Horst-Werner Klöckner «Engel auf Erden» – Scheinheilig 7

Deine Eltern können nicht kommen,» sagte Schwester Hilde, „aber ich soll dir sagen: sie haben dich ganz toll lieb!»  
Sie schaute auf ihre Arbeit, während sie das zweite Bett des Krankenzimmers neu bezog. Sein Zimmernachbar war seit gestern zuhause bei seinen Eltern.
«Sie haben dir das Christkindl geschickt, das hat dir viele schöne Geschenke mitgebracht!“
Luca schüttelte den Kopf. 
„Ich will die dämlichen Geschenke nicht!“, brach es aus ihm heraus. 
Und dann heftiger: „Meine Eltern wollen eh nichts von mir wissen!“
Es wurde ihm heiß, sein Bein quälte ihn so sehr, dass er sich auf dem Bett hin und her rollen musste. Sein Gesicht glühte, das Metall im Körper riss und brannte.  
„Mir doch egal!“
Schwester Hilde sollte nicht bemerken, dass er laut aufschreien wollte.
„Den Weihnachtsmann, den kenne ich! Aber Christkindl, was soll das den sein?“
Als sich nun Schwester Hilde Luca zuwandte, schaute er an ihr vorbei, absichtlich. Ihr Arm, gerade noch auf den Weg zu ihm, hing wie ein Stück Pappe lose an ihrer Schulter.
„Leg dich lieber doch auf den Rücken!“, sagte sie tonlos.
In Ruhe lassen sollte sie ihn!

Ein Jahr war es her, dass der Nikolaus sich vor einem in Gold getauchten Thron in Position warf. Ein dunkelroter Mantel umhüllte ihn und betonte seine große, imposante Gestalt. Er trug eine Kopfbedeckung, die wie ein robuster Pappkarton auf seinem Kopf festsaß. Mit seiner einen Hand umklammerte er einen Gehstock, der am Griff zu einer Spirale auslief. Ab und zu stieß er den Stab lässig auf den Holzfußboden.
Ein „Hört, hört!“ begleitete dieses Stampfen, das in der Aula einen Widerhall fand. Mit seiner anderen Hand winkte er über große Distanzen einigen Elternpaaren zu, die prompt lachend seinen Gruß erwiderten. Seine Lesebrille hing weit vorne dem Nasenhöcker, sie wollte nicht von seiner Nase rutschen. 
Vor ihm, auf einem dreibeinigen Tischchen lag das in schwarzem Leder umhüllte Buch, dass seit Generationen Kindern Albträume verhieß. Alle ihre Sünden des letzten Jahres wären dort fein säuberlich notiert, so hieß es.

Die letzten Familien hatten eilig noch Platz genommen, Lucas Füße pendelten während der Begrüßungsrede des Bürgermeisters hin und her, fast schien es, als wolle er wegrennen. Erst als seine Mutter nach seinen Oberschenkel griff, stoppte er die Bewegung.

Dann endlich begann der Nikolaus die verpackten Geschenke unter den aufgerufenen Kindern zu verteilen. Er tat das natürlich nicht, ohne zuvor im „Sündenbuch“ zu blättern. Nachdrücklich belehrte er die Kinder. Erst dann durften sie abtreten.

So reihte sich Kind an Kind. Auch wenn der Nikolaus wirklich schlimme Taten in diesem Buch fand und sie mit vorwurfsvoller Stimme vortrug, gab es doch kein Kind, das ohne Geschenke die Bühne herabstieg. So mussten zwei Brüder mit heißen Ohren hören, dass sie viel Geld aus dem Portemonnaie ihrer Tante geklaut hätten. Sie wurden fast unsichtbar, so tief sanken ihre Köpfe zwischen den Schulterblättern, und doch bekamen sie beide einen neuen Rucksack voller von weiteren Geschenken. Und ein Mädchen mit einem geflochtenen langem Zopf verließ die Bühne, auf der sie ihre Mutter zuvor geschubst hatte, nur mit einer kleinen Schachtel. Dabei war ihr einzige Sünde, dass sie morgens immer noch so müde war und deshalb manchmal den Schulbuss verpasste.      

Als Luca nun endlich auf die Bühne stieg, fröstelte es ihn. Vielleicht würde doch noch rauskommen, dass es seine Idee war, die gehbehinderte Kunstlehrerin „Hinkebein“ zu nennen; waren die Kinder unter sich, wurde sie nur noch so genannt.

Oben auf der Bühne griff der Nikolaus seine Schultern und drehte ihn zum Saal.
Luca senkte den Kopf und erblickte die Füße des Nikolaus. Der trug alte, ausgelatschte Straßenschuhe. An den Knöcheln sah man die ausgefransten Enden seiner Jeans. 
„Du bist also Luca! Wollen wir doch mal sehen, was das Buch über dich erzählt!“
Wie von ferne hörte er den Nikolaus sprechen. Er hätte wohl genascht und sich mit seinem Freund Alex gestritten, sagte der gerade. Er lobte ihn sogar, er wäre so hilfsbereit zu der alleinstehenden Nachbarin gewesen und hätte ihr täglich Kohlen aus dem Keller geholt. 
Luca atmete tief ein und bemerkte, dass der Nikolaus beim Sprechen ein wenig spuckte und es kleine Tropfen auf den Boden regnete; und er roch nassen Zigarettenrauch. Der Nikolaus reichte ihm seine Geschenke. Die Ski, die er sich so gewünscht hatte, waren nicht dabei. Er trug die Geschenke, als wären sie eine Last, und mühte sich zu seinem Platz!
„Der Nikolaus trägt Jeans!“ flüsterte er leise seiner Mutter zu. Sie hörte ihn nicht und strahlte ihn an.

Und jetzt erzählen mir alle vom Christkindl! 
«Ich bin doch nicht blöd!», entfuhr es Luca, „die lügen doch!“   
Er musste so schimpfen, um nicht an seinen Gedanken zu ersticken. Im Fernsehen lief ein alter Film, er bemerkte es gar nicht. Schwester Hilde saß im Schwesternzimmer und bereitete die Medikamentenausgabe vor. Luca pustete die Luft gegen seine Lippen, dass sie brummten, als liefe er auf Schienen. Mit der Eisenbahn war er er schon unterwegs zu Oma.

