Alice Grünfelder «Der Unwetterer – Biji* über den Maler Adolf Stäbli»

Wolken, Unwetter, dunkle Welten – Drohungen oder Visionen? Die Wege sind verschattet. Umrisse scharf in dieser Millisekunde, bevor das Gewitter sich entlädt. An den Bildern des Unwettermalers Adolf Stäbli riss sich jedenfalls mein Auge auf, als ich sie das erste Mal sah.

Ihretwegen fahre ich Monate später wieder zurück, dieses Mal ist Brugg durch das Stadtfest wie verwandelt, ich finde mich nicht mehr zurecht vor lauter Schildern, die hinführen zur Kletterwand, Swingroom, zu Barbecue, thailändischen Nudeln und tibetischen Momos … Zwar sehe ich schon die Gemäuer der Altstadt, finde jedoch keinen Zugang. Eine Frau nimmt mich mit, wir gehen hinter einem Kinderkarussell unter einem steinernen Bogen hindurch. Die Gassen winden und krümmen sich, dass ich bald die Orientierung verliere, und nein, ins Legionärsmuseum Vindonissa möchte ich nicht, sondern eben ins Stadtmuseum, das aber kennt sie nicht. Ob Brugg überhaupt ein solches hätte? Sie wohne auf der anderen Seite der Aare, woher ich denn käme? Ein paar Schilder und Häuserecken weiter stehen wir vor dem Museum.
Wegen Adolf Stäbli sei ich hier, sage ich.
Sie wohne am Stäbli-Platz, welch ein Zufall, aber nein, das Museum, der Maler interessieren sie nicht, antwortet sie, als ich sie frage, ob sie nicht mit hineinkommen möchte.

Still ist es im Stäbli-Saal. An blauen Wänden hängen 33 Bilder. Wie zufällig trete ich vor die drei Porträts: der junge Adolf Stäbli mit rötlichem Haar, das Gesicht frei; später im Alter sind die Wangen gefleckt, der Bart schimmert rötlich. Der Blick des Mannes auf dem dritten Gemälde aus dem Jahr 1893 ist einer, der vom Leben nicht mehr allzu viel erwartet, die Augen haben schon zu viel gesehen.
Und mit diesen Augen im Kopf gehe ich an den Bildern entlang und versuche zu sehen, was Adolf Stäbli gesehen hat, versuche zu verstehen, warum das Unwetter ihn anzog, die düsteren, flachen Landschaften, über denen sich Wolken aufbäumen und am Bildrand entladen, die Welt auf jedem Bild unterzugehen droht.

Neben den Porträts hängt ein „Kruzifix am Weg“. Efeu rankt daran empor, der helle Himmel darüber, so scheint mir, wurde mit einem Spachtel glattgestrichen, nur oben am rechten Bildrand düstert es noch dunkler. Dagegen können auch die weißen Punkte – sind es Margeriten? – und die blauen – Enziane? – nicht ankommen, sie verschwinden fast in dem dunklen Gras.
Weite Steppe und davor eine Birke, die seit Jahren vergebens dem Wind trotzt, nun gebeugt von diesem Kampf; der Blick geht hinaus in ein weites Land, folgt dem Weg durch die Felder, die sich bis zu einem See erstrecken – oder ist’s ein Meer? Und dahinter, darüber wieder diese Wolken, die sich stauen, jagen oder als wachten sie darüber, dass unter ihnen alles so weit und flach bleiben möge, wo sie selbst oben schon den nächsten Windstoß erwarten. Kein Mensch, nirgends, auch kein Tier, nicht einmal Vögel, die doch sonst den Himmel bevölkern und zirpen und kreiseln, wenn ein Unwetter aufzieht. Das Bild „Weites Land“ erzählt nicht viel von dem, was fehlt.
Auf einem der nächsten Bilder grellt der Schnee in den Bergflanken, so dunkel ist der Grat, der Wald, und unten fettes, grünes Land, Wald und Blumen und Gräser, vom Wind aufgefächelt. So als bräuchte auch das Unwetter in Stäblis Welt einmal eine Pause, vielleicht hat er sie in der „Gebirgslandschaft bei Patenkirchen“ gefunden?

Immer wieder öffnet sich Tür, quietscht in ihren Angeln, ein Kommen und Gehen von Stadtfestgängern, niemand verweilt länger als fünf Minuten, es quirrt der ganze Raum, wenn oben die Menschen zwischen den Vitrinen umhergehen, fast unheimlich ist dann der Blick in den Saal, der nun leer ist, wo unter der Woche und an Samstagen gern geheiratet wird. Leise und beständig surrt nur die Klimaanlage. Ich schaue hinaus zu den Geranien, wie sie prall vor den Fenstern hängen, zu den Fensterläden, die schräg gestellt sind, um die Hitze auszusperren, und ich stehe wieder vor den Bildern und suche nach etwas, das ich nicht finde.
Eine Zeichnung sieht aus wie der flüchtige Versuch, den Wald, die Büsche, das Gewaltvolle zu fassen. Mich erinnert sie an die Baumtempel des Angkor Wat, wo Tempelruinen, Wurzeln, Steinblöcke in einer Weise ineinander übergehen, dass einem das Auge überfließt und der Verstand erst recht. Man bewegt sich dort wie in einem Fluidum, und wären der Saal und das Stöhnen des ganzen Hauses unter den Schritten der Menschen nicht, könnte es hier in der Welt des Adolf Stäbli ähnlich sein.
In der „Flachlandschaft“ steht eine Rinderherde am Himmel, wirft sich übereinander, drängt sich wie auf einem Schlachtfeld.

Vorwärtsdrängende
Rinderherde am Himmel
den Süden im Aug

Und immer wieder weites flaches Land, über das der Wind hinwegfegt und das Gebüsch, auch Häuser sich ducken, Felsen gar. Ich habe das Lied von Jacques Brel im Ohr: „Le plat pays“, suche dort nach den Worten, die mir hier fehlen. Auch bei ihm kämpft das flache Land gegen Wasser und Wind, der Mensch schüttet Dämme auf und kann doch nichts ausrichten. Und die Weite wird zur Wüste, wo der Teufel seine Krallen nach den Wolken streckt, während er sich im geborstenen Gemäuer versteckt.

„Überschwemmung“ heißt ein Gemälde, Baumstämme umwirbelt vom panzergrünen Strom, die Welt kämpft hier gegen den Untergang, ragt entkräftet empor, Weiden, Grasinseln, wie lange noch? Regenfäden am Horizont, die Welt regnet sich ein, hell ist’s über der Baumgruppe, vielleicht doch ein Streifen Zuversicht inmitten der Trostlosigkeit?
Sandkuhlen, Heidekraut und Felsen in der „Regenlandschaft im Harz“. Würde die Sonne scheinen, ein angenehmer Ort, der einen weiten Blick erlaubt, so aber unter wüstgrauen Wolken? Die Platane beugt sich im Wind, der von Osten weht – wenn der rechte Bildrand denn Osten ist? Wie verhält es sich überhaupt mit Windrichtungen auf Gemälden? Wo zieht das Gewitter auf? Woher kommen die Wolken, wohin ziehen sie?
Viel Unruhe ist in den Gemälden, aber sie sind auch still, totenstill, trotz der Lichtstreifen, auch sie fast auf jedem Bild, hängt der Himmel durch, die Natur ist verloren, der Mensch ohnehin?
Ich denke an chinesische Landschaftsmalereien, wo alles in sich zu ruhen scheint, jedes Element an seinem Platz und somit Harmonie gewährt ist. Das Wetter bei Stäbli hat nichts Erhabenes, er verschmäht alles Liebliche, Ordnungen werden bedroht durch Wolkenexzesse, ein Aufruhr, ein innerer oder auch ein Weltenaufruhr, ein Wüten gegen die Welt – als wollte er sich durch das Malen von der Weltendüsternis befreien. Gleichzeitig spricht eine unsägliche Traurigkeit aus den Bildern, Trauer über eine untergehende Welt? Ist Stäbli also nicht nur ein Wettermaler, sondern auch Prophet, spürt er, welche Unwetter über Europa aufziehen? Und zerbricht darüber.
Der Mensch hat in solchen Welten jedenfalls nichts zu gewinnen. Ein Wettersturz enthebt den Menschen all seiner Funktion und seiner Überlegenheit. Es ist die durchkomponierte und variierte Aussichtlosigkeit, die mich Schritt um Schritt überwältigt, herumwirbelt in diesem aufkochenden Gewölk. Vielleicht ist es doch an der Zeit, wie Kant einst im „Streit der Fakultäten“ schrieb, dass die Menschen von der Bühne treten müssen? Was, wenn die Natur von der Menschheit verlange, ihren exklusiven Platz aufzugeben und an andere Lebewesen abzutreten?

Biji = Pinselnotiz, chinesische literarische Gattung, essayistische Miniaturen, verdichten Erlebnisse, Beobachtungen, Reflexionen assoziativ.

Alice Grünfelder «Die Wüstengängerin», Edition 8: Die Sinologiestudentin Roxana reist Anfang der 1990er Jahre die Seidenstrasse entlang, um noch unbekannte buddhistische Höhlenmalereien in der Provinz Xinjiang im Nordwesten Chinas zu erforschen. Sie will zeigen, dass die Region nicht immer islamisch war, sondern buddhistische Wurzeln hat. Roxanas jahrelange Recherchen führen nicht zum erhofften Erfolg, doch mit leeren Händen will sie nicht nach Europa zurück, zumal es nichts gibt, wofür es sich lohnen würde heimzukehren. Ihr Aufbruch in die Fremde verliert sich im Sand der Wüste Taklamakan, der ›Wüste ohne Rückkehr‹.

20 Jahre später reist die schwerkranke Linda für ihr letztes Entwicklungsprojekt nach Xinjiang. Doch die Behörden verweigern die zugesicherte Zusammenarbeit. Im Gästehaus zur Untätigkeit verdammt, stösst Linda auf die Aufzeichnungen, welche die verschollene Roxana zurückgelassen hat, und sie folgt deren Spuren.

Vor dem Hintergrund des Widerstands der UigurInnen gegen die chinesische Regierung in Xinjiang, der spätestens seit 2009 auch im deutschsprachigen Raum Schlagzeilen macht, verstrickt sich das Schicksal der zwei eigenwilligen Frauen. Erstmals wird aus europäischer Perspektive von der Geschichte und Gegenwart einer wenig beachteten Region erzählt. Feinfühlig und kenntnisreich zeichnet die Autorin ein Panorama der Schicksale von Menschen, die in China an den Rand gedrängt werden.

Ziviler Ungehorsam für den Frieden.
Ein Essay von Alice Grünfelder.

Alice Grünfelder, geboren im Schwarzwald, aufgewachsen in Mutlangen, studierte nach einer Lehre als Buchhändlerin Sinologie und Germanistik in Berlin und Chengdu (China). Sie arbeitete jahrelang als Lektorin, betreute u.a. die Türkische Bibliothek im Unionsverlag, führte eine eigene Agentur für Literaturen aus Asien, übersetzte aus dem Chinesischen und gab mehrere Erzählbände heraus. 2018 ist ihr erster Roman «Die Wüstengängerin» erschienen, der in Xinjiang spielt. Nominiert für den Irseer-Pegasus-Literaturpreis 2019. Werkjahr der Stadt Zürich 2019.

Webseite der Autorin

Margret Kreidl «Hausübungen»

Hausübung

Ein Bild ist kein Vergleich. Schreib diesen Satz
auf den Küchentisch. Dann stell eine rote Tulpe
in eine langhalsige Vase. So wird das Licht
nach oben brennen.

Hausübung

Ein Fenster ist keine Tür. Denk über diesen Satz
vor dem Einschlafen nach. Wenn der Wecker läutet,
steh auf. So wirst du vom Hundertsten ins Blaue
kommen.

Hausübung

Ein Stuhl ist kein Auto. Mach aus diesem Satz
ein Gedicht mit vierzehn Zeilen. Lern es auswendig.
So wirst du immer einen Parkplatz finden.

Hausübung

Ein Tisch ist kein Fisch. Sag diesen Satz
im Stehen. Dann wasch dir die Hände.
So wirst du begreifen, was der Fall ist.

Hausübung

Eine Melone ist keine Melone. Wiederhole diesen Satz
hundertmal. Dann trink langsam ein Glas Leitungswasser.
So wirst du die Kerne vergessen.

Hausübung

Rotwein ist kein Orangensaft. Übersetze diesen Satz
ins Französische. Dann putz dir die Zähne. So wirst du
verstehen, was eine Flasche ist.

Hausübung

Eine Frau ist kein Mann. Schau diesen Satz
so lange an, bis du müde wirst. Dann leg dich
ins Bett. So wirst du wieder zum Kind.

