Christian Uetz «Nur dieses Leben»

… und das Jenseits in der Sprache

Die Pandemie zeigt um eine Dimension deutlicher, dass Glauben im gesellschaftlichen Diskurs und im politischen Handeln keine Relevanz hat. Das verneint hier nicht, dass Gott die Sprache der Seele sein kann, die es nicht gibt. Es sagt, dass der Tod allein das Leben bestimmt, aber nicht im erregenden Sinn, sondern so, dass aus ganz sachlichen Gründen die zwischenmenschliche Distanz und der Tod der Natürlichkeit dem Tod vorgezogen wird. Das mag und wird in einer säkularen Gesellschaft das Beste sein, aber es geht hier radikal um die Feststellung, dass das Nichtglaubenkönnen der Grund ist, dass es so ist. Wohl heisst es, für Christen sei jedes Leben heilig. Aber ebenso auch das Sterben. Denn wer von der ein jenseits-von-allem innewohnenden Sprache lebt, hält sich an die Gegenwart einer in Gedanken anderen Welt, die das Denken selber ist. Dieses relativiert das reale Leben und erfährt es als verlierbar ohne Verlust. Oder sogar mit Gewinn: Christus ist mein Leben, sterben mein Gewinn (Paulus). Da dieser Horizont politisch ausgeschlossen ist, muss das Überleben mehr zählen als die sinnliche Nähe und das gemeinsam atmende Gespräch. Das lässt sich daran sehen, dass sehr viele Menschen in Alters- und Pflegeheimen jahraus- und jahrein so bitterseelenalleingelassen werden und so freudlos die Tage verbringen müssen, dass sie am liebsten sterben wollen. Durch Corona aber wurden auch die Hundertjährigen zwangsisoliert, damit auf keinen Fall jemand stirbt oder auch noch andere ansteckt. Dass das Überleben ganz sachlich auch mehr zählen muss als die Würde, zeigt sich in der Art und Weise, wie mit Covid-19 Menschen auf der Intensivstation sterben, ohne Kontakt zu den Liebsten, zu Tode isoliert schon vor dem Tode, so dass die unantastbare Würde nur noch darin bestehen kann, unantastbar zu sein. Aber das Monströseste ist die wachsende Depression und die in ihr wiederum brütende Destruktion. Auch Depression kann als ein das Leben lähmender, todähnlicher Zustand bezeichnet werden. Dieser psychische Todeszustand muss so unweigerlich in Kauf genommen werden, dass die grosse Depression die noch viel grössere Destruktion an Gewalt schürt. Umgekehrt kann Glauben als Vertrauen die Angst nehmen und bei manchen die Abwehr- und Heilkräfte stärken, wenn es nicht die Angst nur verdrängende Realitätsflucht ist. Angst auf jeden Fall macht auch krank. Die Umkehr des Johannesprologs zu  Das Wort ist Gott aber heisst für die darin sich erhellende Inexistenz, das Leben von der Begeisterung ob der Unsterblichkeit der Sprache her zu verstehen, von der Verzückung ob der jede Sekunde Unglaublichkeit des Lebens her, von der Ekstase der Liebe her, vom Lachen, vom Übermut her, von dem durch die herzzerreissende Traurigkeit des Todes hindurch zu noch herzzerreissenderer Freude Erwachen her, Pathos hin oder her. Die nur als peinlich aussprechbare Haltung der Glaubenden bleibt, sich auch auf das Sterben zu freuen, darin nichts ihnen die elende Heiterkeit und die übermütige Schwermut nehmen kann, komme da an Angst und Bedrohung, an Pandemie und Panik, was da wolle. Das mag ein Glaubensheldentum sein, hat aber nichts mit faschistischem, volksgesundheitlichem, vaterländischem Heroismus zu tun, denn es schliesst alle Fremden und Minderheiten und Schwachen nicht aus, sondern herzlich ins Jenseitsverlies der Sprache mit ein. Ist umgekehrt Sterben nicht nur das Allerletzte, sondern auch das Allerletzte, und ist es in der Sprache nicht auch ein anderes Leben, zählt nur das eigene Leben und das der Anderen vielleicht schnell nichts mehr. Aber auch ohne das Sterben zu verklären ist auch nur eine Sekunde gelebt zu haben ein Wunder, und wenn von der völligen Unwahrscheinlichkeit ausgegangen wird, überhaupt zu leben, hängt ein erfülltes Leben weniger