihnen wird überleben!“ 
Kurz darauf sagte er: „Doch, eine schon!“ und wischte mit dem Messer eine Erbse vom Teller, so dass sie auf die Erde fiel.
Meine Mutter verdrehte die Augen, worauf er mit Unschuldsmine sagte: „Ich bin mit dem Messer ausgerutscht!“
Da musste ich so lachen, dass ich einen regelrechten Lachkrampf bekam. 
Ich konnte sehen, wie sich mein Vater darüber freute. 
Und auch meine Mutter musste jetzt lachen.
Dann setzte mein Vater noch eins drauf. Er trat mit dem Schuh auf die Erbse und sagte bedauernd: „Nein, leider, auch sie überlebt nicht. Das Leben ist hart! Hart wie eine Schuhsohle.“

(Alle Texte mit spezieller Erlaubnis zur Veröffentlichungen aus «Mein Vater, der Vogel»)

Christian Futscher «Mein Vater, der Vogel», Czernin, 2021, 160 Seiten CHF 30.90, ISBN 978-3-7076-0728-4

Christian Futscher, geboren 1960 in Feldkirch, Studium der Germanistik, lebt seit 1986 in Wien, wo er u. a. Pächter eines Stadtheurigen war. 1998 erfolglose Teilnahme beim Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt, dafür 2006 Publikumspreis bei der «Nacht der schlechten Texte» in Villach. 2008 Gewinner des Dresdner Lyrikpreises. 2014 österr.-ungarisches Austauschstipendium. Seit 2010 Verfasser von Schulhausromanen mit Schulklassen. 2015 Aufenthaltsstipendium in Schloss Wartholz und 2016 in Winterthur.

Rezension von «Mein Vater, der Vogel» mit Interview auf literaturblatt.ch

Lukas Maisel «Ewiger Wanderer»

Ich sah den leuchtenden Schweif eines Kometen, der nur im Abstand eines Menschenlebens erscheint, sah ihn viele Male, bis er mir zum Gefährten wurde, mir keinen Schrecken einflösste wie jenen, die an Omen glaubten. Ich sah den Himmel, als er noch so hoch war, dass Götter darin leben konnten, und ich sah diese Götter ausziehen aus dem Himmel nach und nach, einem Allmächtigen platzmachend erst, bis auch dieser ausziehen musste, sodass der Himmel nun leer ist. Ich sah die Berge, als sie noch keine Namen trugen, als niemand daran dachte, sie zu besteigen, und ich sah diese Berge nach und nach bezwungen werden, auch jene, die als heilig galten. Ich sah in der Wüste einen Mann auf einer Säule stehen, sah ihn auf dieser Säule verharren für Jahre, und der Mann antwortete auf meine Frage, warum er das tue, er wolle sich nicht in Versuchung führen, er entsage dem Weltlichen, um das Himmlische zu erlangen. Ich sah die Meere, als sie noch weit waren, als sie noch als unüberwindbar galten, als in ihnen noch Leviathan und Cetus lauerten darauf, die Seefahrer hinabzureissen, sah diese Kreaturen schrumpfen und schliesslich verschwinden von den Meereskarten, ich sah Schiffe auslaufen in diese Meere, und ich sah sie zurückkommen tief im Wasser liegend und betörend duftend. Ich sah Menschen sich so sehr fürchten vor dem Tod, dass sie behaupteten, es gäbe den Tod nicht, hörte sie sagen, das Leben ginge nach dem Sterben weiter bis in die Ewigkeit. Ich sah Menschen sich so sehr fürchten vor dem Leben, dass sie ihre Körper aufschnitten, ihre Körper aufhängten, ihre Körper wegwarfen in Schluchten und in Flüsse. Ich sah Menschen sich so sehr fürchten vor dem Verlust eines andern Menschen, dass sie behaupteten, dass das Leiden, das einem der Verlust eines andern Menschen verursache, schlecht sei, dass man niemanden so sehr lieben dürfe, dass sein Verlust einem Leiden verursachen könnte. Ich sah einen Mann brennen, angezündet von denen, die nicht glauben wollten, dass jeder Stern am Himmel eine Sonne sei, und dass um jeden dieser Sterne Planeten kreisten. Ich sah Frauen brennen, viele Frauen, denen man vorwarf, Nadeln in Milch gezaubert zu haben, ich kenne den Geruch von brennendem Haar, von schmelzender Haut, ich kenne den Anblick von Gesichtern, die in Flammen verkohlen. Ich sah Frauen sich die Zähne schwärzen, sah sie sich die Zähne weissen, die Haare lang tragen oder kurz, sah sie all diese Dinge tun im Namen der Schönheit. Ich sah Tiere, die als heilig galten, und deren Tötung bestraft wurde, und ich sah dieselben Tiere bezeichnet als schmutzig und nichtswürdig, und sah ihre Tötung gefeiert von vielen Menschen. Ich sah die Menschen Gesetze aufstellen, wen man lieben durfte und wen nicht, sah sie die eine Liebe erheben zum Höchsten, was es gebe, die andere Liebe als teuflisch verbannen. Ich sah die Menschen Dinge schaffen, die ihnen die Arbeit erleichterten auf dem Felde, sah sie Maschinen schaffen, die sich bewegten wie sie selbst,  aber nicht aussahen wie sie selbst, ich sah die Menschen Fabriken errichten, welche die Bedürfnisse der Menschen befriedigen sollten, und ich sah sie Fabriken errichten, die Menschen vernichteten.