(Margret Kreidl, Hausübungen, aus: Jahrbuch der Lyrik 2019, Hg. von Christoph Buchwald und Mirko Bonné, Schöffling Verlag, 2019)

Margret Kreidl lebt als freie Schriftstellerin in Wien. Veröffentlichungen, zuletzt: «Einfache Erklärung. Alphabet der Träume», Edition Korrespondenzen Wien 2014. Theateraufführungen, zuletzt: gemeinsam mit Marlène Saldana und Jonathan Drillet: «Grinshorn et Wespenmaler. drames patriotiques», hTh Montpellier 2016. Im Frühjahr 2017 erschien in der Edition Korrespondenzen, Wien: «Zitat, Zikade. Zu den Sätzen» und 2018 beim Berger Verlag «Hier schläft das Tier mit Zöpfen».

Margret Kreidl performt zusammen mit dem Jazzduo Stories am kommenden 30. August in St. Gallen im Kultbau. Infos hier!

SRF: Raoul Schrott erklärt Margret Kreidl

„Hier schläft das Tier mit Zöpfen“

Margret Kreidl: Zettel, Zitat,Ding – Gesellschaft im Kasten

 

Angelika Waldis «Bücher, Bücher – Notizen»

Der Schillerpreis 2019 geht an Angelika Waldis für ihren Roman «Ich komme mit»: Die Autorin erzählt eine ernste Geschichte mit raffinierter Verspieltheit und stupender Leichtigkeit.

27. Oktober 2018

Gestern hatte ich eine Lesung. »Schreiben Sie Ihre Bücher immer in der Gegenwartsform?«, fragte eine Zuhörerin. Oh je, das wusste ich nicht. Jetzt hab ich nachgeschaut: Tatsächlich, fast alles – bis auf die Rückblenden – habe ich im Präsens geschrieben. Weiß nicht warum, es ist nun mal so. Ich hab es mir gar nie sonderlich überlegt. Cäsar hat seinen gallischen Krieg, Joyce seinen Ulysses und Goethe seinen Erlkönig im Präsens angesiedelt. Aber der Großteil der Literatur steckt wahrscheinlich in Perfekt und Präteritum. Ab jetzt will ich beim Lesen mal besser drauf achten. Im Wechselspiel von Perfekt und Präteritum bin ich als schreibende Schweizerin manchmal etwas unsicher. Ein Präteritum gibt es im Schweizerdeutschen nicht. Niemand sagt »Ich ruumte sʼChuchichäschtli uuf.« Habe ich mich darum lieber ans Präsens gehalten? Wohl eher, weil es spontaner, direkter, lebendiger, aufregender daherkommt. »Wer ritt denn so spät durch Nacht und Wind …« Also das würde ja nun gar nicht passen.

18. März 2017

Kann mich nicht entscheiden, worüber ich schreiben soll. Den Wind, der den Bambus fiebrig macht. Den Himmel, der ausschaut wie zu meiner Kindheit, weil er grau ist und man keine Jetstreifen sieht. Den türkischen Präsidenten, der die Todesstrafe wieder einführen will. Die Kontaktliste auf meinem Handy, in der ich manche streichen müsste, weil sie gestorben sind. Die blauen Adern auf meinen Handrücken, die befremdlich dick geworden sind. Das Rufen der beiden Milane, die vielleicht auch dieses Jahr wieder in Sichtweite nisten. Die traurigen Briefe meiner Großmutter, die ein uneheliches Kind gebar und es nicht behalten durfte. Ja, worüber soll ich schreiben. Ich glaube, ich frag die Katz. Sie hat schon immer gewusst, was für die Katz ist und was eben nicht.

27. September 2016

»Hör endlich auf«, sagt die Katz, »so ungemütlich zu tun.« Vier Bücher knallen vor ihr auf den Boden, sie springt auf und setzt sich gleich wieder. »Was machst du da eigentlich«, sagt sie, »auf jeden Fall machst du Staub. Und warum stehst du auf der Leiter und stöhnst?« Ich sage ihr, dass ich Bücher entsorge. »Die Psychologie-Bücher und die Gedichtbände, verstehst du, Katz?« Nein, tut sie nicht. Sie sagt, sie wisse nicht, warum wir Gedichte überhaupt erst in diese Dinger da reinschreiben und dann zum Lesen wieder hervorholen. »Wir dichten direkt in die Luft«, sagt die Katz. »Das ist viel effektiver.« Sie hat wohl recht. »Bitte, dichte was, Katz!« Sie überlegt und kratzt dann mit der Pfote etwas hinterm Ohr hervor: »Alte Freundin steht auf Leiter und weiß ganz und gar nicht weiter.« Das sei schön, sage ich, besonders die »Freundin«. Und besonders die Zeilenfall- und Interpunktionsangaben mit der Schwanzspitze. »Also«, sagt die Katz, »kommst du jetzt endlich ins Bett?«

31. August 2016

Heute früh war ich schwimmen. Die ersten paar Meter See lagen noch im Schatten, ich schwamm mit selbstverordneter Vorfreude möglichst rasch durchs Kühle hinaus in die Sonne, und dort genoss ich Zug um Zug die wunderbar glitzernde Fläche. So geht’s mir manchmal mit Büchern: Ich mühe mich ab mit ersten Kapiteln und plötzlich bin ich mitten in einer faszinierenden Weite und in einem wunderbaren Licht und kann nicht genug davon bekommen. Weg ist das anfängliche Frösteln, nur noch Lust ist da – und Spannung, weil man so viel Tiefe unter sich weiß. Es kommt auch vor, dass ich das Buch schon nach ein paar Seiten entschlossen zuklappe, weil es für mich zu kalt ist. Dann spritzt immer ein bisschen Beschämung auf.

15. Oktober 2015

»Hast du was Gutes gelesen?«, werde ich oft gefragt. Ja, hab ich. In dem großen Textschwall, den ich regelmäßig durchs Gehirn spüle, muss ja wohl was Gutes dabei sein. Aber wenn ein netter Mensch von mir einen Buchtipp will, bin ich meist hilflos. Ich denke: Das ist zu traurig für seine wacklige Seele. Oder: So viel Schmalz kann er nicht verdauen. Oder: Solche Stille erträgt er nicht. Oder: Ihm fehlt das Gehör für Bosheit. Es reut mich, Wallace Stegner oder Julian Barnes oder Gerbrand Bakker oder Per Petterson zu empfehlen, denn ich möchte nicht, dass jemand deren Bücher enttäuscht aus der Hand legt. Soll der nette Mensch doch selber sehen, wie er sich lesend befriedigt. Ist nicht meine Sache. Na ja, es gibt schon Namen, die ich unbeschwert weitergebe: Tschechow, Maupassant, Mansfield, Maugham – die alten Könner, ganz einfach gut wie Brot.

16. Juli 2015

»Betrachtest du deine Bücher als moralisierend?«, fragt mich ein Freund. »Nein«, sage ich. »Auch nicht im Versteckten?«, fragt der Freund. »Nein«, sage ich. »Ich halte anderen nur den Spiegel vor, mehr nicht.« Später denke ich: Anderen den Spiegel vorhalten ist durchaus ein moralischer Akt. Die Figuren in meinen Büchern sind Spiegel, die Lesenden können sich drin sehen. Können sehen, wie blöd, hässlich, verbohrt sie sind und handeln – ein unangenehmes Bild. Oder wie klug, schön, liebevoll sie sind und handeln – ein angenehmes Bild. Die Bilder implizieren: Sei so! oder Sei anders! Und somit bin ich im Grunde genommen eine Moraltante.

21. Januar 2013

Ich trage heute fünf Bücher in die Bibliothek zurück, es ist keines dabei, das ich gerne behalten möchte, das ich nicht vergessen möchte, es sind gut gemachte Sachen, aber man sieht ihnen das Machen an, und ich möchte beim Lesen das Gemachtwordensein, so gut es geht, vergessen. Wenn ich das kann, erhält das Buch meinen Segen: Geh hinaus in die Welt und verbreite dich und erschüttere die Leute mit deinem erfrischenden Geist und deiner uralten Seele, auf dass diese lachen und weinen, was sie aber nicht können, weil sie keine Zeit dazu haben, denn sie müssen weiterlesen, weiterlesen, weil du so spannend bist, du wunderbares Buch, geh von dannen und verbreite dich fortan.
Ich warte geduldig, bis ich wieder einmal auf so ein Buch treffe.

20. August 2013

Ich habe einen fremden Text überarbeitet, es ist das erste Kapitel eines ersten Buchs eines Freundes. Schau mal rein, hat er gesagt, und das hab ich gemacht. Ich kam mir vor, als sei ich allein in seiner Wohnung, nachdem er mir den Wohnungsschlüssel gegeben und gesagt hätte: Schau mal rein. Ich kam mir vor, als stehe ich in seiner Wohnung vor seinen Bildern und seinen Pantoffeln und seinen Kaffeetassen. Vor seinem Pyjama und seinem Testamentsentwurf und seinem Kopfabdruck auf dem Kissen. So stand ich in seiner Wohnung beziehungsweise in seinem Buch und war gerührt und belustigt und beschämt und verlegen. Und plötzlich überfiel mich die Lust, aufzuräumen, umzustellen, Platz zu machen. Ich verschob Stöße von Wörtern, halbierte Sätze oder warf sie aus dem Fenster, sammelte überflüssige Zeilen ein und schüttelte Fehler aus den Vorhängen oder zerdrückte sie böse. Ich konnte nicht anders. Einfach mal reinschauen, das geht nicht.

1. August 2013

Die Katz ist ein schlaffes Läppchen, liegt draußen im Schatten, die Welt ist gerade eben 32 Grad heiß, heute Abend werden die Feuer brennen, weil Heil dir Helvetia, und der Phlox blüht so blau, blau, blau wie der Enzian. Mein neues Buch hat nun 209 Seiten und fühlt sich gar nicht wohl, weil mein letztes Buch inzwischen erschienen ist und Lob erhält. Ich bin schlechter, sagt nun mein neues Buch, gib mich auf, wirf mich weg, sonst kotz ich dir noch über den Bildschirm. Was macht man da? Du und dein Buch, sagt die Katz, tut doch nicht so blöd, ist doch eh alles egal. Oder glaubt ihr etwa, ihr zwei, wegen euch finge ich an zu lesen? Was draußen knallt, ist eine Rakete, und noch eine. Andernorts knallt’s nicht aus Freudesgründen, in Syrien ist immer noch Krieg, nein, nein, die Schweiz schickt keine Waffen dorthin, sie schickt sie freundlich anderswohin, damit sie ein paar Umwege machen. Das ist etwa wie ein Paket, das man im Sommer losschickt mit dem Vermerk »Erst an Weihnachten öffnen«.

4. August 2013

Bestimmt muss man außerordentlich alt werden, bis einen eine Kritik nicht mehr trifft. Ich bin noch nicht außerordentlich, sondern erst ordentlich alt. Das heißt, ich zucke immer noch zusammen, wenn man mich kritisiert. Würde ich nicht mehr zucken, wäre ich tot. Wie schön ist das, dass ich noch nicht tot bin, dass ich spüre, wie Sonne ins Zimmer fällt, wie Phlox riecht, wie die blöden Tauben gurren. Ja, und da hat nun jemand geschrieben, in meinem neuen Buch gebe es Klischees. Zuck! Klischees sind genau das, was ich nicht fabrizieren möchte. Aber wahrscheinlich würde ich genauso heftig zucken, wenn es in der Kritik hieße, ich schreibe umständlich oder romantisierend oder ungenau oder langatmig oder salopp oder barock oder sonstwie nicht rundum gut. Irgendwas muss eine Kritik ja kritisieren, sonst ist es keine. Also muss ich damit leben zu zucken, solang ich noch zucken kann.

Die Notizen sind erschienen auf der Website www.angelikawaldis.ch unter dem Titel »Tage,Tage« sowie im Buch »Tausend Zeichen«.