Als er das Glöckchen auf dem Flur klingen hörte, warf er seine Turnschuhe und seine Zahnbürste in seinen Rucksack. Er klemmte sich beide Krücken unter einen Arm, dass er schneller vorankam und hüpfte auf seinem gesunden Bein, so schnell er konnte, in den leeren Flur und dann um die nächste Ecke. Von dort schaute er aus dem Schatten auf den Flur. 
Es dauerte nicht lange. Erst stellte sich ein dunkel  gekleideter Mann vor die Tür des benachbarten Zimmers und zog sich eine Kapuze über den Kopf. Ob das Knecht Ruprecht war? Kurze Zeit später kam eine Frau in einem weißen, bestickten Kleid zu dieser Figur gestürmt. Ihre langen, goldenen Haare glänzten in Flurlicht, ihr Gesicht und ihre Hände waren tiefbraun. Sie zupfte ihre Kleidung zurecht und schob ihre Haare zurecht. Die beiden nickten sich zu und der Mann bollerte an die Tür. 
Und das soll das Christkind sein? Luca zog die Luft ein, das war ja gar kein Kind! Alles Lüge!

Die Suche nach Luca und dauerte jetzt schon zwei Stunden. Er konnte ja mit seinem gebrochenen Becken und den Metallplatten an Unterschenkel nicht weit gekommen sein, so dachte man. Aber als er auch nach 1 ½  Stunden nicht aufzufinden war, informierte der diensthabende Oberarzt die Polizei. Sie wollte gleich kommen und einen Spürhund mitbringen.

Luca lag dieweil die ganze Zeit in einem der fahrbaren Wäscheschränke. Um die Weihnachtstage herrschte in der Wäscherei nur ein Notbetrieb, die Wäsche wurde nur alle  zwei Tage abgeholt. Hier türmten sich jetzt zerknüllte, schmutzige Laken und Bettbezüge. Ganz nach hinten war er gekrochen. Zweimal wurde die Tür geöffnet, er hielt die Luft an. Doch keiner suchte den Wagen gründlich ab. Wer würde sich schon unter dreckiger Wäsche verstecken?
Irgendwann hörten die Geräusche und die Rufe auf. Lucas Wangen glühten, das Schlucken schmerzte. Zuerst waren die Handtücher ja noch weich und warm. Doch dann wurde ihm zunehmend kalt. Und der Hunger nagte. Den Schokoriegel hatte er schon längst aufgegessen. Es wurde Zeit weiter zu ziehen. 
Er drückte die Tür des Wäscheschranks auf und schaute sich um. In den Keller wollte er, da war bestimmt keiner, der ihn dort jetzt noch suchte. Auf der Rückseite des Krankenhauses befand sich ja das große Garagentor. Von da wollte er zum Bahnhof laufen. Vielleicht konnte er auch, etwas zu essen, abstauben. Und dann würde er zu Oma fahren.           
Erst im Treppenhaus bemerkte er, dass er eine Krücke im Schrank vergessen hatte. Die Kellertreppen waren steil, die Gänge nur noch schwach beleuchtet und eng. 
Keiner kam ihm entgegen, keiner arbeitete mehr noch in den Kellergängen des Krankenhauses.
„Wir lagen vor Madagaskar und hatten die Pest an Bord!“   
Ganz leise sang er das Lied; es half ihm, mutig zu sein. Irgendwie, so tröstete er sich, wird der Gang zum Garagentor führen. Sein Bein tuckerte unentwegt, der Kopf wurde immer schwerer, die Hände brannten  Es kostet ihm viel Kraft, auf einem Bein vorwärts zu hüpfen oder das andere nachzuziehen. Zwei, dreimal versuchte er die Türen im Gang zu öffnen, um sich zu verstecken und auszuruhen. Sie waren verschlossen. Die Strecken, die er hinter sich brachte, bevor er eine Pause einlegen musste, wurden immer kürzer. Die Pausen immer länger. Irgendwann musste doch mal der Ausgang kommen. 
Er fror und schwitzte zur gleichen Zeit. Das Schlucken schmerzte. Nur ein wenig ausruhen und sich auf den Boden ablegen, dachte er, nur mal ganz kurz sitzen. Dann   wäre er wieder frischer. Halb rutschte er und halb stürzte er auf den Kellerboden. Kalt, dunkel und unheimlich war es. Liefen dahinten nicht zwei Ratten über den Gang. Und dann hörte Luca ein Bellen, schnell griff er nach seiner Krücke, seiner Waffe;  sie sollte ihn vor gefräßigen Tieren schützen. Er war allein! Und auf ihn warteten die Wölfe!
„Sollen sie doch nur kommen!“ 
Und schon zog er sich weiter bis zur nächsten Ecke! Bis dahin wollte er es schaffen. Seinen Rucksack, den hatte er liegengelassen.

Auf einmal: ein kühler Luftzug, der ihm entgegenwehte.
Noch ein kleines Stück und der Gang weitete sich, es wurde heller und ganz von ferne hörte er den Straßenlärm.
Und mutig schaute er um die Ecke. Tatsächlich, dort war der Ausgang nach draußen, das Tor hoch gezogen und dann sah er sie. Sie saß ganz in Weiß auf einem großen Metallkasten nahe der offenen Tür, die in die Nacht führte. Die goldene Perücke lag neben ihr und sie rauchte. Sie hatte ihn sofort bemerkt, blieb aber sitzen und lächelte ihn zu. Auch Luca lächelte trotz seiner Erschöpfung; sie kam ihm so vertraut vor. Und er wagte sich näher. Sie rückte ein wenig, um ihm Platz zu machen. Er blieb vor ihr stehen, sein Atem wollte nicht ruhiger werden: schön war sie, schwarze Haare, braune Haut, viele Falten um die Augen. Sie sah aus wie ein Engel nach der Arbeit.

