Die Behandlung eines Schafes
Ich nahm ein weiches, dunkelweißes Schaf,
ein altes deutsches Krippenschaf.
Zwei Kinder spielten mit dem Schaf,
es war am Heiligen Abend.
Ich zeichnete es leicht auf braunes Papier.
Ich legte rotes Glas auf das Schaf, es sprach:
„Jochen ist noch klein,
doch er zieht bald in den Krieg.“
Ich stellte Panzer hinter das Schaf –
Wilhelm schiesst Vögel vom Kirschbaum,
auch er will bald in den Krieg.“
Ich malte dem Schaf einen Pfad,
da lief es hinaus aus dem Bild.
„Sie schossen und wurden erschossen,
da ich stand erneut an der Krippe.“
Wer Schafe zeichnet, muss sanftmütig sein.
Wer Kinder zum Töten holt, muss fachkundig sein.
Vom fernen, glücklichen Fest
Gestern um siebzehn Uhr,
ich saß auf einer Holzbank,
stand die Jungfrau vor mir,
grün bestreut, tonnenschwer,
schneeschwebend
Mir war, als sei keine Welt
hinter ihr, als röche sie nach
Borretsch und Rosen und Stall,
ich packte mich in Wolken
und rührte mich nicht
War Juni, im Zwanzig-Uhr-
Licht stand ich auf und aß.
Die Jungfrau rührte sich nicht,
sie hüllte sich ein
in goldenen Dampf
All der Schrecken,
das Landverlieren,
Kriechen und Rennen,
es barg sich eine Stunde
im dichten, blendenden Dampf
Da legte die Jungfrau den Schleier weg,
wie winkten die Gletscher,
der Borretsch freute sich sehr –
all der Schrecken, das Scheuchen,
das ferne, glückliche Fest
Anfangen zu fischen
Das Wort wurde sacht,
als ich sagte: Ich hause unter Tage,
als unsere Körper über die Erde flogen
und die Küste eines alten Landes grüßten
Das Wort wurde jung und scheuerte,
es war am See Genezareth
Ich schwankte, war’s nicht die galiläische Sonne,
ein Schwank-Tag war’s und ein Willst-du-noch-Tag
unter Kappen klopfte es,
– und die feine Linie links auf deiner Stirn –
als wir uns lang sam los ban den
von Rang und Diktum
Doch „als wir uns langsam losbanden“
ist nur mein Tagebucheintrag
Wir fischten still, das weiß ich genau
– Standard? wessen Standard –
und gossen Wasser auf die
Ich-Zischerei, du strichst über meine
Worte und sagtest:
„Ach doch, es war ein Als-wir-uns-
langsam-vernahmen-und-langsam-
banden-Tag“
und mich wunderten deine Augen
sela daselbst
Übungsanlage
Während ich zahle, atme,
Updates funkeln, ich Astern
betrachte und Kummergesichter
bewundere, wenn sie einst
auferstehen und es noch gar nicht
wissen, schwing ich für mich
im Ja-Lager: im Bus, Meer, Mantel,
Dampf, im Treibhaus, ich glühe
am Spülbecken, rühr mich.
Ich rufe: Verborgen
bist Du, auffindbar bist Du!
Ist es nicht einsam im
Ja-Lager, ist es nicht schön?
Ich finde es schön,
sehr schön.
Mittlere Brücke
„Selvi, sieh dir meine Fotos vom
Rhein an, Selvi, sieh mal das Eis auf der
Mittleren Brücke, Selvi, du kannst nicht mehr
geigen, hantieren, das Fell deiner Katze nicht –
Selvi, gefällt dir dieser gelbgestreifte
Strohhalm, sieh, wie dein roter Rollstuhl
in der Wintersonne glänzt –“
Und mit einem kleinen
Löffel schieb ich
ich Täuschkörper ich Schönwetterschwätzer weiß nicht
schieb ich wer bin ich, dass meine Muskeln nicht
verrecken wie deine schieb ich jetzt Stückchen
um Stückchen einer „sehr, sehr leckeren
Torte“ in deinen Muss-es-sein-Mund,
der mir zu entgegnen scheint:
«Es rührt mich nicht, was mir hier
widerfährt, lass uns nicht über Löffel
und Strohhalme sprechen.»
Sie lehnte sich ins Leid
wie in einen kalten Sessel,
sie spähte ins Leid
wie in das Licht des Wintermorgens
am Rhein auf der Mittleren Brücke.
„Selvi, sieh dir mein Gedicht an“
Akt des Ach doch
als der lange tag sich um mich drehte
als das mahlwerk licht war und april
(Astrid Schleinitz)
Dein tägliches Rollen
und Schaukeln, das völlige Fehlen von
Hüpfen und Springen
Ins Bad gefahren werden,
überaus eingeseift sein, lang
entkleidet bleiben
«Früher habe ich Cellosonaten gespielt –»
Dein Leben als Gliederpuppe, Anziehpuppe?
Gelenkig, heiter, beschämt
«Erst lief ich verwackelt, dann lahmte
und wankte ich, schließlich
knickte ich ein.»
Abends ein Hingelegtwerden,
als Pflegling, Liebling,
nächtlich: Plage Lagerei
«Früher konnte ich Meere
malen, Wege rennen,
Söhne halten –»
Obwohl es dir alle Kraft
kappt, ungalant, obwohl es ein
Rollstuhl ist und keine Sänfte –
Und was den Körperschall angeht und dein
Schnappen nach Morgenluft,
wie kannst du nur
kannst du inzwischen
so schön sein so
ins Fröhliche
schwappen
aus dem Gedichtband „Langsamer Schallwandler“, Oktober 2022, mit freundlicher Genehmigung der edition pudelundpinscher. Vernissage des Gedichtbands ist am 28. Oktober am Buchfestival Olten.
Vera Schindler-Wunderlich ist in einer Industriestadt in Nordrhein-Westfalen, im Singsang einer bergischen Mundart aufgewachsen. Arbeitet seit 1994 in der Schweiz, lebt in Allschwil bei Basel. Studium der Musikwissenschaft und Anglistik in Köln, Aberdeen und Freiburg i. Brsg. Heute Redaktorin bei den schweizerischen Parlamentsdiensten. Im Oktober 2022 erscheint nach «Dies ist ein Abstandszimmer im Freien“ (2012) und «Da fiel ich in deine Gebäude“ (2016) bei der edition pudelundpinscher ihr dritter Gedichtband „Langsamer Schallwandler“. 2014 erhielt sie einen der Schweizer Literaturpreise, war 2020 nominiert für den Publikumspreis des Feldkircher Lyrikpreises. Einige ihrer Gedichte wurden übersetzt ins Französische, Italienische, Spanische, Slowenische, Indonesische, Arabische.
Beitragsbild: Sharon Stucki, Select