Angelika Waldis ist 1940 geboren und denkt immer noch, sie sei nicht alt. Sie ist in Luzern aufgewachsen, hat an der Universität Zürich eine Weile studiert (Anglistik/Germanistik), ist aber bald abgehauen in den Journalismus und in die Ehe mit ihrer ersten Liebe, dem Gestalter Otmar Bucher. Mit ihm hat sie einen Sohn, eine Tochter und eine Jugendzeitschrift gemacht. Heute hat sie drei Enkel sowie Freuden und Ängste beim Bücherschreiben. Ihr Roman »Aufräumen« (2013) war in der Schweiz ein Bestseller. Was sie häufig tut: in Gartenerde wühlen, mit Wörtern spielen, sich über dumme Zeitgenossen ärgern, neugieren und staunen. Ihr neuster Roman bei Wunderraum ist «Ich komme mit». Er wurde «Lieblingsbuch des Deutschschweizer Buchhandels 2019«.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Peter von Felbert

Katharina Michel-Nüssli «Später vielleicht»

„Heute ist Mama gestorben. Vielleicht auch gestern, ich weiss es nicht.“ Nino kratzt sich am Kopf. Was diese Lehrer sich ausgedacht haben. Neunzig Minuten für einen Aufsatz. Der Anfang ist gegeben. Weltliteratur. Da kann das Eigene nur schlechter werden. Ich bin nicht Camus. Wenn der wüsste, dass sein genialer Anfang für eine Prüfungsnote missbraucht wird. Und nicht einmal in der Originalsprache. „Aujoud’hui, maman est morte. Ou peut-être hier, je ne sais pas.“ Das tönt viel tiefgründiger, das hat Atmosphäre, lässt Tragik erahnen. Moll mit Disharmonien. Nebelschwaden. Ach, man wirft Perlen vor die Säue. Wer kennt schon die Grossartigkeit dieser Erzählung. Meine Kollegen haben auf den Hundertstel genau ausgerechnet, welche Note sie brauchen, um nicht provisorisch promoviert zu werden. Sie wissen genau, dass man nur wenige Adjektive verwenden soll. Helvetismen und monotone Satzanfänge sind zu vermeiden. Selbstverständlich soll man keine Rechtschreibfehler machen, die Kommas am richtigen Ort setzen und mindestens zwei Seiten füllen. So hat man die genügende Note auf sicher. Wie hat wohl Camus schreiben gelernt? Einmal im Monat zwei Seiten in neunzig Minuten? Was für ein Witz.

Draussen schwanken die vom Herbststurm geschüttelten Äste des Ahorns vor dramatischen Wolkengebilden. Der Himmel ist so wild und unbezähmbar wie vor Jahrhunderten, am Boden hingegen, der von hier aus nicht zu sehen ist, findet sich kein Stoff für grossartige Geschichten. Mit forschendem Blick versucht Nino, sich die Wirklichkeit der Welt in das Vakuum der wohlaufbereiteten Bildungspläne zu holen. Wäre er ein Waisenkind, dann wüsste er, wie sich Tod und Verlassenheit anfühlen. Er müsste nicht lange überlegen. Insgeheim schämt er sich für seine wohlbehütete Kindheit.

Er beginnt zu schreiben: „Dieser Satz ist wie ein Fremdkörper hier. Fast nie stirbt jemandes Mutter in dieser Schule. Die Gesundheitsversorgung ist hervorragend und teuer. Wir können es uns leisten. Und man wüsste die Todeszeit auf die Minute genau, so wie man das Horoskop dank der exakten Geburtszeit entschlüsseln kann. Ob darin bereits die Sterbestunde festgelegt ist? Das bleibt hoffentlich ein Geheimnis. Es gibt noch die unverhofften Tode. Wer als Kind so etwas erlebt, dessen Chance, an diese Schule aufgenommen zu werden, sinkt gegen Null. Das hat verschiedene Gründe. Zuallererst schafft es kaum jemand, ohne zu pauken die Aufnahmeprüfung zu bestehen. Das braucht gebildete Eltern, Zeit und Geld. Ausser man ist ein Genie. Obendrein ist hier alles so trocken, herzlos und verkopft, dass ein normal fühlender Jugendlicher nur überleben kann, wenn er zu Hause so etwas wie Geborgenheit erlebt. Wenn ich in der Klasse rumschaue, stelle ich fest, dass alle in einem Eigenheim leben, mit Ausnahme unseres Quotenausländers aus Portugal, dessen Sippe einen halben Wohnblock bevölkert – Nestwärme inklusive. Und die Lehrpersonen halten es nur aus, wenn sie eine Schutzschicht aus Staub ansetzen. Was wird aus uns, wenn wir die heiligen Hallen des Wissens verlassen? Wir sind die Elite, wir werden die Welt weiterbringen, das wird uns eingetrichtert. Ihr seid die künftigen Leader. Wir werden Firmenchef, Bundesrat oder Managerin. Heute tragen wir zerlöcherte Jeans, morgen Nadelstreifen und Deux-Pièces. Wir werden etwas erreicht haben in unserem Leben. Wenn wir sterben, wird eine ganze Zeitungsseite mit unseren Todesanzeigen gefüllt, weil wir bedeutende Persönlichkeiten gewesen sein werden. Unsere Biografien jedoch wären seichte Literatur, keine Dramen, nicht wert, aufgeschrieben zu werden. Ich wünsche uns keine Katastrophe, nein, denn sie ist schon da, in Form eines vorgespurten, genormten Lebens. Ich hoffe, diese Schulzeit möglichst unbeschadet zu überstehen, um später – vielleicht – das wahre Leben kennenzulernen.“

Der Sturm hat sich gelegt, leichter Schneeregen hat eingesetzt. Nino überfliegt den Text. In fünf Minuten muss er ihn abgeben, da bleibt keine Zeit mehr, etwas zu ändern. Nach dem Ertönen des Pausensignals rappeln sich die Jugendlichen von ihren Sitzen hoch und schlendern auf die verregnete Terrasse, die durch das Zimmer im vierten Stock zugänglich ist. Niemand scheint den Ausblick über die Dächer der Altstadt zu beachten. Man hofft auf eine gnädige Notengebung, Aufsätze sind Ermessenssache. Und morgen ist Physiktest, da gibt es nur richtig und falsch. Zum Glück darf man das Formelheft brauchen. Noch eine Lektion heute. Es dunkelt schon ein.

Nach Schulschluss zerstreuen sich die jungen Menschen in alle Richtungen. Nino beeilt sich, um den früheren Zug zu erreichen. Er möchte vor dem Handballtraining noch Zeit haben, um etwas zu essen. Beim Bahnhof steht wie immer der Rosenverkäufer. Seine Blumen leuchten wie ein Anachronismus im grauen Novemberabend. „Dieser Mann hatte wohl ein bewegtes Leben“, blitzt es Nino durch den Kopf. „Ich sollte ihn nach seiner Geschichte fragen. Später vielleicht. Der Zug fährt gleich.“

In der darauffolgenden Woche wird Nino zum Rektor zitiert. Noch nie ist er dieser Autorität so nah gegenübergetreten. „Nehmen Sie Platz“, gebietet dieser. Die Fältchen um die Augen des Schulvorstehers sind dem Schüler bisher nicht aufgefallen. Er ist eindeutig älter als Ninos Vater. Der Rektor räuspert sich. „Junger Mann, entweder sind Sie ein Revoluzzer oder dann einfach nur naiv. Was wollten Sie mit Ihrem Geschreibsel ausdrücken? Mit einer solchen Einstellung sind Sie dieser renommierten Schule nicht würdig.“ Die Möbel in diesem Büro haben ihre beste Zeit hinter sich. Sie waren einmal erlesen und teuer gewesen. Nino richtet sich auf seinem Holzstuhl auf. „Ich lebe in einem Land, wo man seine Meinung frei äussern darf. Davon habe ich Gebrauch gemacht. Es ist mir schlicht nichts anderes in den Sinn gekommen, und nach neunzig Minuten musste ich den Aufsatz abgeben.“ „Freie Meinungsäusserung in Ehren, mein Lieber, aber Beleidigungen gehen gar nicht. Merken Sie sich das. Sie beleidigen unsere Schule und das Personal. Seien Sie dankbar für diese hochstehende Ausbildung, die Ihnen hier zuteilwird. Ich gehe davon aus, dass dies ein einmaliger Ausrutscher war. Im jugendlichen Leichtsinn kann so etwas passieren.“ Nino schluckt leer. Der ältere Herr erhebt sich und weist ihn unmissverständlich zur Tür.

An eine Rückkehr in die Klasse ist im Augenblick nicht zu denken. Nino starrt auf seine abgewetzten Schuhspitzen, die ihn wie von selbst zum Bahnhof hinunter führen. Sinnierend lässt er sich auf einer Wartebank nieder. An der Ecke steht der Blumenverkäufer. Nino zögert. Schliesslich nähert er sich dem Mann und kauft ihm eine Rose ab. Mutter wird sich wundern.

Katharina Michel-Nüssli geboren 1964 im Tösstal lebt im Oberthurgau. Primarlehrerin, Lerntherapeutin, Jobcoach.
«Schreiben war immer etwas Lustvolles, ausser vielleicht bei Diplomarbeiten. Mich inspirieren Natur, Menschen, das Abweichende, die Liebe zum Leben. Schreibkurse bei Ruth Rechsteiner und Michèle Minelli haben mich ermutigt, regelmässig zu schreiben. Biografisches und Kurzgeschichten, Portraits und Poetisches, was eben zeitlich Platz findet. Oft sind es berührende Begegnungen, Stimmungen am See oder im Wald, unvermutete menschliche Abgründe, die Schönheit eines vom Leben gezeichneten Gesichts, Absurditäten des Normalen. Meinen Schreibstil bezeichne ich als verdichtet, manchmal poetisch, oft dazu anregend, zwischen den Zeilen zu lesen.»

Hansjörg Schertenleib «Der Stich»

Er sitzt allein an einem Tisch im Biergarten und versucht, sich mit der Hitze zu arrangieren. Überzeugt davon, nicht beobachtet zu werden, lehnt er sich auf dem Stuhl zur Seite und legt die rechte Hand auf den Stamm des Baumes, dessen Blätterdach das Abendlicht filtert. Die vernarbte, stellenweise von tiefen Rissen aufgesprengte Rinde des Baumes fühlt sich an wie die Haut eines uralten Tieres, fällt ihm ein. Er riecht an seinen Fingern und denkt seltsamerweise an Rossseich. Greift Wind in die Äste, blitzen Lichtsicheln über die Tische, das Kies, und die Gesichter der Gäste. Rossseich! Was für ein Wort, er hat es lange nicht mehr gedacht. Er reagiert hektisch, ja panisch auf die Wespen, die über den Gastgarten herfallen, nervös auf- und absteigen, hektisch Runden fliegen, Achten, Ellipsen, oder wie schwankende, schwere Transporthubschrauber an seinem Tisch auftauchen und nicht einmal mit wedelnden Händen vom Kurs abzubringen sind. Gelegentlich schliessen sich die Wespen zu Kampfgeschwadern aus vier, fünf Insekten zusammen, die im Verbund anfliegen, vor seinem Gesicht in der Luft stehen bleiben und nur in die Höhe steigen, abdrehen und ein anderes Glas, einen anderen Teller anfliegen, wenn er mit beiden Händen fuchtelt und laut schimpft. Die Gelassenheit, die Wespen nicht zu beachten, geht ihm ab.  Es gibt nicht viele Tiere, die er nicht mag: Schlangen, Aale, abgerichtete Hunde, Wespen.