«Bist du nicht das Christkind?» fragte Luca. 
«Ja!» sagte sie, verschluckte sich am Zigarettenrauch und musste husten.
«Und ich bin der Weihnachtsmann!» 
Jetzt prusteten beide und lachten laut auf.
«Kann ich mal ziehen?» fragte er weiter und ließ sich neben sie fallen.
«Nein!» sagte sie und drückte die Zigarette aus. Jetzt sah er es, sie hatte einen schönen  dunkelbraunen Teint, aber sie hatte auch viel mehr Falten als seine Oma. Sie war nicht mehr jung.
«Du erzählst niemanden, dass ich hier rauche?» 
Er schüttelte den Kopf, nie würde er das tun. 
«Manchmal brauche ich eine Auszeit!», seufzte sie. 
Dann sah sie Luca an. Sie legte ihren Arm um seine Schulter; die Arme seiner Mutter fühlten sich viel schwerer an.
«Du bist tatsächlich abgehauen!» stellte sie kopfschüttelnd fest und als sie über seine Stirn strich, weinte er. Er wusste nicht, dass Tränen so warm sein konnten. Sie nahm seine Hände, hielt sie für eine Weile fest und half ihm dann auf. 
„Ich bring dich nach oben!“
Luca wehrte sich nicht
„Bist du ein Engel?“, fragte er.

Als er endlich in seinem Zimmer lag, schlief Luca sofort ein.  
Früh am nächsten Morgen musste Schwester Hilde Fieber messen, Luca wurde wach. Auf seinem Nachtschränkchen stapelten sich einige verpackte Geschenke. Die Sonne schien in sein Gesicht. Er erinnert sich an ihren braunen Teint mit den vielen Fältchen, an ihre Perücke und an den Zigarettenrauch. 
Und auf einmal wusste er, warum ihm ihr Gesicht so vertraut war. Als er nach dem Unfall wieder die Augen öffnen konnte – sein Kopf brummte im Schmerz – da war sie es, die sich über ihn beugte. 
«Es ist alles gut», hatte sie ihm gesagt und ihn angestrahlt. Ihre dunklen Haare berührten seine Wangen und sie waren ganz weich wie Katzenhaare. Sein Kopf fühlte sich so kühl an. Er lächelte  und schlief unter all den Geschenken ein.

Es war schon abends, als Luca endlich aufwachte.
«Wer war die Frau, die mich in der Nacht hochgebracht hat?» fragte er, noch nicht ganz wach, Schwester Hilde, «ich mag sie!» 
«Ach, das war Marga, sie ist ein wahrer Engel, ein Schatz!“, sie hob den Kopf.
„Es gibt nur noch wenige von ihrer Art!» Luca nickte, „Engel müssen manchmal ganz schön müde sein!“
„Ja“, sagte Schwester Hilde und sah ihn lange an. 
Warum hatte Schwester Hilde Tränen in den Augen?

© leale.ch

Horst-Werner Klöckner, 1952, hat Philosophie und Deutsch studiert, arbeitete als Pfleger, Physiotherapeut und Osteopath, war  Lehrer für Physiotherapie und für Osteopathie unterwegs, als Osteopath immer noch beschäftigt. 2011 Erzählung „Alles ist gut!“ vom Literaturhaus Zürich als beste Geschichte zum Thema „Familie“ im August 2012 prämiert. Blurb“, aus dem Lesebuch „Autorenträume“: Petra Hartmann & Monika Fuchs (Hg.).

Scheinheilig 1 – 7 sind ausgewählte Weihnachtsgeschichten, prämiert mit einer Zeichnung der Künstlerin Lea Le.

Gabriela Cheng-Voser «d frau mit em bürzi» – Scheinheilig 6

d frau mit em bürzi

was nöd bruchsch
sind diä lüüt 
wo dir säged
so gahts nümm
als ob du das
nöd sälber wüsstisch

din geischt isch
am schimmlä
s herz en lumpä
wirsch s überwindä müessä 
dis verlotteretä ich
wo dir zämezimmeret häsch
wiä das halt passierä chan
wänn dis dähei i dä 
looser-truppe isch

bisch vellecht lätz i dä familiä 
tiggisch im falschä takt
s mag si dass du 
kei frage schtellsch
wänn en mänsch dis herz eroberet
es isch wiit und offe
in en raschter zwänge
laht sich s herzchlopfä nöd

nur du weisch um das
was du ushaltä muäsch
häsch afah lüga
um z verzellä 
was gern ghört wird vo dir 
dich um jedä 
schtacheldraht
gwundä

häsch dir dänkt 
i machä nachä
was guet aachund
be denä lüüt 
wo dir gseit händ
da chan mer nüt machä
da muäsch du durä
das isch halt äso

bisch immer meh
is trudle cho
dini psychä 
hanged i fätzä
niemert überraschts
scho klar
mit so emene 
schräge charakter

jedä schiint z wüssä
wer du bisch 
nur nöd du 
dä gedankä 
isch der au 
scho cho
öbs ächt chönti sii
das d lüüt dich 
mit sich sälber 
verwächslet

dähei isch vell diskutiert wordä
über das was du nöd bisch und chasch
s hät einiges gäh
wo du vo dir 
zeigä hesch wellä
was diis gsi wär
isch nöd 
d usbildig gsi
bim kolleg vom vater
im reisebüro
wo im chef sin chiifer 
so sältsam gschnapped hät

de chefin ihri blick
händ dich zum biberä bracht
häsch s nöd emol meh packt
d proschpäkt z büschelä 
– eggli of eggli – 
wiä sie s hät wellä

dringend gsuächt
häsch nach em exit
d türe aber nöd gfundä
abä gumpä 
häsch au 
vo nienäd 
wellä
anerbote hät sich en option
vo dere du ghört häsch 
si machi dicht

vo null of hundert
häsch dich gfühlt 
als öb verpackt wärsch
inerä watte 
met emene panzer gäge alles 
was vo ussä inä chund

highly untouchable 
häsch du gmeint
sigisch worde
s isch dir alles am arsch vorbii

dis ich
wo nöd 
du gsi bisch
hät sich 
schicht für schicht
verchleided

jetzt sitzisch uf dem bänkli
irgendwo am fluss
vo dir gflüchted sind alli
wo dich
no cool 
gfundä händ
isch doch geil 
händ sie gmeint
chli zue zäme z hockä
bis dis herz s erschtmol
schtill gschtandä isch