All das sah ich mit meinen eigenen Augen, aber niemand glaubt mir, dass ich all das gesehen habe.

Lukas Maisel «Buch der geträumten Inseln», Rowohlt, 2020, 272 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-498-00202-2

Lukas Maisel, geboren 1987 in Zürich, machte eine Lehre zum Drucker. Bald merkte er, dass er Bücher lieber schreiben als drucken würde und studierte am Literaturinstitut in Biel. Für das Manuskript «Buch der geträumten Inseln» erhielt er 2017 einen Werkbeitrag des Kantons Aargau und 2019 einen Förderpreis des Kantons Solothurn.

Rezension mit Interview von «Buch der geträumten Inseln» auf literaturblatt.ch

Webseite des Autors

Beitragsbild © Rowohlt Verlag

Rolf Lappert «Das Wunder von Kalifornien»

Stuart Weaver erschrak nicht, als das Licht ausging. Auch nicht, als die ersten Stöße des Bebens die Bücher aus den Regalen warfen. Er setzte sich unter einen der Schreibtische und wartete. Die nächsten Wellen erschütterten Boden und Wände, es regnete noch mehr Bücher, die Regale und Karteischränke kippten und landeten krachend auf den Monitoren und Tastaturen, den Telefonapparaten und Wasserspendern, den Druckern und Fotorahmen und Kaffeetassen. Weaver hörte die Stockwerke über sich einstürzen, ein dumpfes Grollen wie von vereistem Schnee, der über ein Dach rutscht. Alles ging sehr schnell, dann herrschte Stille.

Der erste Gedanke, den er in seinem Kopf zu fassen kriegte, war: Ich habe die Wette mit Sheldon Hoffman gewonnen. Der zweite: Gott sei Dank ist außer mir niemand im Gebäude, nicht einmal die Putztruppe. Seine Armbanduhr zeigte zwei Minuten vor drei. Er tastete nach der Taschenlampe am Gürtel, zog sie aus der Halterung und schaltete sie ein. Der Lichtstrahl durchdrang Dunkelheit und Staub und traf auf liegende Regale, verstreute Bücher und einen Bürostuhl. Alles blieb ruhig, dennoch wartete Weaver. Er versuchte, normal zu atmen, und presste die Beine zusammen, damit sie aufhörten zu zittern.

