Volkmar Mühleis „Die Augenweide“

Naumburg

Aus dem Stadtpark klingt leise Reggae-Musik
verhaltenes Lebenszeichen
in dämmriger Stille

wer wollte hier schlafende Hunde wecken
sie scheinen alle begraben

versprengte Passanten schleichen durch die Gassen,
in einer Kampfsportschule beginnt der Unterricht,
morgen ist wieder Theater,
dann geht es nahtlos weiter
über Kopfsteinpflaster im Tänzelschritt
Arm in Arm

Nietzsche erhebt sich von seinem Denkmal
spricht mit Blei im Mund
vom dionysischen Glück

dreht die Musik auf!
würde er rufen, 
mit an der Pfeife ziehen
und den Mond anheulen

wollt ihr denn alle begraben sein?
und aus den Fenstern schauten die Neugierigen,
ein Jurist des Gerichts stürmte herbei
den morgigen Tag schon jetzt zu vergessen

sich selbst nicht mehr fremd sein,
ob unter Gestrandeten im Park
oder vor Ort Versandeten –

In deinen tränenfeuchten
Augen ruht ein Blick,
der schmerzlich, herzlich
dir und mir verwehte Leiden,
verlorne Stunden und zerronnen Glück
zurückrief beiden. –

 

Tiergarten

Sie alle bleiben vor der Magnolie stehen
sie ist die einzige Attraktion
zwischen Pariser und Potsdamer Platz,
Schloss Bellevue und Schöneberg

im Halbrund der hohen Eichen
blüht sie zum Ostergruß
dem japanischen Paar wie
einer Gruppe dänischer Radfahrer,
die hier posieren
für ihr Souvenir
und sie bedanken sich bei mir
für das Bild

von der Luiseninsel
klägliches Hundegewinsel
eine schrille Stimme keifert und schreit

ich schaue in mein Buch
lese den Stummfilm
aus schwarz-weißen Zeichen
ein stiller Souffleur vor dem Halbmond der Eichen
ins eigene Spiel vertieft

ein Specht hämmert zur Pause
mitten im ersten Akt,
ein Rapper seines Fachs:
drei schnabelschnelle Schläge
BAUM BEAT BOX
       unermüdlicher Rave
unter freiem Himmel

hunderte rosaweißlicher Blütenkelche
applaudieren im Licht, leuchten auf 
im milde lächelnden Wind

der Souffleur verlässt die Bühne
drei englische Damen suchen nach dem Weg,
im Trippelschritt nie stehender Jogger

eine gescheckte Elsterkrähe
trippelt in ihre Nähe
doch nichts fällt für sie ab
der Nächste kommt und bleibt vor der Magnolie stehen

wie ein Baum, der das Zittern nicht kennt
denkt er sich
Wurzeln, eine Aufenthaltsgenehmigung
unter der Erde,
Vorfahren, die einem das Leben schenken –
nicht weiter denken

auf der Krim sind Freunde von ihm stationiert
die Verteidigung seiner Doktorarbeit steht kurz bevor
und dann geht es zurück in die Heimat, in ihren
neuen
      unausweichlichen                          
                              Grenzen

 

Die Augenweide
nannte sie ihr Geschäft
eine Mischung aus Café
und Buchhandlung

wir kannten uns beim Namen
sie verkleinerte ihren Laden
blieb in Bücher gekleidet,
eine stille Augenweide

der letzte Lehrling
wurde ihr Nachfolger,
ließ das Schaufenster aufblühen,
die Wände streichen

sie selbst zog sich zurück,
verschenkte ihre Bücher

heute ist sie mir auf der Straße begegnet
und erkannte mich nicht


wie in der Verpuppung erstarrt,
spannte sich ihr Anorak zur Hülle,
hielt sie die Plastiktüte fest

ich lief nicht hinter ihr her,
blieb in der Vergangenheit
und sah ihrer Gegenwart nach,
mit unsicherem Schritt
über die Gleise

 

Straßenfest

Der Baum schmiegt sich ans Haus
                      die Wärme seiner Steine
                                     Blütenäste greifen aus
              durch die gespannte Leine
                                     quer über den Asphalt
                                           flattern bunte Tücher
                       zwischen den Ballons

    ein Kind hält das andere fest,
                                        sie drehen sich im Kreis,
                                              kreiselkreideweiß

 
                  während die anderen hüpfen
                    drei vor und zwei zurück,
                       mit oder ohne Gummi
                        ein Tanztheaterstück

      „Jetzt bist du dran!“
            zeigt ein Mädchen auf mich
                   und alle lachen –
                         auch ich

 

Februarmorgen am Rhein

Schillernde Schieferschatten,
fließende Furchen

vom Grau des abziehenden Regens getränkt,
wälzen sich unter der Last der Kähne
Stromschnellen und -wellen
durch die Tiefe des Tals

Ausläufer der Schmelze in den Bergen
von Schnee und Gletschereis
ausblutende Wunden
immer schärferen Lichts

wie es von neuem durch die Wolken bricht
blendend grell den Blick verengt,
über den Flussteppich tanzt
in Silberschleifen

als wären die Schiffe
  ohne Schwere und Kraft,
       nur behäbige Masse
              unbändiger Energie,
                      Luftspiegelungen
                          im Funkenschlag –

               die Augen schließen
                  vor dieser Wirklichkeit

                in sich
                  vor Anker gehen

 

Volkmar Mühleis, geboren 1972 in Berchtesgaden, lebt und arbeitet
in Brüssel, wo er an der Kunsthochschule LUCA School of Arts
Philosophie und Ästhetik unterrichtet. Zu seinen literarischen
Buchveröffentlichungen gehören die Gedichtbände «Fête de la
Musique» und «Gesichtsverlusterkennung» sowie das «Tagebuch
eines Windreisenden» und die Novelle «Wasserzeichen».

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