im schpital hät de dökti sini schtirnä g runzled
abschuum wie du hät em notfall nüt verlorä
da git s anderi wo eusi hilf meh verdiened
mir händ wichtigers z tuä 
als lumpepack z reanimierä
bös bisch ihm nöd gsi
häsch scho längschtens verschtandä
wiä wärtlos du bisch
belämmeret häsch dich aahgleit
bisch dänn no go schaffä 
häsch ghofft 
s langarm ti-schi 
verrutschi nöd

uf dem bänkli 
irgendwo am fluss
risset d monschter 
wie verruckt
a dinä 
schlotternde 
chnochä
öppis chrücht 
dir dur dä buuch 
naged am fleisch
wo vo dir 
no übrig isch

en mänsch wär guät
dänksch für en momänt
wo mit dir schwiigt
und doch ghörsch ihn sägä
dass du nonig verschwundä bisch

häsch kei ahnig wiä 
lang si scho näbä dir sitzt 
d frau mit em bürzi
sie packt en chuechä uus 
und warmä tee
nimmt dini hand 
du zucksch es bitz
weisch nöd so rächt
was etz söllsch machä

da seit si liislig
lass alles lah gah 
nur nöd dich
wenn du das 
möchtisch
zeigt sich dir 
diä chraft
wo en schtohufmänsch 
us dir macht

muesch numä eis wüssä 
seit sie wiiters
dass dis ändi 
au wieder 
din aafang isch

ich weiss – 
a dich z glaubä
fallt dir schwer
han kei ahnig 
wer du bisch 
worum s mit dir
so isch wiä s isch
lass alles la gah nur nöd dich
chönntisch eini vo denä werdä 
wo weiss was würklich wichtig isch

bisch nöch am lätschä 
so fescht hät sie dich tüpft
d frau mit em bürzi
wo die ganzi nacht be dir blibä isch

häsch dich uufgrapplet
afah probierä
obenabä z cho
häsch meh als einmol
en aalauf brucht
um diä hordi vo affe z vertriebä
wo i dir grumoret hät

dänn
irgendwänn 
isch s passiert
öppis 
psychodelischs
esoterischs
spirituells…
häsch luscht übercho
unbändigi luscht
ufs läbä 
d wärmi i dir gfundä
um z akzeptierä
was lätz gmacht häsch
siither bisch am werde

lass dich nöd beirre 
vo denä 
wo meined
hegisch dä zug 
scho längschtens verpasst
dä zug bisch du
und er fahrt los
wänn dis ändi 
au wieder 
din aafang isch

lass alles lah gah nur nöd dich – hät d frau mit em bürzi gseit.

© leale.ch

Gabriela Cheng-Voser, schreibt vor allem in Mundart lyrische Texte, 2022 mit «Acht Gramm» in der Shortlist des 27. Deutschen Kurzgeschichtenwettbewerb, 2022 Literaturblatt.ch „gluät of dä huut“, unschöne Weihnachtsgeschichten, 2023 «Realisierbar Steinen», erstmalige musikalisch untermalte Lesung im Duo Iggy&Nic, 2024 Texte von 10 Autor:innen zum Thema „Generationen“.

Scheinheilig 1 – 7 sind ausgewählte Weihnachtsgeschichten, prämiert mit einer Zeichnung der Künstlerin Lea Le.

Flavia Naef «Beinah» – Scheinheilig 5

Deine rechte Hand liegt auf der Schulter der Person vor dir. Der Mantel ist leicht nass, deine Finger sammeln die Wassertropfen wie Perlen auf. Du tastest dich der Schulter entlang bis zur weichen Kuhle. Die Schulter schüttelt sich. Du legst deine Hand wieder auf den knochigen Teil.
Nur langsam geht es vorwärts. Du spürst die Wärme der anderen Menschen, ihre Arme stossen an deinen an, entfernen sich wieder. Es wird eng, du musst dich abdrehen, die Schulter vor dir entwischt, du streckst deinen Arm weiter aus, findest das bekannte Material mit den Fingerspitzen. Du möchtest sagen, dass sie warten soll, doch da stösst jemand mit dir zusammen, eine Stimme murmelt «Entschuldigung», du erwiderst «Macht nichts» und windest dich weiter zwischen den Menschen hindurch, immer kurz davor, die Schulter vor dir unter den Fingern zu verlieren.
Du riechst Orange, Wein, Zimt, Anis und Raclette. Du riechst die nassen Kleider und den kalten Zigarettenrauch, der den Menschen nachhängt wie ein heimlich festgemachter Schal. Hohes, schallendes Lachen von links, du verziehst das Gesicht. Jemand tippt dir auf die Schulter, du drehst dich ein wenig zur Seite, während du in Minischritten weiter vorwärtsgehst.
«Oh … sorry, hab Sie verwechselt», sagt eine Stimme. Du hörst das leichte Erschrecken, das Unbehagen in der Pause nach dem «Oh».
«Macht nichts», sagst du wieder und wendest dich ab. Du stolperst über etwas, vielleicht eine Kabelbrücke, und brauchst beide Arme, um das Gleichgewicht zu halten. Als du die rechte Hand ausstreckst, ist da keine bekannte Schulter mehr, nur fremde Rücken, fremde Materialien. Du merkst, wie sich die Leute vor dir umdrehen und dir Platz machen. Niemand spricht, aber du weisst, dass du angeschaut wirst. Eine unangenehme Wärme wächst in deiner Brust, öffnet sich wie die Blüte einer giftigen Pflanze. Du willst endlich raus aus diesem Wintermantel, wie weit kann es denn noch sein, wie viel länger musst du das aushalten? Du stehst still, atmest deine Wut in die geballten Fäuste. Wieso sagt denn niemand was?
Plötzlich nimmt dich jemand in die Arme, umschliesst dich ganz, schirmt dich ab. Feine Locken kitzeln dein Gesicht.
«Bist mir wieder fast entwischt», sagt die Stimme, die sich durch dein Leben zieht wie ein roter Faden.
«Aber nur fast», entgegnest du und lächelst in die Locken hinein. Sie riechen nach Lavendel und Zitrone.