Von seinem Tisch geht der Blick über ein aufgebocktes Boot hinweg auf einen Kanal, auf dem manchmal, geräuschlos wie in einem Traum, Paddelboote vorbeigleiten. Am Himmelsausschnitt über seinem Kopf jagen Schwalben, das flaschengrüne Wasser des Kanales spiegelt Büsche, Bäume. Ein Junge steht unter einem Baum am Ufer des Kanals und drischt mit einem Stecken auf die Blätter eines herunterhängenden Astes ein, um sie zu zerfetzen. Warum steht er nicht auf und greift ein? Weil er keine Lust hat auf eine Auseinandersetzung mit dem Mann, wohl der Vater des Jungen, der auf der Treppe sitzt, die zum kleinen Bootshafen des Hotels führt, raucht und das Kind stolz anlächelt. Eine Krähe stösst ihre knarzenden Rufe aus, in irgendeinem der Bäume über ihren Köpfen, höhnisch, anklagend, ein Verbündeter im Geäst? Er lebte mehr als zwanzig Jahren in Irland und hat gelernt, Landsleute treffsicher zu erkennen. Um zu wissen, dass das Paar, es sitzt zwei Tische entfernt von ihm, wie er aus der Schweiz stammt, müsste er deshalb gar nicht hören, welche Sprache sie sprechen. Er bräuchte dem Mann also nicht zuzuhören und tut es doch. Wie viele Männer aus seiner alten Heimat sich doch über ihre Zeit im Militär definieren! Das Gesicht des Mannes strahlt, die Episode aus seiner Rekrutenschule, wie viele Jahre mag sie zurückliegen?, macht sein Gesicht frisch, der schön geformte Mund der Frau dagegen wird schmal, wird Strich. Der Mann, er scheint von Satz zu Satz jünger zu werden, erzählt von einer Velofahrt, die seine Kameraden und er in der drittletzten Woche der Ausbildung durchzustehen hatten, hundertachtzig Kilometer auf dem schweren Waffenrad, ohne Licht, ohne Lärm, die dreissig Kilogramm des Sturmgepäcks am Rücken, Rad an Rad über den Julier, ohne den Hintern aus dem Ledersattel zu heben, denn das war streng verboten. Als sie endlich auf der Passhöhe ankommen, befiehlt ihnen der Major, abzusteigen. Der Russe, behauptet er grinsend, hat Nägel gestreut, was die todmüden Rekruten um die herbeigesehnte Talfahrt betrügt, da sie ihre Velos, um den imaginierten Nägel zu entgehen, den langen Weg talab schieben müssen. Der Mann hat sich ins Feuer geredet, das Gesicht der Frau verrät, sie hat die Erinnerung zu oft gehört, um Bewunderung oder wenigstens Interesse zu heucheln. Der Mann räuspert sich, wirft die Stoffserviette auf den Tisch, steht abrupt auf und verschwindet mit steifem Gang in der Gaststube. Die Welt, sie ist ein Jammertal, denkt er und sieht die Rekruten vor sich, die die Phantasie ihres Majors verfluchen und sich doch danach richten, indem sie verstohlen nach Nägeln Ausschau halten. Die Hitze, die wie eine Glocke über dem Spreewald steht, zwänge meine früheren irischen Nachbaren in die Knie, weiss er, und greift nach der Serviette, um sich den Schweiss von den Unterarmen zu wischen. Dass sich eine Wespe in der Serviette verbirgt, begreift er erst, als er damit über die linke Ellbeuge streicht: es ist mehr als vierzig Jahre her, seit er das letzte Mal von einer Wespe gestochen worden ist; der jähe Schmerz schlägt die Brücke in seine Jugend. Der Stich brennt wie Feuer, wird zündrot, schwillt aber bloss leicht an. Ist er allergisch? Er zerdrückt die Wespe mit der Serviette, beugt den Arm, auf, zu, auf zu, bemüht, ruhig zu atmen und auf keinen Fall in Panik zu geraten. Die Frau am Nebentisch sieht ihn aufmerksam an und gibt seinen Blick erst frei, als er beruhigend lächelt und den Kopf schüttelt. Damals hat er jedenfalls nicht allergisch auf den Stich reagiert; er war barfuss über die Wiese hinter dem Elternhaus seiner Mutter im Salzkammergut gegangen, in der, von Vogelschnäbeln malträtiert, von Wespen umschwirrt, Birnen lagen, und mit dem linken Fuss auf eine Wespe getreten. Er hatte über die Wiese gehen wollen, um Helga zu küssen, das erste Mal überhaupt ein Mädchen zu küssen, Helga, das Nachbarmädchen, das im Dämmerlicht des Schopfes auf ihn wartete, in dem sein Onkel nach Schichtende in der Saline Liebes- und Jagdszenen in Knöpfe und Gürtelschnallen aus Hirschgeweihen schnitt. Helga, das Mädchen, das bellend und abgehackt lachte, als amüsiere es sich über etwas, das überhaupt nicht lustig war, Helga, das Mädchen, das seinen gestochenen Fuss massierte, bevor sie ihm beibrachte, wie man küsst, richtig küsst, auch wenn man sich nicht liebt, Helga, die mit 22 Jahren unter den Zug ging, hundert Meter vom Bahnhof in Bad Ischl entfernt, Helga mit den Sommersprossen und den dicken gelben Zöpfen, nach denen er griff wie nach Seilen, weil sie ihm den Halt gaben, den er sonst nirgends fand. Er hat den süssen Moderduft der faulenden, gärenden Birnen in der Nase, den der Wind nachts in sein Schlafzimmerchen unter dem Dach trug, das er mit seiner Schwester teilte, spürt den damaligen Stich in der Fusssohle brennen, während er den Stich in der Armbeuge, den er eben erhalten hat, massiert. Er glaubt, Helgas Lippen zu spüren, beschliesst, ein weiteres Glas von dem Grauen Burgunder zu trinken und schliesst die Augen, um in der Vergangenheit zu weilen, bis der Kellner an seinen Tisch tritt.

Hansjörg Schertenleib, geboren am 4. November 1957 in Zürich. Ausbildung zum Schriftsetzer/Typographen; Besuch der Kunstgewerbeschule Zürich. Seit 1982 freier Schriftsteller. Lebte in Norwegen, Wien, London, Boston und Berlin, zwischen 1996 und 2016 in einem ehemaligen Schulhaus aus dem Jahr 1891 im County Donegal in der Republik Irland, seit 2011 zeitweise in Suhr im Kanton Aargau und seit 2016 auf Spruce Head Island in Maine, USA. Besitzt seit 2003 die irische Staatsbürgerschaft.

Rezension mit Interview von «Die Fliegengöttin» auf literaturblatt.ch

Webseite des Autors

Konrad Pauli «Demenz»

Demenz

Er kann es nicht verstehen, er schaut, so lange er es zu tun vermag, seine leeren Hände an. Einen Nachmittag lang, denn er ist, ohne es zu wissen, in der Demenzklinik untergebracht und dort nun zu Hause. Wo er zuvor zu Hause gewesen ist, hat er vergessen. Aber er weiss auch nicht mehr, was er denn vergessen haben soll. 

Er schaut seine Hände an, die hatten bis jetzt doch etwas in Händen gehabt. Einen Teddy hatte er bei sich gehabt und stets an sich gedrückt. Er war so wunderbar weich, obschon er vergessen hatte, was Weichheit bedeuten mochte. Aber die Hände waren nun leer. Die Finger suchten nach der verlorenen Weichheit. In ihnen waren doch auch die Knopfaugen, in ihnen sah er sich oft gespiegelt. Mit dem Teddy waren auch die Knopfaugen verschwunden. Ihm war entgangen, wohin sie denn gegangen sein mochten. Keinen der möglichen Wege vermochte er sich zu denken. Überhaupt das Denken. Das verbliebene Bisschen Denken liess ihn an gar nichts mehr denken. Aber es fehlte etwas    und die Finger zappelten, so als suchten sie danach. Wo er allenfalls zu suchen hatte, blieb ihm ein Rätsel. Selbst Rätselhaftes verschwamm im Dunst. Aber die Finger hielten nicht still. Irgendmal gebot ihnen die Müdigkeit Halt. Aber irgendmal würde die Suche, ohne dass er dies wusste, zu neuem, richtungslosen Leben erwachen. So würden die Finger stets etwas zu suchen haben.    Später kam die Pflegerin. Einen wunderschönen, selbstgemachten Bären hielt sie in der Hand. Die feinen Haare des Bären strichen ihm über die zappelnden Finger    und neue Knopfaugen suchten den Kontakt. Zunächst witterten die Finger Verrat    da stimmt etwas nicht. Endlich, als berührten sie Heisses, zogen die Finger das neue Pelzgeschöpf an die Brust, drückten es fest und beruhigten sich.

 

Frühlingserwachen 1

Es scheint, der Frühling wolle an diesem sonnigen Märztag in einem Atemzug explodieren. Zwar sind viele Passanten noch eingepackt in Mäntel, Schal, Kapuze und Wollmützen    sie wollen noch nicht wahrhaben, dass die jähe Wärme ihnen an den Kragen gehen will. Wie zugeschnürt, die steifen Arme an den Körper gepresst, kommen sie daher, während der Eisstand binnen kurzem von einer langen Menschenschlange belagert wird. Vorbeigehende, Ältere, wundern sich, dass man für Abkühlung und gleichwelchen Genuss so lange anzustehen bereit ist. Wer’s geschafft hat, sitzt auf Bänken und Mäuerchen und schleckt, damit ja kein Tropfen verloren geht. Die Saison ist eröffnet, das grosse Spriessen eingeläutet. 

Auch die beiden Ringeltauben spüren, wie man zu sagen pflegt, den Frühling. Auf der Netzstange an der Kornhausbrücke inszenieren sie ihre Annäherungsversuche, ihren Balztanz, ohne vorerst zusammenzufinden. In aller Unruhe, ja Nervosität tänzelt das Männchen auf das Weibchen zu, das seinen Schrittchen synchron mit einem Wegrutschen antwortet. Naturgemäss bleibt das Männchen gewissermassen am Ball, schiebt sich, den Abstand zu verringern, auf das Weibchen zu, will sogleich aufsitzen, hat aber in seiner Hast, seinem stürmischen Verlangen Gleichgewichtsprobleme, die der Verehrer mit Flügelschlagen auffängt und ins Lot bringt. Dem Weibchen ist so eine fünf Sekunden lange Atempause vergönnt, um notdürftig sein Federkleid zu richten, aber der Bewerber hakt sogleich nach, lässt nicht locker und tänzelt neue Anläufe. Von solcher Beharrlichkeit scheint die Taubendame tief beeindruckt zu sein, also lässt sie den Taubenmann gefährlich oder erfreulich nahe an sich herankommen. Auf der dünnen Stange ein Balanceakt sondergleichen. Die verlockende Nähe der Dame ermuntert den Täuberich, nun aufs Ganze zu gehen. Flatternd will er ihr zu Leibe rücken    flatternd wehrt sie sein Ansinnen entschieden ab, rutscht aber bloss zwei Handbreit weg. Das ernsthafte Spiel setzt Runde um Runde. Seine niemals groben Attacken bleiben ohne Erfüllung. Doch die Erregung drängt ihn stets zu neuen, nun mutiger gewagten Anläufen, die das Weibchen aber jedesmal pariert. Ist’s der richtige Bewerber, wird das Weibchen irgendmal nachsichtig und bereit sein. Vorerst zeigt sie ihm nach einem weiteren Versuch sozusagen die kalte Schulter, fliegt schräg über ein Ziegeldach und versteckt sich in den Ästen einer Tanne. Der Täuberich ist versucht, ihr gleich nachzufliegen, guckt ihr trippelnd nach, bleibt aber mit plötzlich gestrecktem Hals auf der Stange. Nun ist er zu stolz, sie im Tannenversteck aufzuspüren. 

 

Frühlingserwachen 2

Von weither, kaum gefiltert vom jungen Buchenlaub, kommt der Lärm, der sich nach wenigen Schritten als Frösche-Quaken verrät. Dieser kleine Teich im Wald inszeniert Grosses: Jetzt gilt es ernst, es gibt kein Zögern, kein Verweilen mehr. Die Natur gebietet und fordert ihren Tribut. Das Gesetz muss erfüllt werden. Kaum ein anderes Geräusch hat in diesem Heidenlärm Platz. Es geht sozusagen um Tod und Leben. Und das Leben muss um alles in der Welt weitergegeben werden. Wer noch kein Weibchen gefunden hat, bläht die Schallblasen schier bis zum Platzen. Diese naturgegebene Aufgeblasenheit! Emsiges Werben bringt die Wasserhaut zum Zittern. Es gilt keine Zeit zu verlieren    nicht die kleinste Pause gönnen sie sich.

© Konrad Pauli

Nur eine Katze

Die nicht mehr junge Katze gehörte, sozusagen als Stammgast, zur Metzgerei Schori. Zum Betteln war sie zu vornehm, dafür sass sie vormittags beinahe stundenlang vor, will sagen neben der Tür – denn sie hatte gelernt, keinem Kunden ein Hindernis zu sein. Sie sass da und wartete. Sie wartete auf das Stückchen Fleisch, das ihr irgendmal vor die Pfoten gelegt wurde. Ging man an der Metzgerei vorbei – mit Sicherheit war sie da. Sie liess sich streicheln, sie war hier zu Hause. Einmal schaffte sie es gar in die Quartierzeitung. Nun kannte sie jedes Kind, jetzt war sie ein Star ohne Allüren. Nach über hundertjährigem Familienbetrieb hat die Metzgerei Schori nun die Pforten geschlossen. Davon weiss die Katze noch nichts. Wie gewohnt steht sie – ein Vorbild an Geduld – vor der Tür, aber bald scheint sie zu spüren, dass hinter geschlossenen Storen die alte Ordnung nicht bloss ins Wanken geraten war, sondern die endgültige Veränderung eingeleitet hat. Ungläubig harrt sie aus. Sie geht zwar weg, kommt auf Umwegen aber wieder zurück – noch kann sie nicht fassen, was man ihr angetan hat. Doch die Storen knattern nicht mehr hoch. Kein Lichtblick ins Innere. Keine Verheissung, auf deren Erfüllung zu warten sich lohnt. Noch wärmt die Herbstsonne. Streichelt im Vorbeigehen ein Kind die Katze, knistert ihr Fell. Aber die warmen Tage sind gezählt. Ob die Katze aus der Heimatlosigkeit herausfinden wird, ist ungewiss.