von der Länge des Lebens als von der Art der Gegenwart ab, so dass auch mit sechzig oder vierzig oder zwanzig zu sterben die Unglaublichkeit, gelebt zu haben, nicht widerlegt. Die durch die Säkularisierung unvermeidliche Verabsolutierung des Lebens bestätigt sich auch darin, dass das immer längere Leben der klarste Sinn und das erklärteste Ziel ist, so dass hundert Jahre alt zu werden schon fast als ein allen zustehendes und zu ermöglichendes Grundrecht angesehen werden kann. Zumindest macht die Coronakrise die so unfassbar hoch gestiegene Lebenserwartung in ebenso unfassbar grosser Selbstverständlichkeit deutlich, dass vielleicht auch ein Hundertjähriger bald nicht mehr sterben kann, ohne elend vor der Zeit gestorben zu sein. Jünger sterben, überhaupt sterben ist ein Skandal. Es ist nicht nur seit Camus der Skandal schlechthin, daran wiederum nur Gott schuldig sein könnte, wenn er wäre. Und dass gestorben und gelitten wird, genügt auch zum Gegenbeweis. Und spräche auch das Nichtsein nicht gegen den zusehends weiblichen Engel, und wäre das nichtseiende Licht auch eine Sie, die Herrin Sprache, und wäre diese Herrin auch alle Sprechenden selber, so wäre sie doch der Kapitalgrund, die Gottillusion als völlig jenseits zu erledigen. Aber achtzig Jahre alt zu werden ist nicht nur historisch, sondern in Hinsicht auf manche Weltregionen auch heute noch ein grosses Glück. Es als selbstverständlich zu erwarten, bleibt unserer Vergänglichkeit gegenüber auch in noch so hochmedizinischer Wohlstandswelt verblendet. Und doch können auch viele betagte Patienten von Covid-19 geheilt werden, bei der die Sterberate immer noch um ein Vielfaches geringer ist als die an Herzversagen oder Krebs. Hoffentlich wird hier erwidert: Wenn das Sterben an Krebs durch einen Lockdown verhindert werden könnte, würde man es auch tun. Und tatsächlich zeigt sich ja nun, dass durch die viel geringeren Feinstaubwerte in den grossen Städten weniger Menschen sterben. Warum also nicht ab sofort weltweit überhaupt das Fliegen und Autofahren für immer einstellen, weil die dadurch bessere Luft viele Todesfälle verhindert und zugleich die von Klimaschäden bedrohte Erde schützt? Aber es geht hier und erst recht beim aus Lebensliebe auch Sterbenwollen darum, dass eine solche Haltung im öffentlich ernstzunehmenden Diskurs nicht haltbar ist. Auch wenn das alltägliche Leben vielleicht über Jahre ausgehebelt bleibt, kann lebensschutzvernünftig nicht berücksichtigt werden, was Corona an psychischer Not bringt: den massenhaften Spontanitätstod, Umarmungstod, Nähetod, was sich für vom leibhaft Begegnen Lebende nicht digital ersetzen lässt, auch wenn es die Lösung der Zukunft ist. Es ist denkbar, dass die vorwiegend digitale Begegnung und das Physical Distancing für die biologische Sicherheit nicht nur vorübergehend, sondern in alle Zukunft zur vorgeschriebenen Lebensweise wird. Dass sich aber auch die Kinder nicht mehr unbekümmert nahekommen und nicht mehr übermütig miteinander spielen dürfen, ist als Gedanke fast nicht zu ertragen, nicht nur, weil Kinder das kaum einhalten können, sondern weil sie es auch nicht einhalten sollen um ihrer spontansten Nähe Willen. Habermass beunruhigt, dass auch Juristen den Lebensschutz zugunsten der Selbstbestimmung relativieren. Das Leben als Lebendigkeit ist anderseits nicht nur für die vom Wort Inbrünstigen auch ekstatische Leidenschaft, dazu auch Selbstverausgabung, sich Verschwenden, sich-aufs-Spiel-Setzen, lieber-Gefahr-als-Sicherheit und Lust des Wahnsinns gehören, welchen im Diskurs der Vernunft der vernünftige Grund fehlt. Allerdings hat auch das vernünftige Sterbenkönnenpathos nur das Jenseits in der Sprache, um verstehbar zu machen, dass es nicht sozialdarwinistisch und nicht volksheroisch und nicht lebensleichtsinnig gemeint ist, sondern ganz persönlich transzendent.