© leale.ch

Flavia Naef, 1991, arbeitet seit jeher mit Sprachen und Büchern. Zurzeit besucht sie den Lehrgang Literarisches Schreiben an der Schule für Angewandte Linguistik in Zürich.

Scheinheilig 1 – 7 sind ausgewählte Weihnachtsgeschichten, prämiert mit einer Zeichnung der Künstlerin Lea Le.

Ruth Geiser «Stehvermögen» – Scheinheilig 4

Lukas trottete durch den nassen Schnee zur Schule. Schon durchlöcherten fette Tropfen den frisch gefallenen Schnee.
Lukas hatte ein flaues Gefühl. Mathematik stand zuerst an.
Letzte Nacht hatte er von einem Lager geträumt, in dem Menschen mit mathematischen Formeln gefoltert wurden.
Das milde Lächeln auf den Lippen des Mathelehrers, als er Lukas den Test zurückgab, liess nichts Gutes ahnen. Ohne das Resultat anzuschauen, stopfte Lukas die Klassenarbeit in die Mappe und beugte sich wieder über sein Heft.

Am Mittagstisch sagte Mutter mit faltiger Stirn zu ihm: „Wir müsssen reden!“ Lukas duckte sich über den Teller. Bestimmt wollte sie wissen, was er in Mathe geschrieben hatte.
Sein Brustraum wurde freier, als sie sagte: „Du musst heute unbedingt aufräumen. Wie dein Zimmer aussieht, ist mir egal, aber im Wohnzimmer und auf der Treppe möchte ich mit der Weihnachtsdeko beginnen, und ich will nicht erst deinen Mist wegräumen.“
„So, so, wenn ich etwas hinlege, ist es Mist und wenn du dasselbe tust heisst es Deko!“ sagte Lukas und fühlte sich schlagfertig. Aber im Grunde freute er sich auf Weihnachten mit allem, was dazugehörte.

Lukas konnte stundenlang auf dem Teppich liegen, einer Figur nachsinnen und davon träumen, wie sie sich durch die Welt schlug. Früher mochte das einer seiner Zinnsoldaten sein oder Superman persönlich. Heute suchte er sich erwachsenere Figuren im Internet oder in einer Zeitschrift aus.

Und plötzlich kam ihm Josef in den Sinn und blieb, ja der Josef von der Krippe. Lukas wollte ihn verscheuchen. Biblische Figuren mit ihren Problemen und Sorgen, das war ihm nicht geheuer.
Aber Josef war nicht wegzudenken, er blieb und stellte sich, soweit es seine wallende Kleidung erlaubte, breitbeinig auf und fiel in eine Klage.
„Ich weiss nicht, warum ich hier mit von der Partie bin. Maria hat jetzt dieses Kind auf die Welt gebracht. Vorher wäre es ein starkes Stück gewesen, sie zu verlassen.
Aber jetzt ist das Baby da, dessen Vater ich nicht sein kann und alle behandeln mich so höflich und betonen, was für ein grossmütiger Mensch ich sei. Aber hinterrücks reissen sie Witze und lachen über mich: „Ein Kuckuckskind! Und dieser Josef tut so als ob es sein Augapfel wäre!“
Meine Nächte werden in Stücke gerissen durch Geplärre und überall ist dieser Gestank der schmutzigen Windeln.

Tagsüber dauernd Besuch und Jesus hier und Maria dort. Ich weiss nicht, Lukas, ist dir schon mal aufgefallen, Maria sitzt neben der Krippe, das Jesuskind liegt im warmen Heu, die Schafe ruhen überall mit angezogenen Beinchen. Nur ich stehe und stehe und stehe mir die Füsse wund!
Zum Glück habe ich meinen Stab, an dem ich mich aufrecht halten kann. Aber auch der bietet mir keine Sitzgelegenheit. Gestern, wie ich so übermüdet an ihm hänge, fiel mir noch etwas auf, Lukas! Ich bin der Einzige in meiner Familie, der nicht heilig ist!

Wenn ich ein bisschen mehr Energie hätte, würde ich mich aufmachen und unverzüglich in meine Zimmerei zurückkehren.“
Lukas glaubte sich zu erinnern, dass der Josef der Krippe, die an Weihnachten unter dem Baum stand, sehr wohl einen Heiligenschein hatte, aber er mochte dem klagenden Josef nicht widersprechen. Nicht, bevor er die Sache gegoogelt hatte.
Google wusste es natürlich.

Josef wurde nie offiziell heilig gesprochen, aber im Jahr 1870, als das Bewusstsein der Arbeiterschaft erwachte, machte auch der Vatikan sich Gedanken über die wachsende Bedeutung dieser Schicht. Arbeiter waren in der Heiligen Schrift rar. Das machte die Geistlichkeit ratlos. Schliesslich wurde dem Papst zugetragen, dass Josef ein Zimmermann und damit ein Arbeiter war!
Er wurde stracks zum Schutzpatron der Gesamtkirche gemacht und von diesem Zeitpunkt an, wurde er konsequent „der heilige Josef“ genannt.

Für Lukas gestaltete sich diese Sachlage schwierig. Wie sollte er Josef Trost zusprechen, wenn er tatsächlich tausendachthundertsiebzig Jahre auf eine angemessene Stellung hatte warten müssen und diese ihm auch nur gewährt wurde, weil die Zeichen der Zeit dazu drängten?