Nach einer Weile kroch er unter dem Tisch hervor und richtete sich vorsichtig auf. Er hustete, wischte die Brillengläser an der Uniformjacke ab. Die Decke war noch da, wo sie sein sollte. Er versuchte, sich den großen Lesesaal, die Bücherausleihe und die Büros über ihm in Trümmern vorzustellen, aber es gelang ihm nicht. Der Kegel der Taschenlampe erfasste eine Wand voller Plakate, Fotos und Zeichnungen. Jetzt erst wurde ihm klar, wo er sich befand: im Raum mit den Kinderbüchern. Ausgerechnet, seufzte er, und seine Stimme klang heiser und fremd. Der Tank des Wasserspenders war unversehrt geblieben. Weaver füllte einen Plastikbecher und trank ihn leer. Er wollte einen zweiten füllen, überlegte es sich aber anders. Vielleicht würde er eine Weile hier drin festsitzen, bis die Bergungstruppen ihn finden würden. Er stellte den Becher auf einen der Schreibtische und legte den Inhalt seiner Taschen daneben: ein Mobiltelefon, eine Ersatzbatterie für die Taschenlampe, ein Rapportbuch mit Bleistift, eine Brieftasche mit Ausweisen und etwas Geld, ein Hershey’s Almonds Schokoriegel, Münzen für den Kaffeeautomaten in der Eingangshalle. Er wählte Sheldon Hoffmans Nummer, dann die des Notrufs, aber es gab keinen Empfang. Wahrscheinlich waren die Sender in der Nähe zerstört, oder der Schutt über ihm ließ keine Signale durch.

Er bahnte sich einen Weg zu der Tür, durch die er gekommen war und die er korrekt hinter sich geschlossen hatte. Sie ließ sich nicht öffnen. Dahinter waren die Regale mit den Architekturbüchern umgestürzt und blockierten die Tür. Architekturbücher. Er musste beinahe lachen. Die zweite Tür konnte er einen Spalt weit aufdrücken und in den Flur hineinleuchten, der zu den Toiletten für die Angestellten und zum Treppenhaus führte. Hier versperrten gekippte Blechschränke und herabgefallene Deckenplatten den Weg. Weaver zog die Uniformjacke aus und setzte sich auf einen Bürostuhl. Hoffentlich ist Sheldon nichts passiert, dachte er. Und den anderen Nachbarn. Aber das war naiv.

Als er aufwachte, konnte er kaum glauben, geschlafen zu haben. Die Uhr zeigte elf nach sieben. Er brauchte einen Moment, um zu realisieren, was vier Stunden zuvor geschehen war. Verzweiflung erfasste ihn, aber er schüttelte sie ab, indem er sich aufrappelte und die Schubladen der Schreibtische und die Schränke durchsuchte. Außer einer Taschenlampe und mehreren Batterien fand er eine angebrochene Packung Butterkekse, eine Blechschachtel voller Pfefferminzbonbons, eine Dose mit gesalzenen Erdnüssen, eine unversehrte Tafel Schokolade, eine Flasche Eistee, eine halbe Flasche Wasser und eine Thermoskanne mit einem Rest schwarzen Kaffees. Die Bibliotheksverwaltung wusste, dass er hier war, und würde die Suche nach ihm einleiten. Man würde ihn innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden finden, im schlimmsten Fall würde er zwei Tage ausharren müssen. Zu trinken hatte er genug, Kalorien würde er kaum verbrauchen.