Christian Uetz, geboren 1963 in Egnach in der Schweiz, ist ein philosophischer Poet und lebt in Zürich. Nach einer Ausbildung zum Lehrer studierte er Philosophie, Komparatistik und Altgriechisch an der Universität Zürich. 2010 erhielt er den Bodensee-Literaturpreis für sein bisheriges literarisches Gesamtwerk. Seine Performanceauftritte sind legendär! Nach «Nur Du, und nur Ich» (2011) und «Sunderwarumbe – Ein Schweizer Requiem» (2012) erschien 2018 mit «Es passierte» sein dritter Roman.

Beitragsbild © Mathias Bothor

Urs Mannhart «Ein Leserbrief»

Sicher hat vieles damit zu tun, dass ich nun schon eine Weile arbeitslos bin. Dass niemand einen Ingenieur brauchen kann, schon gar nicht einen, der spezialisiert ist auf Anlagen für Wärmerückgewinnung im Niedrig-Temperatur-Bereich. So dass ich ein bisschen viel Zeit habe, um Zeitung zu lesen, aus dem Fenster zu schauen und kleine Runden zu drehen auf meinem schönen alten Rennrad.
Während einer Ausfahrt in die Hügel zwischen Bern und Burgdorf fahre ich, in einem Wald hinter Bäriswil, eine Weile entlang von Tüten, Servietten, Bechern und anderem Unrat, der da, hingeschmissen von einem McDonald’s-Kunden, den Weg säumt. Als mir zwei, drei Kilometer später eine ähnliche Szene begegnet, werde ich hineingezogen in eine sonst Pubertierenden vorbehaltene Stimmung, in welcher man alle wachrütteln, zur Besinnung rufen und die Welt retten möchte.
Egal, mit welch grossen Gängen ich die folgenden Steigungen, insbesondere den ruppigen Aufstieg nach Dieterswald auch bewältige, mein Ärger über die Ignoranz gewisser Menschen und der Wunsch, mich für mehr Ökologie einzusetzen, bleiben an mir haften.
So stelle ich mich nach dieser Radtour nicht wie gewöhnlich unter die Dusche, sondern hocke mich an den Laptop und schreibe einen Leserbrief. Ich beginne mit dem Elektro-Velo, das mich in der letzten Steigung überholt hat und erwähne, dass auch ich, wäre mein Velo derart schwer, eine Batterie nötig hätte. Und dass es unverantwortlich sei, statt Körperfett zu verbrennen, mit einem unsäglichen Aufwand in China und Afrika seltene Metalle aus dem Boden zu holen, sie nochmals mit einem unsäglichen Aufwand in eine Batterie zu drücken und dann so zu tun, als wäre das Umweltschutz.
Nach ein paar Zeilen, in welchen ich hervorhebe, wie idiotisch es ist, vom Zahnbürstchen über den Rasenmäher bis zum Auto alles mit einer Batterie auszurüsten, komme ich auf den Klimawandel zu sprechen und auf die Verträge von Paris. Kaum habe ich beim Thema Massentierhaltung und Abholzung der Regenwälder argumentativ ein bisschen an Fahrt gewonnen, klingelt das Telefon; von meiner Mutter aber lasse ich mich gerne unterbrechen. Sie ist 71, hat eine schwierige Knieoperation hinter sich, wäre fast begraben worden unter einer Lawine von Medikamenten; erleichtert vernehme ich, dass es ihr deutlich besser geht. So gut geht es ihr, dass sie nun zusammen mit Vater die Sommerferien gebucht hat. Jetzt freue sie sich riesig auf Ägypten.
Ehe ich reflektiere, höre ich mich fragen, ob sie noch nie etwas von Ökologie gehört habe und ob so ein Flug wirklich nötig sei.