 

Atempause

Regelmässig kurz vor Mittag macht der alte, bauchstarke, indes rüstige Mann Pause vor dem Eingang zur Coop. Es steht da ein Metallgestell, vollgestopft mit einem Dutzend Besen. Auf diesem Gestellrand thront breitbeinig, wie angeklebt, der stattliche Mann – umrahmt vom Kranz der neuen Besen. Man möchte ein Foto machen, scheut sich aber davor, möchte den Mann auch nicht um Erlaubnis bitten, denn er kann im Laden auch mal mit den Armen rudern, sich Platz verschaffen und lautstark alle Hindernisse verfluchen. Man lässt ihn also dort sitzen und das Büchsenbier geniessen – wie eine Trophäe hält er es in der Hand. Man wagt nicht einmal den Augenkontakt, leicht erlebt er Solches als Provokation. Über den Rollator gebeugt steht heute ein Altersgenosse bei ihm – und der Biertrinker fasst, so als stehe er auf grosser Bühne, ein leises Votum seines stillen Gastes zusammen: Ja, das waren noch Zeiten, früher, als wir noch Zeit hatten.

 

Atempause II

Eine Atempause. Doch wofür ist sie zu nutzen? Womit sie füllen? Ist’s ein Zwang, ein Naturgesetz gar, dem Nützlichkeitsgedanken nachzuhängen und eine womöglich harmlose Leere füllen zu müssen? Käme man sich allenfalls abhanden? Was verlöre man im Verpassen, im Liegenlassen? Stets hat man eine Ahnung davon, könnte gar Manches aufzählen. Zu erledigen ist Vieles.  –  Erledigen? Muss getan sein  –  aber nicht alles passt in diese Kategorie, diese Schachtel. Was aber ist ausserhalb? Da rumort das Ungewisse, nicht hurtig Benennbare. Ahnungen, vage Vorsätze zuhauf. Aber halt. Es fällt zu leicht, im Wolkenkuckucksheim alles Diffuse bloss anzuhäufen.
Besser, man hält sich ans Konkrete. Was da ist im Augenblick: Herbstblätter scherbeln dürr über den Asphalt, es ist, als wollten sie ihn ritzen; mit einigen inszeniert der Wind einen kreisrunden Tanz. Ein Paar- oder Gruppentanz, rasch wieder auseinander gerissen. Zwei kleine Mädchen auf Minifahrrädern wehren sich kreischend, aber entzückt gegen die Kippgefahr der Böen. Ein Hund jagt einem flüchtenden Ahornblatt nach. Soldaten mischen ihre Tenü-Tarnfarben ins Herbstliche. Die dünnen Wolken wissen nicht, wohin sie ziehen sollen. Mit den immensen Auswahlmöglichkeiten können sie vorerst wenig anfangen. Dass die Böen bodenwärts ziehen, will wenig heissen. In Minuten kann sich Vieles ändern. Vorerst aber tragen die Passanten ihre Jacken und Mäntel offen. Ein Milan fliegt wie noch nie so niedrig über die Dächer. Hinter Wolkenschleiern erbleicht das Sonnenlicht. Nicht lange lässt die Dämmerung  auf sich warten. Womöglich ist bei solchem Verweilen wenig gewonnen, aber kaum etwas verpasst worden.

Konrad Pauli, 1944 in Aarberg in der Schweiz geboren, arbeitete nach der Ausbildung zum Lehrer wiederholt in Zeitungsredaktionen. Der Autor lebt in Bern und veröffentlichte bislang neun Bücher. Zuletzt erschienen „Ein Heldenleben“, „Seit jeher unterwegs“, „Marcos Blicke in Seeland“, Weitergehen“ und „Ein Romantiker in nüchterner Zeit“ (Collection Montagnola, ediert von Klaus Isele).

Gabrielle Alioth «But you don’t really care for music, do you? – Szenen zu Leonard Cohen»

It’s time that we began to laugh and cry and cry and laugh

Ich bin dreizehn Jahre alt, meine ältere Schwester liest Salut les Copains und hört Jacques Brel. Wir haben die Maiunruhen, den Prager Frühling und den Vietnamkrieg am Fernsehen gesehen. An diesem Morgen stehe ich an der Haltestelle und warte auf den Bus, mit dem ich in die Stadt zur Schule fahren werde. Das rote Beret trage ich nicht mehr, es verrutscht auf meinem glatten braunen Haar. Dolly hat blondes gewelltes Haar, und ich bewundere sie. Sie kennt sich aus, auch mit Männern. An diesem Morgen singt sie den Refrain eines englischen Liedes. Ich verstehe fast alles, obwohl ich in der Schule nicht Englisch, sondern Altgriechisch lerne, und summe mit. Bis sie inne hält: „Du weißt natürlich, dass es laugh heißt, lachen und nicht lieben?“
„Natürlich“, lüge ich.

Many loved before us, I know that we are not new

Ich bin fünfzehn Jahre alt, und meine ältere Schwester hat mir ihr Moped geliehen. Es ist Samstagabend, und ich fahre an das Sommerfest auf dem Hügel am Stadtrand. Es dauert nicht lange, bis ich Urs finde. Er hat blaue Augen und gewelltes Haar. Er ist auf dem Weg zu einem Konzert und überrascht, als ich frage, ob ich mitkommen dürfe. Das Konzert findet in einem Gemeindesaal statt. Die erste Band spielt schon, als wir ankommen, und es ist dunkel, aber ich sehe Dolly in einer Ecke in den Armen ihres Freundes. Wir hocken uns auf den Boden zwischen die anderen. Urs küsst mich. Ich überlege, was er mit seiner Zunge in meinem Mund sucht, aber ich weiß es nicht.

I will help you if I must, I will kill you if I can

Ich bin siebzehn Jahre alt, und meine ältere Schwester wohnt nicht mehr zu Hause. Es ist Herbst, und ich fühle mich gut, aber ich kann es nicht länger verbergen. Ich muss etwas tun. Es macht überhaupt nicht weh, und als in der Nacht das Wasser bricht, hänge ich das nasse Leintuch über den Stuhl und lege mich wieder schlafen. Ich schlafe so gut in diesem Jahr. Am übernächsten Morgen bestellt meine Mutter ein Taxi. Ich schreie während der Fahrt und im Treppenhaus vor der Arztpraxis. Ich weiß, dass es Frauen gibt, die ihre Kinder allein im Urwald gebären. Eine Woche später gehe ich wieder in die Schule.

Just win me or lose me

Ich bin neunzehn Jahre alt, meine ältere Schwester ist nach Salzburg gezogen. Richard hat blaue Augen und blondes gewelltes Haar. Ich öffne den Mund, als er mich küsst. Richard ist aus gutem Haus und kennt sich aus. Ich erzähle ihm von dem Kind, aber er weiß, was er will. Nach dem Studium heiraten wir.

Waiting for the miracle to come

Es ist Sonntagnachmittag, und wir spazieren den Rhein entlang. Richard spricht über die Arbeit an seiner Dissertation. Ich denke an die Servietten, die ich noch bügeln muss, und die Kurzgeschichte über die toten Katzen, die ich gern schreiben würde. Wir setzen uns auf eine Bank. Richard erklärt mir, wer von seinen Verwandten in den Patrizierhäusern am gegenüberliegenden Ufer wohnt, und ich weiß, dass ich das nicht ein Leben lang aushalten werde.

And is this what you wanted, to live in a house that is haunted, by the ghost of you and me

Ich bin neunundzwanzig Jahre alt, und wir haben ein Haus in Irland gekauft. Es hat keine Heizung, kein Bad, die Fenster sind zerbrochen, aber es liegt am Hang eines Tales durch den ein Bach fließt. An einem Morgen im ersten Winter stehe ich am Ufer, als die Sonne aufgeht, und sehe den Tau in den Spinnweben zwischen den Schilfhalmen glitzern. Ich weiß, dass ich so lange hier bleiben werde, wie ich kann.

Give me back the Berlin wall

Im Sommer 1987 fahren wir zum ersten Mal nach Berlin. Die Grenzposten sehen so aus wie in Irland, nur dass die Soldaten ihre Gesichter nicht mit Tarnfarbe beschmiert haben. Während Richard Zeitungsredaktionen besucht, fahre ich mit der U-Bahn in den Osten und kaufe günstige Buchausgaben von Goethe, Fontane, Heinrich Mann. Unter den Linden muss ich an das Lied von Hildegard Knef denken.

And no one knows why the wine is flowing

Wir haben uns in dem Haus über dem Tal eingerichtet und mehr Land gekauft, nun gehört uns auch der Bach. Ich habe meinen ersten Roman veröffentlicht und beschlossen, weiterzuschreiben anstatt Kinder zu haben. Richard ist erfolgreich als Journalist; wenn es nötig ist, helfe ich ihm. Manchmal gehe ich gegen Abend an den Bach hinunter und schaue dem Wasser zu. In den kleinen Buchten am Ufer dreht es sich in Wirbeln. Das Tal ist ein Teil von mir, aber ich weiß es noch nicht.

Everybody knows that the war is over

Am 31. August 1994 gehe ich wie jeden Morgen mit den Hunden am Strand spazieren. Am Abend zuvor hat die IRA eine unbefristete Waffenruhe erklärt. Es wird noch vier Jahre dauern, bis das Karfreitagsabkommen unterzeichnet wird. Der Kormoran, der an diesem Morgen in der Mündung des Flusses sitzt, hat seine Flügel zum Trocknen ausgebreitet. Er sieht aus wie ein Wappentier.

Dance me to the end of love

Am Montagabend fahren wir in die Stadt für die Tanzstunden. Es ist kalt in dem großen Saal, wir sind allein mit der Lehrerin, und sie muss uns die Schritte immer wieder zeigen. Richard wird wütend, wenn er Fehler macht. Wir wissen beide, dass wir den Tango niemals lernen werden. Ich würde gern Rumba tanzen können. Es heißt, Rumba sei der Tanz der Liebe.

That’s how the light gets in

Ich arbeite an meinem vierten Roman. Es ist der hermetischste, den ich je schreiben werde, und ich weiß, dass ich am Ende eines Weges bin. Für drei Monate lebe ich in Santa Monica. Die Jacarandas blühen. Gegen Abend spaziere ich manchmal zum Meer hinunter, um den Sonnenuntergang zu sehen.

If you want a lover

Ich bin dreiundvierzig Jahre alt, als ich Dich wieder treffe. Ich weiß sofort, dass ich Dich liebe. Du sagst, es ist genauso wie damals. Ich bin glücklich, ich sehe es, als ich in den Spiegel schaue. Ich nehme mir vor, die zweite Chance nicht zu vertun.

There ain’t no cure

In unserer ersten Nacht klingelt Dein Telefon. Ein Notfall, Du musst ins Krankenhaus zurück. Vom Fenster des dunklen Zimmers aus sehe ich, wie Du auf dem Hotelparkplatz ins Auto steigst und den Motor startest. Bevor Du los fährst, blendest Du den Schweinwerfer für einen Augenblick auf. Die Zärtlichkeit des Lichts schnürt mir die Kehle zu.

It don’t matter how you worship as long as you’re down on your knees

Wir sehen uns heimlich, und oft muss ich auf Dich warten. Aber es ist besser, als nicht zu warten, und wenn Du da bist, ist es nicht mehr wichtig. Es fällt mir leicht, ein Doppelleben zu führen, und manchmal macht es auch Spaß. Ich schreibe über die Liebe.

The odds are there to beat

An einem Abendessen nach einer Lesung in Dhaka liest mir mein Tischnachbar aus der Hand. „There was an accident in your life“, sagt er. Ich weiß, wovon er spricht. „And there is another one to come.“ Die Gespräche am Tisch verstummen. Als ich am Tag darauf in einer Maschine der Bangla Airlines nach Kalkutta zurückfliege, überlege ich, ob ein Flugzeugabsturz ein accident ist. Aber natürlich stünde der nicht in meiner Hand.

If it be your will

Nach zehn Jahren erfährt Richard, dass ich ihn betrüge. Er sagt, er habe immer gewusst, dass ich eine Lügnerin sei. Der Scheidungstermin ist Ende Dezember. Die Verhandlung dauert nur ein paar Minuten, dann wünscht die Richterin uns Glück. Ich sehe Richard in seinem Regenmantel die Straße hinuntergehen und denke, dass er Dir dankbar sein sollte.

And thanks, for the trouble you took from her eyes, I thought it was there for good so I never tried

Ich gewöhne mich an das Alleinleben; an den Verlust des Tales werde ich mich nie gewöhnen. Ich richte mich in einem kleinen Haus auf einem Hügel ein, und jeden Morgen gehe ich mit dem Hund am Strand spazieren. Ich treffe Dich alle paar Wochen für zwei, drei Nächte, meist in einer fremden Stadt. Es ist nicht wichtig wo.