Bei ihrem nächsten vertraulichen Treffen informierte ihn Lukas Google gemäss über den Stand seiner Heiligkeit.
Er vermied es allerdings eine Jahreszahl zu erwähnen.
Josef runzelte die Stirne und schaute Lukas mitten ins Gesicht.
„Lukas, ich weiss, du stehst mit Mathe auf Kriegsfuss, aber du darfst die Zahlen nicht dermassen vernachlässigen!“
Lukas wurde bleich. Er fühlte sich ertappt. Trotzig erwiderte er: „Ich versuche dich zu trösten und du erinnerst mich skrupellos an meine grösste Schwäche.“
Josef lächelte. „Deine grösste Schwäche ist nicht die Mathematik, sondern, dass du dem Leben nicht vertraust.
Du bist ein toller Junge und solltest der Realität ins Auge schauen. Mathe, Zahlen und Prüfungen gehören dazu.
Von meinem Beruf weiss ich, dass Zahlen eine Schönheit haben. Sie sind für die Anmut der Bauten verantwortlich und machen die Musik unseres Universums.“

Während Lukas am nächsten Tag an seinen Hausaufgaben sass und es ganz zufällig Matheaufgaben waren, musste er an Josefs Lob der Zahlen denken und er versuchte etwas von ihrer Schönheit zu erhaschen.
Endlich fand er den Mut, sich mit der Note unter seiner letzten Arbeit zu konfrontieren.
Es war eine 4, das war keine gute Note, aber Lukas hatte Schlimmeres erwartet und war erleichtert.

Heiligabend!

Der Baum war geschmückt, die Krippe ausgepackt und arrangiert, da ging ein Schrei durch die Wohnung. Er kam aus dem Wohnzimmer, wo Mutter mit hängenden Armen stand.
„Was ist los?“
„Josef fehlt!“
„Mach dir keine Gedanken!“ sagte Lukas. „Er wird an seiner Arbeit in der Zimmerei sein.“
Mutter schaute Vater mit einem schiefen Lächeln an und rollte ihre Augen.
Beim Essen piekste Lukas etwas in sein linkes Bein.
Er entschuldigte sich, ging aufs Klo und fand dort, er hatte es geahnt, Josef in seiner Hosentasche. Sein Stab hatte ihn ins Bein gestochen.

„Was machst du hier?“
„Ich brauchte eine Auszeit.“
„Wo ist dein Heiligenschein?“
„Ich musste daran denken, was ich dir gesagt hatte, von wegen der Realität ins Auge schauen und ging dann zu einem Schweisser, der schweisste ihn weg“
„Warum wolltest du ihn loswerden?“

„Ach Lukas, ich dachte mir :
Ohne Heiligenschein bin ich wenigstens kein Scheinheiliger!“

Lukas hielt seine beiden Hände offen wie eine Schale, so trug er Josef ins Wohnzimmer, stellte ihn in die Krippe neben das Jesuskind zwinkerte ihm zu und sagte zu seinen Eltern: „Ich habe Josef auf dem Flur getroffen, er hatte sich eine Auszeit genommen.“

© leale.ch

Ruth Geiser, 1956, Ausbildung zur Primarschullehrerin, ab 1983 Studium an der Universität Zürich, 1984 Diagnose Parkinson, 1989 Abschluss in Geschichte, Anglistik und Europäische Volksliteratur, 2005 Aufgabe der Berufstätigkeit aus gesundheitlichen Gründen. Sie schreibt Gedichte, Kurzgeschichten, sowie autobiografische Texte.

Scheinheilig 1 – 7 sind ausgewählte Weihnachtsgeschichten, prämiert mit einer Zeichnung der Künstlerin Lea Le.

Daniel Zahno «Der Reißverschluss» – Scheinheilig 3

Es war immer dasselbe: Das Futter der Jacke geriet in den Reißverschluss, und der ging nicht mehr hoch noch runter. Das Problem hatte er bei verschiedenen Jacken, bei der grünen Übergangsjacke war es jedoch besonders schlimm. Er wollte an der Kasse bezahlen, das Portemonnaie steckte in der Jackentasche, der Reißverschluss klemmte, und er stand dumm da. Verzweifelt versuchte er, das Futter aus dem Schieber zu fummeln, in dem es sich derart verfangen hatte, dass die winzigen Zähnchen blockiert waren. Aber er konnte zerren und ziehen wie er wollte, das Futter kam nicht heraus. Entschuldigend lächelte er der Kassiererin zu, während die Schlange hinter ihm länger und länger wurde. Betreten wich er zur Seite zu einem Weihnachtsstern und ließ die hinter ihm Stehenden vor. Er zog die Jacke aus, um besser am Reißverschluss nesteln zu können, doch der bewegte sich keinen Millimeter. Das Futter war im kleinen Spalt zwischen Ober- und Unterteil des Schiebers gefangen. Wenn er zu fest riss, machte er die Jacke kaputt, wenn er zu wenig zog, tat sich nichts. Eine gutaussehende Frau trat auf ihn zu und fragte, ob sie ihm helfen könne. Sie war ihm bei den Geschenkkörben schon aufgefallen, sie hatte ihn mit warmen Pastaaugen angesehen. Verlegen nickte er und sagte, der Zipper sei eingeklemmt. Er reichte ihr die Jacke, deren Futter sie mit einem einzigen geschickten Griff löste, so dass sich der Reißverschluss ritsch ratsch öffnete. Sie schenkte ihm ein schönes Lächeln. Er war überwältigt, nicht vom Reißverschluss. Zu dem Trick griff er, wenn er jemanden kennenlernen wollte und es ihm an dem mangelte, was Frauen so perfekt beherrschten: zipper control.

© leale.ch

Daniel Zahno, 1963 , lebte zehn Jahre in New York. Clemens-Brentano-Preis, Preis der deutschen Wirtschaft, Freiburger Literaturpreis. Stipendiat Ledig House New York, Writer-in-Residence Deutsches Haus New York University, Stipendiat Istituto Svizzero Venedig. Zuletzt erschienen: «Mama Mafia», «Manhattan Rose», «Die Geliebte des Gelatiere». Arbeitet an den Prosa-Miniaturen «Sinfonie der Flöhe».

Scheinheilig 1 – 7 sind ausgewählte Weihnachtsgeschichten, prämiert mit einer Zeichnung der Künstlerin Lea Le.