Meine Mutter kennt meine etwas direkte Art; dennoch scheint sie frappiert. Ihre zögerliche Erklärung, man könne ja doch nichts gegen den Klimawandel machen, erzürnt mich so sehr, dass ich auflegen muss.
Mit umso grösserem Furor führe ich meinen Leserbrief fort. Schon möglich, dass Wut in der Regel kein guter Antrieb ist, um etwas zu Papier zu bringen. Aber für mich ist dieser Zustand genau der richtige; es fühlt sich gut an, loswerden zu können, wie ignorant meine Eltern sind. Dann resümiere ich, dass viele Pensionierte zum Glück alt genug seien, um ungestraft glauben zu dürfen, der Klimawandel sei wie einst das Waldsterben nichts weiter als eine medial inszenierte Aufregung. Anderseits seien die Pubertierenden jung genug, um glauben zu dürfen, es ließe sich mit Protesten etwas bewegen, sei es auch nur das Gefühl, einer Protestbewegung anzugehören. Folglich sei es an den Mittelalterlichen, an den Praktizierenden, wie ich sie nenne, die Welt als Lebensraum zu retten: Wir dürfen nicht dumm genug sein zu glauben, wie bisher leben zu können. Wir müssen unser Leben in der Schweiz wandeln hin zu einem Stil, der einem rumänischen Provinzdorf bei Stromausfall ähnelt.
Diese Formulierung gefällt mir. Gerade weil das Wort Rumänien bei den meisten Schweizern negative Gefühle auslöst, will ich es drinhaben. Die Leute sollen endlich begreifen, dass die Zukunft unbequem wird, dass es mit der Faulheit, mit dem Fleischessen ein Ende haben wird, dass fertig ist mit warm duschen.
«Die Schweiz ist gut aufgestellt, um das Übereinkommen von Paris umzusetzen», lese ich dann auf der Website des Bundesamtes für Umwelt. Und erleide beinahe einen hysterischen Lachanfall. Die Menschen vom Bundesamt für Umwelt wissen natürlich, dass wir überhaupt nicht gut aufgestellt sind. Dass der Mensch nicht gut aufgestellt ist, bescheidener zu leben. Der schweizerische Mensch sowieso nicht. Denn welcher Schweizer, welche Schweizerin möchte weniger Kaffee? Weniger Wohnfläche? Weniger Apfelkuchen? Weniger Liebe? Wer möchte in alten Kleidern rumlaufen? Keine Butter aufs Brot? Ein lahmes Auto fahren? Zu Fuss in die Ferien? Nicht in den Mangoschnitz beissen?
Ja, die Menschen vom Bundesamt für Umwelt wissen das alles, sie dürfen es aber nicht hinschreiben. Also schreibe ich es in meinen Leserbrief hinein.
Und versuche schließlich, diesen abzurunden mit einer klaren, auf ihre Art vielleicht auch radikalen Forderung: Nicht Fridays for Future sei das Programm der Stunde, sondern Mondays for now. Mit den Protesten der Jugendlichen sei nichts falsch, im Gegenteil. Aber die Erwachsenen müssten eben antworten. Und ich schlage vor, sie sollen das tun mit einem arbeits-, auto- und flugzeugfreien Montag. In den 70er-Jahren hat doch der Bund aufgrund der damaligen Erdölkrise unserer Schweiz einige autofreie Sonntage anbefohlen. Abgesehen von ein paar Besitzern abgelegener Ausflugsrestaurants war das damals für alle eine grossartige und höchst erholsame Sache. Also empfehle ich