Everything depends upon, how near you sleep to me

Ich bin dreiundsechzig Jahre alt, Leonard Cohen ist vor zwei Jahren gestorben, meine Schwester lebt immer noch in Salzburg. Ich dachte stets, dass ich lieber ein interessantes als ein glückliches Leben hätte; es ist so schwer, über Glück zu schreiben. Heute scheint mir, dass wir unsere Möglichkeiten, über unser Leben zu entscheiden, maßlos überschätzen. Das Meiste passiert einfach – Liebe, Tod – und wir wissen nicht warum.

The story’s told, with facts and lies.

Gabrielle Alioth, geboren 1955 in Basel, war als Konjunkturforscherin und Übersetzerin tätig, bevor sie sich dem Schreiben zuwandte. 1990 publizierte sie ihren ersten, preisgekrönten Roman «Der Narr». Es folgten zahlreiche weitere Romane, Kurzgeschichten, Essays sowie mehrere Reisebücher und Theaterstücke. Daneben ist sie journalistisch tätig und unterrichtet an der Hochschule Luzern. Seit 1984 lebt Gabrielle Alioth in Irland. Ihr neuster Roman «Gallus, der Fremde» erschien bei Lenos. Im Waldgut Verlag erscheint im März erstmals ein Gedichtband «Der Mantel der Dichterin».

Rezension von «Gallus, der Fremde» auf literaturblatt.ch

Webseite der Autorin

Laura Vogt: «Ich über – (Laura Vogt)», Plattform Gegenzauber

Ich soll nicht über das Ich schreiben, heisst es da und dort in der Literaturwelt, denn es bedeute Nabelschau. Welches Ich?, frage ich mich, und wer stellt hier die Bedingungen, für wen, wofür und warum?
Ich sitze an der Alten Donau, wie unwienerisch: lautes Froschquaken, Vögel singen; ich höre den Wind in den Bäumen, eine Kettensäge in der Ferne und Autorauschen von der grossen Strasse her, die über den Fluss führt. Dahinter schiessen hochmoderne Wolkenkratzer in die Höhe. Clean wirken sie, als würden sie aus der Erde wachsen, genau wie das Schilf direkt vor mir.
Zurück zum Ich, das mit beiden Beinen auf dem Boden steht. Zwei junge Frauen, die je einen Kinderwagen vor sich her schieben, spazieren an mir vorbei; ich habe mein Kind zu Hause in St. Gallen gelassen und in den letzten zwei Tagen so wenig gesprochen wie seit mindestens zwei Jahren nicht mehr. Ich gehe alleine der Alten Donau entlang, und am Morgen ging ich auch ganz für mich durch Wiens Strassen und Gassen, am Museumsquartier und an der Hofburg vorbei, an Touristenströmen vorüber und durch sie hindurch.
Ich bin flüssig wie Honig.
Ich rinne vor mich hin, eher dünn- als dickflüssig bei der Hitze, und ich lasse an mir kleben, was mir gefällt, um die Dinge später, wenn ich ein Gegenstück habe, zu verwerten. (Brot für den Honig. Ein menschliches Gegenüber oder einen Stift & ein Stück Papier für das Ich)
Ich zergehe mir selbst im Mund.
Ich schlucke und verdaue all die Wörter, die ich lese.
Das Ich und seine mannigfaltigen Möglichkeiten. Das Ich in seinem Nichts.
Losgelöst von meinem Leben und mitten in ihm – zurück von der Alten Donau in der Wiener Innenstadt – betrete ich das Leopold Museum. Ich betrachte die Bilder von Egon Schiele, wegen derer ich in die Stadt gekommen bin. Hunderte Selbstporträts hat Schiele vor rund hundert Jahren gemalt. Klare Linien zeigen mal einen ganzen Körper, mal nur einen Torso; dürre Beine, schlaffer Penis, lavarote Nippel, aufgerissener Mund, die Stirn in Falten, ein honiggelber Körper. Das Ich als Märtyrer, als Heiliger, als Leidender.
Schiele hat sich nicht festgelegt. Er hat Ich gesagt und Vieles und Nichts gemeint.
Ich richte mich auf. Ich habe Durst. Mein kinderloses Ich steigt die Treppe hoch ins Café Leopold und wirft einen Blick in die Getränkekarte. Als der Kellner vor meinem Tisch stehen bleibt und fragt, was er mir bringen soll, deutet mein Zeigefinger auf „All I Need“. Grüntee belebt.

Laura Vogt, geboren 1989 in der Ostschweiz, absolvierte das Schweizerische Literaturinstitut in Biel. Davor studierte sie fünf Semester Kulturwissenschaften an der Universität Luzern und hielt sich längere Zeit in Uganda, Ägypten und Griechenland auf. Sie schreibt Prosa, lyrische und journalistische Texte und ist zudem als Schriftdolmetscherin tätig. 2016 erschien ihr Debütroman «So einfach war es also zu gehen» (VGS St. Gallen). 2012 war sie Siegerin beim Schreibwettbewerb des Thuner Literaturfestival Literaare, 2014 erhielt sie einen Werkbeitrag der Ausserrhodischen Kulturstiftung und 2017 einen Werkbeitrag der Stadt St. Gallen.

Im Januar wird das Stück „Die Traumbeschauten“ in der Offenen Kirche, St. Gallen aufgeführt. Laura Vogt schrieb den Text für dieses Musiktheater.

https://inscriptum.ch/programm/

Webseite der Autorin

Fee Katrin Kanzler «Mächtige Männer warten lassen»

I tried and failed to be a character in a story somebody else had written for me. – Laurie Penny

Krishna war ein kleiner, zu dünner Säugling mit schwarzem Haarflaum. Dass Krishna der Name eines Hindugottes ist, eines blütengeschmückten Flötenspielers, um den sich weiße Kühe scharen, hatte die Mutter nicht geschert. Sie wusste nicht, dass hinter dem Wort eine der zehn Inkarnationen Vishnus steckt, ein blauhäutiger Weiberheld. Sie nannte ihre Tochter Krishna, weil sie den Namen bei George Harrison aufgeschnappt hatte, seine ausgefallene Schreibweise, seinen Klang mochte. Einzig dem betreuenden Arzt fiel der Zusammenhang zwischen dem Namen und der leicht bläulichen Haut des Mädchens auf.

Vom Turm herab schlägt es fünf Uhr, ein spröder, hungriger Ton. Die Marktleute klappen ihre Buden zu, sammeln das restliche Gemüse ein. Ein paar letzte Tüten werden hastig an den Mann gebracht, bevor ein Verkaufswagen nach dem anderen davonrollt. Ein leichter Nieselregen setzt ein.
Die Künstlerin geht über den Platz, das Haar unter ihrer Kapuze verborgen. Schon von Weitem sieht sie den geschwungenen Schriftzug, die rote Eingangstür, die Lichter des Bistros. Drinnen baumeln Kronleuchter wie silberne Spinnen von der Decke. Unter einer der Glitzertaranteln sitzt der Mann mit dem Geld.
Er lümmelt mit dem Rücken zum Fenster, sie kann seine Halbglatze ausmachen, das immergleiche Grau seiner Schultern. Sie weiß, wie es abläuft, sie wird ihm gegenüber Platz nehmen, in dem engen Gang zwischen den Cafétischen, durch den wieder und wieder die Bedienung flitzt. Wenn andere Gäste die Tür öffnen, wird sie den kühlen Zug der Abendluft spüren, während der Mann mit dem Geld auf sie einredet, ihr sagt, was geht, was nicht geht und was er will. Manchmal wird der Ellenbogen der Kellnerin ihren Hinterkopf streifen, so dass sie ständig befürchtet, über ihr könnte ein Tablett voll Kaffeetassen ausgekippt werden. Schon vier solcher Treffen hat sie hinter sich, ohne dass die großen Versprechungen wahr geworden wären.
Etwas Pinkfarbenes leuchtet ihr auf dem nieselnassen Boden entgegen. Ihre Schritte verlangsamen sich. Eine liegengebliebene Nelke. Die Künstlerin macht ein Foto von der Blüte, blinzelt noch einmal zu den Silberarachniden hinüber und macht auf dem Absatz kehrt.

Über dem Sofa ein Vasarelyquadrat in Schwarz und Weiß, der Kaffeeautomat knirscht eine Portion Bohnen zu Pulver. Die junge Witwe steht barfuß vor der Maschine. Im Hintergrund schrillt ein Telefon. Eine Überwachungskamera wirft ein blindes Auge in den Garten, zeichnet Schatten auf, die niemand sieht.
Der Espresso schnurrt in eine silbern glasierte Tasse. Das Telefon verstummt und eine Raucherstimme knarzt zwei, drei Sätze auf den Anrufbeantworter. Das Spiegelbild der jungen Witwe ist mehrfach in den hohen Glasscheiben zu sehen. Sie träufelt Chiliöl in ihren Espresso, rührt. Es ist spät am Abend, eine stabförmige Designerlampe ist die einzige Lichtquelle im Raum.
Plötzlich springt einer der Bewegungsmelder draußen an, lässt die Fluter im Hof aufstrahlen. Die Frau hebt den Blick von ihrer Tasse. Hatte das Telefon so gar keine Anziehungskraft auf sie, durchfährt sie jetzt ein Anflug von Neugier. Sie eilt ins Schlafzimmer, holt die Walther aus dem Nachtkästchen und schleicht nach unten. Instinktiv weiß sie, dass jemand auf dem Grundstück ist, dass es diesmal kein Waschbär ist.
Als sie eine der Glastüren zum Garten aufgeschoben hat, hört sie aus einiger Entfernung ein Tappen und Kratzen, dann Schritte im Kies. Die Geräusche kommen von der straßenzugewandten Seite des Hauses, irgendwo beim Garagenanbau. Sie lauscht, ein hastiges Schlurfen, das Sirren eines Reißverschlusses, Klebebandratschen, ein leises Ächzen. Sie tritt ins Licht, durchquert den Garten und geht die Auffahrt hinunter. Ein Klackern, ein Zischen, die junge Witwe geht an dem Rolltor vorbei, hinter dem ihr Sportwagen steht, biegt um die Ecke. Sie sieht eine menschliche Silhouette, die von oben von der Garage hängt, Kapuze, ein Arm, der in Zickzackbewegungen Farbe an die Wand sprüht. So vertieft ist die Gestalt in ihr Werk, dass die Witwe erst ihre Pistole heben und ein halblautes Hey rufen muss.
Die Person zuckt zusammen, zieht rasch ihre Gliedmaßen auf das Dach zurück. Kurz ragt noch einmal die Kapuze über den Gebäuderand, dann knackt der Kies, ein Schlittern, ein Straucheln auf der Rückseite der Garage. Die dunkle Silhouette kämpft sich durch Eibenbüsche zurück auf die Straße, der Rhythmus von Turnschuhen hallt auf dem Asphalt, verschwindet in der Nacht. Erst jetzt sieht die Witwe sich selbst, ihren Schatten, groß und verzerrt auf den Hof projiziert. Der Hausmantel lässt sie breit und bedrohlich aussehen, sie ist ein gigantischer Umriss mit ausgestreckter Waffe.

Da Krishna an Arbeitslehre und Textilgestaltung keinen Spaß, dafür aber einen schönen Körper hatte, begann sie, für Fotografen Modell zu stehen. Mit siebzehn hatte sie genug zusammengespart, um bei der Mutter auszuziehen, wohnte in einem schmuddeligen Loch. Sie ging zu Modelcastings. Weil die Bezahlung stimmte, beteiligte sie sich auch an Pornoproduktionen. Der unterkühlte Sex langweilte sie jedoch genauso sehr wie der Unterricht in Rechnungswesen.
Beim zwölften, vierzehnten oder achtzehnten Casting klappte es dann, und in den folgenden zwei Jahren war Krishna immer wieder in den Katalogen von Billigkleidermarken zu sehen. Sie zog in einen anderen Stadtteil und arbeitete als Messehostess. Ihr Englisch war nicht das allerbeste, aber weil sie die erwarteten Umgangsformen aus dem Effeff beherrschte, stieg sie trotzdem bald zur VIP-Hostess auf. Sie lernte jede Menge reiche und wichtige Männer kennen. Genoss, wie die Schlipsträger und Scheichs um ihre Blicke buhlten, im Messerummel danach dürsteten, sich von ihr Champagner reichen zu lassen. Manchmal umgarnte sie die Kunden, zog sich anschließend mit dem Versprechen auf baldige Wiederkehr und Tramezzini zurück und ließ die Männer absichtlich eine geraume Zeit warten. Immer nur gerade so lang, dass sie keinen Ärger bekam. Lang genug jedoch, um aus einem Versteck heraus die suchenden Blicke, die gerunzelten Stirnen und die aufkeimende Verwirrung, vielleicht doch vergessen worden zu sein, beobachten zu können. Very important persons beim Schwitzen zusehen, mächtige Männer warten lassen, das war ihr heimliches Vergnügen.