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Katharina Michel-Nüssli «Grossmutters Ikone» – Scheinheilig 2

Ein Heiligenbild baumelte an der Innenseite der Toilettentür. Jedes Mal, wenn sie geöffnet oder geschlossen wurde, schlug das Bild mit einem trockenen Ton, Holz gegen Holz, unregelmässig klopfend an die Tür und verkündete so Kommen und Gehen der verschiedenen Hausbewohner. Die Ikone stammte aus Grossmutters Familienerbe; ihre Eltern waren aus Italien eingewandert und katholisch. Ihr Ehemann hingegen war protestantisch und ein Handwerker mit Sinn für Realismus. Er hielt nichts von diesem Götzenkult, wie er es nannte, darum musste die Muttergottes mit ihrem goldenen Heiligenschein ihr Dasein als Randexistenz fristen. Spöttisch meinte Grossvater, das Bild helfe ihm beim Scheissen. Grossmutter nahm es gelassen. Wenn sie mal «musste», gönnte sie sich eine Auszeit. Sie behauptete, unter Verstopfung zu leiden, deshalb brauche sie etwas länger für dieses Geschäft. Es war der einzige Platz im Dreigenerationenhaus, wo sie sich ungestört fühlte. Nachdem sie ihre Notdurft verrichtet hatte, was nie länger als zwei Minuten dauerte, zog sie ihre Strumpfhose hoch, strich den Rock glatt und setzte sich auf den WC-Deckel. Sie murmelte ein Vaterunser, betrachtete danach die heilige Maria, die bestimmt mehr gelitten hatte in ihrem Leben als sie selbst, und fand so ihren täglichen Trost. Sie lud ihren körperlichen und seelischen Ballast ab, das ersparte ihr die Beichte, nicht aber den gelegentlichen Besuch der Messe. Der Pfarrer war ein sympathischer Mensch, bei seinen Predigten wurde ihr warm ums Herz. Sie wollte ihn aber nicht mit Peinlichkeiten belasten, das hatte er nicht verdient. Gestärkt und erleichtert verliess sie das stille Örtchen und widmete sich dem Tagewerk und den Freuden des irdischen Lebens.

Ihre Enkelin Elly kam oft hoch in den zweiten Stock und verbrachte viel Zeit bei der Grossmutter. Die Knopfsammlung im grossen Konfitürenglas war ihr Anziehungspunkt. Elly holte es aus dem Stubenbuffett. Sie liebte das Geräusch, wenn sie die Kostbarkeiten auf den Teppich leerte. Dieses leise Scheppern, wie ein Wasserfall aus Eissplittern. Sie sortierte die Knöpfe nach Farbe, Form oder Material. Den schönsten gab sie Namen. Mal waren sie Tiere, dann wieder Figuren wie Hänsel und Gretel oder Schneewittchen und die sieben Zwerge. Im selben Möbel wie die Knopfsammlung lagerte die Guetslibüchse. Wenn man nett fragte, lag immer ein Häppchen drin. Und wenn man sich bedankte, vielleicht noch ein zweites.
«Elly, du zappelst so herum», sagte Grossmutter. «Du musst gewiss auf die Toilette.» Natürlich. Es eilte. Gerade rechtzeitig schaffte es die Kleine, die sich nur ungern bei ihrem Spiel unterbrechen liess. Sie hatte die Tür so schwungvoll aufgerissen, dass ihr die Muttergottes direkt vor die Füsse fiel. Schnell machte sie Pipi. Dann nahm sie das glücklicherweise unbeschädigte Kunstwerk in die Hände und versuchte es wieder aufzuhängen. Doch der Nagel ragte für sie unerreichbar hoch aus dem Holz. Elly trug das Bild zu Grossmutter, die ahnte, was passiert war. Sie hängte es an seinen Platz zurück. «Warum hat diese Frau einen goldenen Hut?», fragte Elly.
«Das ist kein Hut, das ist ein Heiligenschein», erklärte die alte Frau. «Nur besonders fromme Menschen haben einen Heiligenschein. Solche, die an Gott glauben und nach seinem Willen leben. Das hier ist die Mutter des Christkindes. Sie hat Gott gehorcht. Darum ist sie heilig.»
«Gibt es denn heute keine Heiligen mehr?», fragte Elly.
«Warum meinst du?»
«Ich habe noch nie jemand mit diesem Goldkranz am Kopf gesehen.»
«Das sieht man eben nicht. Man spürt es nur», versuchte Grossmutter zu erklären. «Komm doch zurück in die Stube. Möchtest du einen Keks?»

Immer an Heiligabend versammelte sich die ganze Sippe bei den Grosseltern. Auf Ellys Wunsch lag das Bild der Muttergottes unter dem Tannenbaum. Schliesslich würde es ohne sie keine Weihnachten geben, war ihre Erklärung. Nach ein paar Liedern wurden die Kerzen angezündet. Eine andächtige Ruhe legte sich auf die Gesellschaft. Elly kniff die Augen zusammen. «Schau, Grossmutter!», rief sie entzückt. «Die Kerzen haben einen Kranz. Sie sind alle scheinheilig!»

© leale.ch

Katharina Michel-Nüssli, 1964, war früher Primarlehrerin, ist heute freiberuflich tätig. Ihr erstes Buch «Sommersprossen und Kondensstreifen» enthält Kurzgeschichten, Miniaturen und Gedichte. Bisher hat sie bei der «Goldenen Schreibfeder» in Bischofszell TG zwei Preise für ihre Texte gewonnen. Der Text «Feierabend» erschien in einer Anthologie. «Heimweg» wurde vom Schulmuseum Amriswil prämiert. Erstmals plant sie ein Schreibprojekt über Kindheitserfahrungen ihres Vaters und seiner Geschwister.

Scheinheilig 1 – 7 sind ausgewählte Weihnachtsgeschichten, prämiert mit einer Zeichnung der Künstlerin Lea Le.

Béatrice Bader «Heiliger Schein» – Scheinheilig 1

Ana sammelt Heiligenbildchen. Eigentlich wollte Kunstgeschichte studieren, aber weil ihr das zu anstrengend erschien, begann sie, Kirchen zu besuchen. Die Heiligenbildchen, welche sie dort in den Gebets- und Gesangsbüchern findet, nimmt sie mit.