dem Parlament, das Verbrennen treibhausgasemittierender Stoffe und das Benutzen der ökologisch ebenso bedenklichen Elektrofahrzeuge an Montagen generell zu verbieten. Rasch rechne ich vor, dass dies — mit all den leeren Autobahnen, mit Flughäfen, die für Spaziergänger und Rollschuhfahrer geöffnet sind — die CO2-Emission der Schweiz sofort runterbringt auf einen Wert, von dem aus sich die in Paris vereinbarten Klimaziele mit einigen zusätzlichen Massnahmen erreichen lassen.
Ich setze einen Punkt, notiere meinen Namen, meinen Wohnort, speichere zufrieden meine Zeilen und schicke sie, weil mir scheint, es sei trotz allem die einzige halbwegs anständige Zeitung, an die NZZ.
Drei Tage später, ich denke schon nicht mehr an diese Sache, erreicht mich eine Mail von einem mir unbekannten Mann aus Oberburg bei Burgdorf, der erklärt, er habe seinen Müll im Wald hinter Bäriswil eingesammelt; er entschuldigt sich und wünscht mir weiterhin gute Fahrten mit dem Rennrad.
Da sehe ich, dass die NZZ meine Zeilen tatsächlich abgedruckt hat. Nicht hinten, nicht versteckt bei den Leserbriefen. Sondern ungekürzt und ziemlich prominent im Wirtschaftsteil als Gastkommentar; hinter meinem Namen steht das Wort Ingenieur. In einer Mail aus dem NZZ-Sekretariat werde ich nach meinen Kontoangaben und meiner Pensionskasse gefragt. In einer anderen Mail der NZZ ist entschuldigend von einem Missverständnis die Rede; ein Redakteur drückt gewunden seine Hoffnung aus, es sei mir die Sache nicht zu unangenehm. Im Ressort Wirtschaft habe man verzweifelt auf einen längst vorbesprochenen Gastkommentar gewartet, und ein offenbar übermüdeter Blattmacher habe schliesslich geglaubt, ich sei jener Ingenieur, dessen Text man herbeigesehnt hatte. Aber ja, vielleicht sei es auch gar nicht so schlimm, meine Ausführungen seien jedenfalls erfrischend und überraschend bunt.
Ich will mich gerade fragen, ob die Worte erfrischend und überraschend bunt unter Journalisten vielleicht gemeinhin nicht als Kompliment gelten, als meine Mutter anruft und ganz aufgeregt erzählt, es seien verschiedene Mails bei ihr eingegangen, alle mit wüsten Beschimpfungen, eine sogar mit einer Drohung: Wenn sie die Flugreise nach Ägypten nicht annulliere, werde man ihr co2-neutral das Haus abfackeln.
So gut es geht, versuche ich, meine Mutter zu beruhigen. Die Vorstellung, dass das Haus, das ich in wenigen Jahren erben werde, ein Raub der Flammen werden könnte, alarmiert mich. Also empfehle ich meiner Mutter, auf Facebook zu posten, dass sie die Reise nach Ägypten abgesagt habe. Dann muss ich auflegen, denn jetzt prasseln die Nachrichten nur so auf mein Telefon nieder. Ich kann mich nicht erinnern, je derart viel Lob, Zuspruch und Ermutigungen erhalten zu haben. Endlich jemand, der nicht davor zurückschrecke, vollkommen moralisch an die Sache heranzugehen, lese ich.
Mir war nicht bewusst, dass meine Zeilen moralisch sind, ich habe bloss getippt, was mir durch den Kopf ging.