Die junge Witwe wird vom Telefon geweckt. Das Morgenlicht frisst einen rötlichen Schlitz in die Samtwand vor dem Fenster. Der Geruch des Gatten driftet noch durch die Wohnung, sie atmet das Gespenst ein, wartet, bis das Klingeln aufhört, atmet erst dann wieder aus. Von draußen ist ein melodisches Wispern zu hören, Vogelstimmen, die gedämpft durch die Vorhänge dringen.
Eine halbe Stunde später zieht die junge Frau den Samt beiseite, hört den Anrufbeantworter ab. Der Finanzchef von Little Lamb Baby Foods bittet um dringenden Rückruf. Sie sucht, während die Kaffeemaschine kreischend Bohnen mahlt, die Telefonnummer von Olga Sonowska heraus. Nimmt sich vor, sie, die Assistentin ihres Mannes für über zehn Jahre, gleich morgen zum Abendessen einzuladen. Niemand weiß so gut über das Unternehmen bescheid wie Sonowska, hatte er immer gesagt. Als die Witwe ihre Finger um den Kaffeebecher legt, klingelt erneut das Telefon. Sie schließt die Augen, zählt bis zehn, hat nicht mehr dieselbe Freude daran wie früher, einen Geldsack sitzen zu lassen.

Manche von den Messekunden versuchten, Krishna auf ein Wochenende in die Alpen zu entführen, auf einen Segeltörn auf den Bodensee, zu einer Modenschau nach Milano. Die Hostess nahm nur ein Viertel der Einladungen an und war trotzdem mindestens einmal im Monat mit einem Verehrer unterwegs.
Helgo Zättervall, der Besitzer von Little Lamb Baby Foods, war besonders kreativ in der Auswahl seiner Ausflugsziele. Mit ihm ging Krishna zum Fallschirmspringen, badete in geothermischen Quellen, unter seiner Aufsicht lernte sie reiten, erwarb ihre Fahrerlaubnis und machte den Waffenschein. Der Mann hatte schütteres, rotes Haar, zusammengewachsene Zehen und aß leidenschaftlich gern Kümmelkäse. Auf einem Hausboot in einem norwegischen Fjord machte Zättervall der jungen Frau schließlich einen Heiratsantrag.
Krishna, gerade vierundzwanzig geworden, erbat sich Bedenkzeit. Sie flog zurück nach Deutschland, lag vier Nächte lang wach und grübelte. Sie kam auf keine bessere Idee. Jeder Weg, den sie sich ausmalte, führte irgendwann in die Wüste. Die Hostessenagentur zog Jahr für Jahr neues Personal an Land, junge Schönheiten aus aller Herren Länder, Krishna war sich ihrer Ersetzlichkeit bewusst. Sie hatte keinen Berufsabschluss und als Model würde sie maximal vier oder fünf weitere Jahre arbeiten können. Sich wie ihre Mutter als Kellnerin, Kindermädchen oder Kurierfahrerin über Wasser zu halten, kam für die junge Frau nicht in Frage. Früher oder später musste sie also diese Karte spielen, früher oder später musste sie einen Antrag annehmen. Ob es nun Zättervall oder einer der anderen Männer war, spielte im Grunde keine Rolle.
Nach knapp einer Woche hielt der Babynahrungsmagnat es nicht mehr aus. Er kam Krishna in ihrer kleinen Innenstadtwohnung besuchen, der Strauß aus hundert roten Rosen passte kaum durch die Tür. Zättervall warf sich vor der jungen Frau auf den Boden, wiederholte seinen Antrag und fügte hinzu, wenn sie nicht sofort zusage, würde er sich jetzt und hier aus dem fünften Stock stürzen. Sie sagte ja.

Gegen neun Uhr verlässt die Witwe das Haus, sieht sich das Graffiti, das der nächtliche Besucher hinterlassen hat, zum ersten Mal genauer an. Es ist ein Schemen, so schwarz wie der Schatten, den sie selbst in der Nacht auf den Hof warf. Eine finstere Wolke, horizontal hingestreckt auf dem Eierschalenbeige der Garagenwand.
Erst beim zweiten Hinsehen fallen der jungen Witwe die Unebenheiten auf, der große schwarze Fleck hat Kiemen. Sie tritt näher. Ein weißes Rechteck hebt sich rings um die düstere Wolke ab. Erst dann begreift sie. Eilt in die Garage, bugsiert eine Klappleiter hinaus und steigt zu dem Graffiti hoch. Das anderthalb mal zwei Meter messende Stück Pappe ist notdürftig mit Klebeband am oberen Garagenrand befestigt, der Sprayer hatte keine Zeit mehr, es abzuziehen. Sie greift nach der Schablone, die sich beim Lösen in sich zusammmenfaltet und das darunterliegende Wesen offenbart. Eine gestreifte Katze, schleichend. Erst denkt die Witwe an einen Tiger. Aber ihr fällt auf, wie hart und unorganisch die eierschalefarbenen Streifen den Katzenkörper in Segmente teilen. Als hätte jemand das Raubtier mit einem Laserstrahl in Scheiben geschnitten. Es hält den Kopf gesenkt, sein weicher, geduckter Gang wirkt niedergeschlagen. Es ist ein Panther hinter Gitterstäben.
Die Umrisse seiner Vorderpfoten und sein Kopf sind nur spärlich mit Farbe gefüllt. Auch im Leib gibt es dünn besprenkelte Stellen, unter dem Tier einige formlose Hauche von Schwarz, in denen sich Buchstaben andeuten. Die Witwe klettert von der Leiter, stößt mit der Ferse gegen eine Sprühdose, hebt sie auf, ein grelles Pink. Sie entfaltet die Schablone und entziffert den Schriftzug, der als Bildunterschrift gedacht war. Hinter tausend Stäben keine Welt, steht da. Die Phrase kommt der Frau bekannt vor, sie starrt die Worte an und fragt sich, warum gerade jetzt die Tränen über ihre Wangen rinnen, die seit dem Tod ihres Mannes nicht fließen wollten.

Kurz nach Mitternacht schickt der Mann mit dem Geld eine besorgte Nachricht an die Künstlerin. Als diese sich auch den ganzen nächsten Tag über nicht meldet, ruft er sie an. Lässt es wieder um Mitternacht klingeln, als wäre sie eine heimliche Geliebte, als hätte sie sich noch nicht weit genug hochgearbeitet, damit er wie ein normaler Geschäftspartner am Tag mit ihr telefoniert.
Sie hätte das Säuseln des Handys beim Klackern der Spraydosen fast nicht gehört. An der Mauer über ihr klebt eine Schablone, bäumt sich ein Nilpferd mit Stierhörnern, ein Behemoth mit weit aufgerissenem Maul, der einen Flamingo verschlingt. Die Künstlerin flucht und sprüht weiter. Drei Minuten später hört sie erneut das leise Wimmern des Telefons. Das Graffiti ist fertig, sie reißt die Schablone ab, kickt ihren Rucksack ein Stück zur Seite und duckt sich ins Gebüsch. Sie schaut aufs Display, nimmt das Gespräch an. Früher oder später wird sie dem Mann mit dem Geld erklären müssen, dass sie kein Interesse mehr an seiner Vermittlung hat.
»Du veräppelst mich doch? Ich habe Treffen mit den drei einflussreichsten Galeristen in der Region für dich arrangiert.«
»Und alle drei haben auf meine Bilder reagiert wie auf vergammelte Spiegeleier.«
»Gib der Sache Zeit. Arbeite an deinem Stil.«
Die Lichtkegel eines Autos wandern im Schneckentempo vorüber. Die Sprayerin rückt tiefer in die Blätter, stößt mit dem Rücken gegen einen Maschendrahtzaun.
»Ich will nicht mehr. Keine Lust, denen zu gefallen.«
»Überrasch sie doch beim nächsten Mal. Sei frech. Mach was Neues.«
»Nein. Wirklich. Ich bin raus. Keine Zeit zu diskutieren jetzt.«
Es herrscht eine kurze Stille. Das Auto ist vorbeigefahren, hat angehalten. Ein Streifenwagen. Die Künstlerin hört, wie der Fahrer den Rückwärtsgang einlegt.
»Du bist das dümmste und undankbarste Wesen, das mir je begegnet ist. Und dir habe ich Bilder abgekauft! Ja also: Schmeiß dein Talent eben weg. Ich wünschte, ich hätte dich wenigstens vorher noch gefickt. Tschüss.«
Die Autotüren springen auf, die Sprayerin erstarrt. Die Strahlen zweier Stablampen tasten das Nilpferdmonster ab und beginnen anschließend, das spärliche Gebüsch zu durchkämmen.
»Würden Sie bitte aufstehen und sich zeigen?«
Die Künstlerin erwägt, dass sie gerade die Miete für den nächsten Monat in den Wind geschlagen hat, und zieht die Flucht über den Zaun in Betracht. Sie reckt ihren Hals, verdreht die Augen nach oben, der Maschendraht ist etwa zwei Meter hoch. Bis sie sich hinübergehangelt hätte, würden die Beamten sie längst an den Hosenbeinen wieder herunterziehen. Sie bleibt hocken. Zwanzig Sekunden vergehen, ohne dass etwas geschieht.
»Kommen Sie raus, wir sehen Sie doch!«
Ein Blatt fällt lautlos durch das Geäst und streift die Wange der Sprayerin. Ein paar Bäume weiter flötet ein Nachtvogel eine fragende Melodie. Die junge Frau atmet tief ein und kriecht schließlich aus ihrem Versteck.

[…]

(Auszug aus einer Kurzgeschichte, «eine Werkstattschau», ein Einblick in etwas Werdendes)

Fee Katrin Kanzler, 1981 geboren, studierte Philosophie und Anglistik in Tübingen und Stockholm. Sie war Stipendiatin des Klagenfurter Literaturkurses, erhielt den Förderpreis für Literatur der Stadt Ulm und das Jahresstipendium für Literatur vom Land Baden-Württemberg. 
Ihr Roman »Die Schüchternheit der Pflaume« (FVA 2012) war für den »aspekte«-Literaturpreis für das beste deutschsprachige Debüt des ZDF nominiert. Im Herbst 2016 erschien ihr Roman »Sterben lernen«.

Rezension von «Sterben lernen» auf literaturblatt.ch

Webseite der Autorin

Simone Regina Adams «Usambaraveilchen, Schrankpapier»