Er warf sich ein paarmal gegen die Tür zum Flur, aber sie gab nur wenige Zentimeter nach. Er setzte sich wieder hin und rieb sich die Schulter. Ein Schluck Gin mit Sheldon wäre jetzt genau das Richtige, dachte er. Plötzlich rannen ihm Tränen über die Wangen. Er wischte sie weg und hob wahllos eines der Bücher vom Boden auf. Ein Bilderbuch. Sprechende Mäuse, Hasen in gestrickten Pullovern. Kinderkram. Er ließ das Buch fallen und griff nach einem anderen. Ein Bär als Pilot eines Heißluftballons. Das nächste voller Ferkel, die Eisenbahn fahren. Eines über das Kind einer Pfauendame und eines Truthahns, das nicht weiß, ob es Trau oder Pfruthahn ist. Ein Hundeastronaut, der auf einem von Katzen bewohnten Mond landet. Noch mehr sprechende Mäuse. Und so weiter. Weaver wurde erneut von Verzweiflung ergriffen. Er schaltete die Taschenlampe aus und legte sich wieder hin, die zusammengerollte Uniformjacke als Kopfkissen. Warum hatte ihn das Erdbeben nicht nebenan erwischt, wo die Zeitungen und Zeitschriften auslagen? Oder wenigstens bei den Geschichtsbüchern. Sogar die Belletristikabteilung wäre ihm lieber gewesen, obwohl er sich nichts aus Romanen machte. Nicht einmal als Kind hatte er Kinderbücher gelesen. Er hatte keine besessen, nie welche geschenkt bekommen. Seine Mutter hatte ihm nie vorgelesen, sein Vater erst recht nicht. Seine Eltern waren andauernd umgezogen, pachteten eine neue Farm, eine neue Autowerkstatt, eine neue Imbissbude, einen neuen Tabakladen.

Wenn Stuart Weaver es recht bedachte, hatte er gar keine Kindheit gehabt. Jedenfalls keine, an die er sich erinnern konnte. Oder wollte. Alles, was ihm aus jener Zeit im Gedächtnis haften geblieben war, waren endlose Reisen durch das ganze Land, ausgeräumte oder mit alten Möbeln vollgestellte Häuser und Wohnungen, schäbige Motelzimmer, in denen er vor einen flimmernden Fernseher gesetzt wurde, miefige Matratzen, auf denen er lag und dem ewigen Streit seiner Eltern lauschte, kaputte Traktoren, kaputte Hebebühnen, kaputte Kaffeemaschinen, aufgeschlagene Zeitungen und mit Kugelschreiber markierte Anzeigen von Leuten, die jemanden suchten, der optimistisch oder dumm genug war, einen Eisenwarenladen in Arnold, Nebraska, eine Wäscherei in Greybull, Wyoming, oder ein Bestattungsunternehmen in Lima, Ohio, zu pachten.

Zwei Stunden später begann Weaver damit, die Bücher zu sortieren. Die Bilderbücher ohne Text für die ganz Kleinen kamen auf einen Stapel, die Bilderbücher mit Text auf einen anderen. Schmale Bücher mit Illustrationen und wenig Text in großer Schrift stapelte er ebenso separat wie die Bücher, die für Kinder zwischen sieben und zwölf Jahren gedacht waren. Die Bücher für jugendliche Leser ab dreizehn bildeten am Schluss vier Türme. Zu seiner Erleichterung befanden sich darunter ein paar Werke, von denen er gehört hatte. Eines davon war Mark Twains »Ein Yankee aus Connecticut an König Artus’ Hof«, ein anderes »Wolfsblut« von Jack London. Nachdem er alle Bücher geordnet hatte, setzte er sich an einen Tisch und begann zu lesen.

aus einer von Michael Krüger herausgegebenen Anthologie mit dem Titel «Folge Deinem Traum», mit freundlicher Genehmigung des Autors

Rolf Lappert «Das Leben ist ein unregelmäßiges Verb», Hanser, 2020, 992 Seiten, CHF 39.90, ISBN 978-3-446-26756-5

Rolf Lappert wurde 1958 in Zürich geboren und lebt in der Schweiz. Er absolvierte eine Ausbildung zum Grafiker, war später Mitbegründer eines Jazz-Clubs und arbeitete zwischen 1996 und 2004 als Drehbuchautor. Bei Hanser erschienen 2008 der mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnete Roman «Nach Hause schwimmen», 2010 der Roman «Auf den Inseln des letzten Lichts», 2012 der Jugendroman «Pampa Blues» und 2015 der Roman «Über den Winter». 2020 erscheint sein neuer Roman «Leben ist ein unregelmäßiges Verb» im Carl Hanser Verlag.

Interview mit Rolf Lappert, dem ersten Preisträger des Schweizer Buchpreises

Rolf Lappert liest am 14. Januar 2021 im Literaturhaus Thurgau aus seinem neusten Roman!

Beitragsbild © Sonja Maria Schobinger