Eine unbekannte Frau erzählt mir in einer Mail, wie sie aufgrund meiner Ausführungen zur Massentierhaltung entschieden habe, nur noch Fleisch zu essen von Tieren, die sie kennen gelernt hat. Also habe sie einen Bauernhof am Stadtrand aufgesucht und nach einem Tier gefragt, das demnächst geschlachtet werden soll. Der Landwirt habe sie im Stall zu einem rabenschwarzen jungen Stier geführt, der auf den Namen Sultan höre. Kaum sei sie vor dem kräftigen Tier gestanden, sei es zu einem Blickkontakt gekommen, dessen Intensität zu beschreiben ihr schwer falle. Jedenfalls könne sie sich nicht erinnern, je zuvor in einem Auge derart deutlich gefühlt, nein: gesehen zu haben, was gemeinhin als Seele bezeichnet werde. Ergriffen habe sie sich gefragt, wie sie all die Jahre überhaupt habe leben können, ohne regelmässig einem derartigen Tier in die Augen zu blicken.
Kurz danach habe sie am Hals des schönen jungen Stiers eine Beule entdeckt. Danach gefragt, habe der Landwirt gelacht und erklärt, das sei vielleicht ein bisschen gross, allerdings nichts anderes als ein Pickel. Der junge Kerl befinde sich halt in der Pubertät.
Das habe sie nur zusätzlich berührt. Und sie habe den Stall nicht verlassen können, ohne das Versprechen des Landwirts mitzunehmen, diesen jungen, bildhübschen Stier am Leben zu lassen. Bald schon werde also sie sich um das Tier kümmern — und vielleicht könnte ich ihr behilflich sein auf der Suche nach einem guten Platz für Sultan.
Noch während ich überlege, wie viel Gras wohl ein junger Stier frisst und wie gross seine Weide sein muss, erreicht mich eine Mail aus dem Bundeshaus. Zwar stehe noch eine ausserordentliche Sitzung an mit den Dachverbänden von Wirtschaft und Zivilluftfahrt, aber eigentlich sei klar, dass Mondays for now die einzige Chance sei, um die hochgesteckten, in Paris beschlossenen Klimaziele zu erreichen. Man möchte gerne wissen, ob ich kommende Woche für ein Podiumsgespräch sowie assistierend, mit meiner Erfahrung als Ingenieur, bei der Ausarbeitung der gesetzlichen Grundlagen zur Verfügung stehen könne — natürlich gegen Honorar.
Die Anfragen nehmen gar kein Ende; bald schon werde ich als Star der Schweizer Klimaszene bezeichnet. Journalisten melden sich, begeisterte Bürger, ein jungen Mann, der sich dabei gefilmt hat, wie er seinen Führerschein in einen Schredder wirft, eine fremde Frau, die mir tausend Herzen aufs Papier gemalt hat, ein nervöses Fernsehteam, ein feister Wirtschaftsboss aus Deutschland.
Und drei Tage später, kurz nachdem ich den Flug nach Brüssel gebucht habe, kaufe ich mir einen schicken Anzug, schicke Lederschuhe einen dieser schlanken Laptops und ein neues Telefon, damit ich an der Konferenz, zu der ich eingeladen bin, auch seriös und glaubhaft auftreten kann.
Seltsam, aber heute kann ich kaum mehr verstehen, wie ich es geschafft habe, diese unendlich langweiligen, des fehlenden Einkommens wegen auch brutal bescheidenen Monate der Arbeitslosigkeit durchzustehen, ohne psychisch krank zu werden. Ja, es tut mir gut, ich fühle mich wertvoll, mich in einer ganz neuen Position für den Kampf gegen den Klimawandel einsetzen zu können.