Oma stirbt. Als Kind hielt ich sie für unsterblich. Noch einmal betrete ich ihr düsteres kleines Haus durch die Hintertür. Ich setze den Fuß auf die Steinstufe, die so abgetreten ist, dass sie müde in der Mitte durchzuhängen scheint; diese eine Stufe geht es hinauf, dann hinter der Schwelle zwei gekachelte Stufen hinab und ich stehe in der Waschküche.
Gleich neben der Tür hängen Küchenschürzen, links steht der Holztisch, ein Wachstuch darauf, vom vielen Schrubben farblos geworden; vor mir der grauweiße Spülstein, mit dunklen, abgeschlagenen Kanten, der Boiler darüber.
Dann die frühere Küche, ein Durchgangsraum mit gefliestem Boden und einem dünn gewordenen Webteppich. Der Kühlschrank brummt vor sich hin. Der Gasherd steht daneben, abgedeckt, ein kariertes Tuch ist darüber gelegt. Hier ist es kalt; seit ein paar Jahren kocht Oma ihr Essen auf den zwei Elektroplatten im angrenzenden Zimmer. Ich schaue hinein.
Über der Eckbank hängt an der Wand eines dieser Holzscheibchen mit dem aufgeklebten Erinnerungsbild eines Ortes, mit Geranien, See und knallblauem Himmel; auf dem Beistelltisch steht ein Trockenstrauß, ein Engelsfigürchen, ein Jesusbild. Auf dem Tisch ein Korb mit Orangen und welken Delicious, eine Tüte mit altem Rosinenbrot, die Brotmaschine, von Hand zu kurbeln. Dahinter der Wandschrank, den ich als Kind mit Schrankpapier auszulegen hatte, und in dem sich immer eine Dose mit Mandarinen befand; auch ohne ihn zu öffnen, sehe ich das Besteck darin mit den bunten Griffen und das blumige Porzellan.
Fast alle Schränke in diesem Haus sind in die Wand eingelassen, in die Mauern des Hauses hineingedrückt, wie der Schrank mit dem Putzzeug unter der Treppenschräge, auch die Garderobe im Flur; sie scheint in der Wand verschwinden zu wollen, mitsamt dem dunklen Mantel, den Schals, dem schwarzen Schirm und dem Pelzkragen mit dem Fuchskopf an einem Ende. Hier stand ich als Kind, wenn die Glocken zur Messe riefen; ich wartete, bis Oma das Gebetbuch aus der Schublade genommen, den Mantel angezogen und den Pelz umgehängt hatte, so, dass der Fuchs mich mit seinen gläsernen Augen anstarren konnte, wenn Oma mich an der Hand nahm und mit mir zur Kirche ging.
Und da ist die Tür zur Stube. Dort liegt Oma. Nicht mehr auf dem Sofa, auf dem sie sonst ihren Mittagsschlaf hielt, sondern in einem Krankenbett. Das Sofa war immer das Herz, das Zentrum des ganzen Hauses gewesen; das Sofa, von dem aus ich kaum den Tisch überblicken konnte als Kind, auch wenn ich auf einem der rot bestickten Kissen saß oder auf der Wolldecke aus den vielen verschiedenen bunten Flecken, von den Pfarrfrauen gestrickt und zusammengenäht; der Hauptgewinn der Verlosung beim Kirchenbasar.
Jeden Samstag, wenn ich dort in der Stube saß mit Oma und Mama, begann nach dem Essen das Putzen und Abstauben, angefangen mit der Kommode und dem holzverkleideten Radio: diesem großen Kasten mit den geheimnisvollen Wörtern in goldener Schrift: HILVERSUM, MILANO, HELSINKI; mit den vielen perlmuttweißen Knöpfen zum Drücken und den braunen zum Drehen, dem stoffbezogenen Lautsprecher, aus dem immer erst ein Knacken und Rauschen und dann eine dröhnende Stimme kam. In der oberen Klappe versteckt ist ein kleiner Plattenspieler, mit Heintje und Froschkönig; wenn der Tonarm über der schwarze Scheibe zitterte, quakte heiser und kläglich der Frosch: „Königstochterjüngste, mach mir auf! Weißt du nicht mehr, was du mir versprochen hast? Am Brunnen, als ich dir die goldene Kugel holen musste …“
Doch beim Samstagnachmittagsputz blieb der Plattenspieler versenkt, nur die Madonna in der Muschelwand und die gerahmten Fotos auf den Spitzendeckchen wurden abgestaubt; auch beim Tisch mit dem Fernseher wurde alles hochgehoben, abgewischt und zurückgestellt, die dicke Kerze im Messingständer und sogar die zwei Brillenmäppchen auf dem Papierstapel von Zeitungen, Prospekten, dem Kirchenblatt.
Dort in der Stube saß ich als Kind auf dem Teppichboden, sortierte die Gummibärchen der Farbe nach, malte die Osterhasen in meinem selbstgebastelten Kalender bunt und baute Männchen aus Weinflaschenkorken. Oder lag auf dem Sofa, wartete auf das Essen und langweilte mich, betrachtete den Christus im goldenen Rahmen über mir mit seinen leidvollen Augen und dem lieblichen Lächeln. Opa auf dem Foto daneben schaute streng auf den Tisch herab, an dem Oma vor jeder Mahlzeit betete, kommherrjesus, seiunsergast; ich faltete die Hände wie sie und murmelte dazu; dann gab es Suppe mit Rindfleisch und Mayonnaise, und zum Kaffee Marmorkuchen und Obstkuchen vom Blech.
Ich stehe im Flur, neben dem Kippschalter für das Licht im Keller; eine Holztür führt dorthin, um sie zu öffnen, muss der Eisenhaken angehoben und zur Seite gedreht werden. Ich erinnere mich an das Kellergewölbe, den Kartoffelgeruch, die Äpfel auf den Holzstellagen. Später traute ich mich allein hinunter, doch auch dann noch war ich erleichtert, wenn ich wieder oben war.
Im ersten Stock ist Omas Schlafzimmer, das große Ehebett, in dem sie seit den Sechziger Jahren, seit Opas Tod, alleine schlief, wenn ich nicht gerade neben ihr lag. Es hat Matratzen wie für die Erbsenprinzessin; Matratzen, in denen ich einsank als Kind; die dicke, abgegriffene Kordel hielt ich fest in der Hand; wenn ich daran zog, ging das Licht wieder an. Dann sah ich die weißen Styroporplatten an der Decke und den Lampenschirm, hell, mit Blüten bemalt wie ein Lampion. Der Nachttopf unterm Bett und an der Wand die ewig tickende Uhr; immer schlief ich dort, neben Oma, nie in dem Zimmer nebenan, in dem Mama groß wurde; es ist ein kleines Zimmer, mit Kommunionsbildchen an der Wand. Und dahinter gibt es noch einen kaum benutzten Raum, mit wurmstichigen dunklen Holzmöbeln; auch da ein Wandschrank, den Oma feierlich öffnete; ihre Schätze darin: eingemachte Kirschen, Birnen, Zwetschgen und Marmelade. Sie übergab mir andächtig ein Glas, das ich mit beiden Händen halten sollte, wenn ich es zur Stube hinunter trug.
Später dann half ich beim wöchentlichen Putz, ich schrubbte die Treppe mit der Bürste, wischte jede Stufe mit dem Lappen nach, und den Gehweg draußen musste ich kehren; die immer gleichen Aufgaben an jedem Samstagnachmittag; danach fühlte ich mich befreit und froh, wenn Mama mit mir nach Hause fuhr.
Aber vorher ging Oma mit mir zum Schrank in der Stube, dort lag der Geldbeutel neben der Suppenterrine; eine Münze oder einen Schein bekam ich zur Belohnung, sie bekam ein Küsschen; und dann stand sie an der hinteren Türe und winkte uns nach, mit einer kleinen verstohlenen Handbewegung, eher so, als würde man einen Popo tätscheln.
Noch immer stehe ich im Flur. Oma wird sterben, man wird sie aus dem Haus tragen, nicht weit hat sie es bis zum Friedhof hin.
Soll ich hinein gehen?
Was werde ich sehen?
Die fast blinden Augen, den schmalen Mund, das Gesicht, das so ernst und bitter aussehen konnte. Angst hatte ich manchmal vor ihr, als Kind, wenn sie mit mir schimpfte; Angst vor dieser Härte, die kurz, unerwartet hervorblitzte und mich dann erschreckte, so wie der Jesus, der
verrenkt am Mahagonikreuz hing, so wie das Bild der Madonna mit den blutenden Augen. Den zarten Kopf mit dem edlen Gesicht hatte sie zur Seite geneigt, in den Augenwinkeln glänzten dicke Tropfen, leuchtend rot wie Nagellack.
„Oma, warum hat die Madonna so rote Augen?“
„Sie hat so viel weinen müssen, Kind, bis sie keine Tränen mehr hatte. Da hat sie Tränen geweint aus Blut.“
„Aber warum?“
„Weil die Menschen so böse sind. Darüber weint sie.“
Ich fragte nichts mehr.
All ihre Gebete, Vaterunser und Mariamitdemkindelieb, immerzu; jedes Gebet eine Münze, um sich einzukaufen, um sich einen Platz zu sichern im Paradies. Aber hat sie nicht manchmal in sich hineingelacht, mich auch gelobt und Verständnis gezeigt? Oma eine Insel, Zuflucht und ein
böser, gefährlicher Drache; nachts schnarchte sie laut und ich träumte vom bösen Wolf, der mich fraß.
Ich öffne die Tür zur Stube. Ich gehe hinein.
Auf diese Leute war ich nicht gefasst. Was tun sie hier? Nachbarn, entfernte Verwandte, die ich nicht kenne, sie sitzen schweigend auf Stühlen wie vor einer Bühne, starren auf ihre Hände oder das stille Schauspiel vor ihnen; langsam nicken sie mir zu.
Und da liegt Oma. Ich erschrecke. Ihr Gesicht ist eingefallen, sie trägt kein Gebiss. Sie braucht es nicht mehr.
Die Wangenknochen sind immer noch breit und markant, doch die Haut darüber ist dünn geworden. Ihr Mund ist weit geöffnet, die Augen hat sie geschlossen. In diesem Gesicht ist der Schmerz so unverhohlen zu sehen, dadurch wirkt sie so fremd. Sie ist beinahe schön.
Ihr langes, weißes Haar ist offen und weich wie bei einem Mädchen; nur von einem Haarband aus der Stirn gehalten, fließt es seitlich über die Kissen. Ein goldenes Kettchen trägt sie um den Hals. Sie hat hohes Fieber, ihre Brust hebt und senkt sich angestrengt. Ich halte ihre Hand, die trockenen Finger biegen sich nach innen. Sie ist nur noch Atem, Wärme und Körper; krank riecht sie, intensiv.
Nach und nach sind alle gegangen. Ich habe Angst davor, dass Oma stirbt, während ich ihre Hand festhalte; Angst davor, mit ihr und dem Tod alleine zu sein. Ich sollte mit ihr reden, ich müsste laut mit ihr sprechen, es fällt mir schwer. Eine Kerze habe ich angezündet und das grelle Licht ausgeschaltet, nur das sage ich ihr: Oma, ich hab eine Kerze für dich angemacht. Dann bin ich wieder stumm. Ich habe nichts zu sagen. Es gibt nichts zu sagen, nichts, das wichtig wäre; außer, dass ich da bin.
Noch einmal zusammen Kaffee trinken, denke ich, noch einmal das alte Ritual. Ich gehe in die Küche, stelle den Kessel auf die Herdplatte, schütte das Kaffeepulver in den Filter, so wie früher.
Die große Standuhr in der Stube schlägt schon lange nicht mehr. Ich öffne die Tür des Gehäuses und versuche, sie aufzuziehen. Es tönt in ihr, doch die alte Melodie fehlt, es ist nur noch ein leiser, zitternder Hall. Die Messingstäbe, die ich mit den Fingern berühre, klingen nach, aber die Tonfolge kriege ich nicht hin, dabei ist sie in mein Inneres gebrannt. Diese Uhr würde ich niemals haben wollen, bloß die Töne, die aus ihr kamen, alle Viertelstunde.
Der Kessel pfeift.
Ich trinke den Kaffee, und auch von dem Kuchen esse ich, der in der Küche stand; ich staune über mich selbst. Der leichte Ekel, den ich gespürt hatte, als ich hereinkam, hatte mich erst daran gehindert, zu essen. Und jetzt tue ich es doch. Marmorkuchen, trocken und krümelig, schwer zu schlucken. Ich trinke den Kaffee dazu. Es ist ein letztes gemeinsames Kaffeetrinken, auch wenn Oma nicht mehr neben mir sitzt, erzählt und mir zuhört, sondern dort liegt und mit dem Tod kämpft.
Inzwischen ist es dunkel geworden. Ich warte auf meine Ablösung und bin erleichtert, als endlich jemand kommt. Ich rufe Oma und sage ihr, sie soll mich noch einmal anschauen.
Tatsächlich öffnet sie die Augen und blickt mich an; ich komme ihr näher, damit sie mich genauer sieht. Eine Träne läuft über ihre Wange.
Ich bin nicht mehr alleine mit ihr. Ich verabschiede mich.
Hätte sie gesprochen, wenn sie es gekonnt hätte? Was hätte sie sagen wollen? Was hätte ich sagen wollen, wo mir doch die Worte fehlten?
In der Nacht werde ich wach. Der Kaffee ist mir auf den Magen geschlagen; ich bin unruhig und denke, dass Oma vielleicht in diesem Moment stirbt. Aber sie ist erst später gestorben, am Abend darauf.
Ein Leben, fast so lang wie ein Jahrhundert, ist zuende. Sie, die sonst alles im Griff hatte, meistens kühl und gefasst war und mir so unbezwingbar erschien; nur einmal habe ich sie anders gesehen, aufgelöst, kämpfend – und schließlich ergeben.
Zehn Jahre ist das her. Manchmal träume ich, weniger von Oma als von ihrem Haus. Nachts, in meinen Träumen ist alles noch da, steht alles am alten Platz. Dabei ist das Haus längst abgerissen, verschwunden.
Bei Tage ist es eine versunkene Welt; nur einzelne Dinge und Worte bleiben sichtbar trotz der Tiefe, in der sie liegen. Sie schimmern geheimnisvoll unter Wasser, vermooste, verrostete Wracks; Begriffe wie: Spülstein, Boiler und Bettumrandung, Usambaraveilchen und Schrankpapier.

Simone Regina Adams, 1967 im Saarland geboren, lebt in Freiburg im Breisgau. Studium der Literaturwissenschaft und Psychologie, seit 1995 Psychotherapeutin mit eigener Praxis. Sie war mehrfach Stipendiatin des Förderkreises deutscher Schriftsteller in Baden-Württemberg (2006-2013), Stipendiatin des Stuttgarter Schriftstellerhauses (2014) sowie Stipendiatin in Friedrichskoog an der Nordsee (2016). Ihr Roman «Die Halbruhigen» wurde 2011 mit dem Werner-Bräunig-Preis ausgezeichnet.

Rezension von «Flugfedern» auf literaturblatt.ch

Webseite der Autorin