Ana wohnt im dritten Stock eines einfachen Hinterhauses. Die Sonne scheint jetzt im Dezember immer nur während weniger Stunden am Tag durch die beiden halbblinden Fenster von Küche und Stube. An der dem Fenster gegenüberliegenden Wand lehnt ein alter Sekretär mit aufgeklappter Lade, in der Mitte des Raumes steht ein rechteckiger Holztisch, bedeckt von einem Stapel ungeordneter Heiligenbildchen, als hätte ein, ob all der auf dem Tisch versammelten geballten Heiligkeit aufgebrachter Windstoss sie kräftig durchgewirbelt. Eine nackte Glühbirne schaukelt sacht über dem Tisch hin und her und lässt die Schatten der beiden Stühle kaum wahrnehmbar in ihrem Licht tanzen.

Ana hält sich einen Hasen, um nicht allein zu sein. Eigentlich ist es ein Kaninchen, aber weil Ana den Hasen von Albrecht Dürer liebt, nennt sie ihn Hase. Sein Fell ist nicht braun mit wenig weiss wie das des Hasen auf dem Bild, sondern schneeweiss und flauschig.  Es ist auch kein Feldhase, sondern ein Angorakaninchen. Ana hat es von ihrer Grosstante übernommen, als diese eine Allergie gegen die Kaninchenhaare entwickelte. Ana hebt Hase auf ihren Schoss und streichelt ihn zwischen den Ohren. Dabei betrachtet sie die durcheinanderliegenden Heiligenbildchen. Unter dem Tisch warten in einer Holzkiste unzählige kleine Bilderrahmen.

Als Ana nach Hause kommt, ist es bereits später Nachmittag. Bald wird es dunkel sein. Die halbblinden Fensterscheiben blicken scheinheilig, so als ob sie nicht sehen würden, was auf der Strasse geschieht. In Anas Träumen hoppeln Hasen zwischen den Rädern fahrender Autos hindurch, die Häuser sehen weg. Ana zündet eine Kerze an, ihr Lichtschein spiegelt sich im Fensterglas und winkt ihr zu. Sie sieht ihr eigenes Spiegelbild und wünscht sich, es würde sich zur ihr auf den leeren Stuhl setzen und ihr für ein paar Stunden Gesellschaft leisten wie eine Freundin.

Ana sortiert die Heiligenbildchen nach Motiven – es gibt viele heilige Männer und nur wenige Frauen – und legt sie auf der Schreibfläche des Sekretärs aus. Danach ordnet sie aus der Holzkiste ein Holzrähmchen nach dem andern, jedes in der Grösse zu einem Bildchen passend. Die kleinen leeren Rahmen hängt sie wie es kommt an die Tapetenwand über dem Sekretär. Mit glasig leerem Blick starren sie auf Ana, sehen zu, wie diese weiter die Bildchen sortiert. Scheinheilig, denkt Ana.

Als sie am nächsten Tag aus dem Haus geht, steckt sie ohne zu überlegen eines der Heiligenbildchen in ihre Handtasche. Ein bisschen Heiligenschein kann nicht schaden, denkt sie, während sie zur Bushaltestelle geht. Die rote Wintersonne steigt über die Dächer wie ein frisch gefüllter Ballon; sie wirft ihr Licht auf die Strasse zwischen den Häusern als wäre es ein blutiger Teppich. Die Menschen warten mit gesenkten Köpfen frierend an der Haltestelle.

Ana öffnet ihre Handtasche und legt das Heiligenbildchen auf den Sitz der Wartebank. Sie lässt es liegen, als sie einsteigt. Durch die Scheiben des abfahrenden Busses kann sie sehen, wie eine Frau das kleine Bild mit der Schutzheiligen nimmt und betrachtet, bevor sie es in die Manteltasche steckt.

Als Ana an diesem Abend nach Hause kommt, setzt sie sich mit Hase aufs Bett und vergräbt ihre Hände tief in dessen Fell. Dann steht sie auf und geht zum Tisch. Das Flackern der Kerze bewegt die leeren Bilderrahmen und erweckt sie zu unheimlichem Leben. Ana fühlt sich durch sie beobachtet. Sie dreht die vor ihr liegenden Heiligenbildchen um und schreibt eine Botschaft auf die Rückseite des ersten: «Wo ist dein Heiligenschein»; dann aufs Nächste: «Tu nicht so scheinhelig»; und wieder aufs Nächste: «Jetzt kommt die Nacht der Nächte». Ana stellt sich vor, wie sie im Paradies herumgeht und wie eine Heilige die Bildchen an die dort lebenden hoch erfreuten Menschen verteilt. In dieser Nacht träumt sie nicht.

Während der nächsten Wochen lässt Ana täglich ein Heiligenbildchen liegen und bringt sie mit ihren Botschaften auf der Rückseite unter die Leute. Sie sieht, wie ein Mann es findet, umdreht und das Geschriebene liest. Erschrocken schaut er mit eingezogenem Kopf verstohlen um sich, als sei er ertappt worden. Nun ist Ana nicht mehr allein mit Hase, der ja eigentlich ein Angorakaninchen ist; sie sitzt jetzt in den Köpfen der Finder der Bildchen, die gemeinsam mit ihr über die von ihr geschriebene Botschaft nachdenken. Der kalte Dezemberabend haucht Eisblumen an die blinden Fenster ihrer Wohnung. Ana sieht sie und ist glücklich.

© leale.ch

Béatrice Bader, Künstlerin und Erzählerin des Unaussprechlichen, arbeitet an der Schnittstelle von Kunst und Sprache. Ihre Werke sind wie Fenster in verborgene Welten, geprägt von einer feinen Sensibilität für das Flüchtige und das Bleibende. Ob in Bildern oder Worten – sie sucht das, was hinter den Dingen liegt, das Unsichtbare, das wir fühlen, bevor wir es verstehen. Als Autorin erzählt sie Geschichten, die den Alltag mit Poesie durchdringen, und als Künstlerin verwandelt sie Gedanken in Formen und Farben. Ihre Werke sind ein Dialog zwischen dem Innen und dem Aussen, der Stille und dem Klang. Béatrice Bader lädt ein, innezuhalten – und für einen Moment die Welt neu zu sehen. 

Scheinheilig 1 – 7 sind ausgewählte Weihnachtsgeschichten, prämiert mit einer Zeichnung der Künstlerin Lea Le.

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