Urs Mannhart hat als Velokurier, Nachtwächter, Journalist und in der Landwirtschaft gearbeitet. 2004 erschien sein Erstling «Luchs», 2006 dann «Die Anomalie des geomagnetischen Feldes südöstlich von Domodossola». Als Reporter berichtet Mannhart aus Ungarn, Serbien, Kosovo, Rumänien, Russland, Weissrussland und der Ukraine. «Bergsteigen im Flachland» ist sein dritter Roman, für den er 2016 mit dem Conrad Ferdinand Meyer-Preis ausgezeichnet wurde.

Christian Uetz «Von mir ist nur der Gedanke»

Ich habe kein Recht,
nicht Nietzsche zu sein, nicht
Kierkegaard, nicht Rilke. Auch ohne
Werke. Ich habe kein Recht, nicht wahnsinnig
zu sein, nicht zerspringend, nicht zerrissen. Auch
ohne Erfolg. Kein anderer ist schuld
am mich vom Anderen vom
Anderen abbringen lassen, wo
auch immer.

Von mir
ist nur der Gedanke, und der
ist nicht. Nicht da, nicht ich. Also bin ich nicht.
Nur du, und auch du nur mit allen gebrochen,
alle Zeit auf den toten Punkt gebracht, den schwarzloch
gerochenen. So sterngenau strahlt deines maßlos
ermordeten Morgens unvermoderbare
Mittagsverzückung aus den Lichtporen der
augenübersäten Nacht.

Ich trinke dich in mich
zurück. Ich sauf dich Tag und Nacht.
Und wiederum seufzst du mich in dich
hinaus. Du bist ja draußen in mir drin. Ich bin ja völlig
außer mir aus dir. Das macht ja den ununterscheidbaren
Unterschied zu meiner unverlassbaren Unentscheidbarkeit,
dass ich dich Lichttrunkene noch nicht, nicht und nicht mehr hell
sehe. Doch Himmel unserer höllischen Gottgleichheit, du uns in Funken
Getunkte, die du nicht bist, bist das
Werde, der du bist. Ich bin nicht
so. Du allein gibst mir das Unrecht, so
zu sein, wie ich bin. Und
so bin ich nicht.
Wenn es ist,
ist es immer, und es ist
nicht. Wenn du bist, bist du überall, und
du bist nicht. In dem Ich bin bist du, indem
ich bin nicht da. Und immer schlägst du unser
Du Nichtsein nieder. Da bin ich wieder, und kann mich
zum Büßen noch einmal entblößen. Bringt es das?
Nicht wirklich. Wirklich nichts als das ist
wirklich, worin wir allein uns begegnen,
im Unwirklichen von allem. Bringt
dich das näher?
Vollkommen.

Wo ich nicht
bin, bist du, wenn
ich weg will. Womit zeigst
du dich nicht? Mit der Zeit,
mit der abständigsten, durch
die abgestrittenste Lust, die
allmählich abseitigste, ab
schaumgeborenste.

 

secession Verlag

Der 1963 in Egnach am Bodensee geborene Christian Uetz ist studierter Philosoph, und er glaubt an keine Wahrheit ausserhalb der Sprache. Ob im Gedicht oder in der Prosa: Sein Tanz an ihren Rändern ist immer auch ein Seiltanz über den Abgründen der Existenz. Und er gilt als Virtuose, wenn es um die Intensität der Sprache geht. Auswendig und in einem rasenden Tempo rezitiert er seine Texte bei Auftritten, dass einem Hören und Verstehen vergeht. Das ist gewollt. Einzig die Wortkraft zählt und die Suggestivkraft der Sätze,ckaum deren Inhalt. In seinem Gedichtband «Engel der Illusion» formuliert Uetz spielerisch und doch souverän Gedichte um gewichtige Themen: um die Präsenz des Anderen im Selbst, um Anwesenheit und Abwesenheit, um Negativität und Transzendenz. Mit seinen bildgewaltigen, selbstverlorenen und dabei tief nachdenklichen Gedichten sucht Christian Uetz in der Sprache nach der verborgenen Präsenz dieser Engel der Illusion, um ihr Scheinen erfahrbar zu machen. Was seine Texte so hervorbringen, sind Ekstasen der Begierde und die Trunkenheit der Vernunft. Es ist der Wahnsinn des Tages. Ihr Fluchtpunkt bleibt dabei stets eine mitreissende Affirmation des Lebens und der Sinnlichkeit, ein Lob der Sprache als derjenigen Kraft, welche die Illusion als Wahrheit, das Jenseits als Teil des Diesseits erkennbar macht.

Beitragsfoto © Internationales Literaturfestival Leukerbad