Agnes Weber «Der längste Gang»

Ein Text aus dem AutorInnen-Kollektiv, das am 4. Dezember 2022 im Literaturhaus Thurgau liest.

 

Dienstag, 4. Dezember 1979

Heute Abend ist es so weit. Mary und ich sind bei Rita zum Essen eingeladen. Sie hat den Termin aus unklaren Gründen mehrere Male verschoben. Rita wohnt abgelegen in einem kleinen Dorf, in einem der wenigen Mehrfamilienhäuser neben den Bauernhöfen. Draussen ist es kalt, die Welt erstarrt im Schnee. Mary steuert das Auto vorsichtig. Ich wische die beschlagenen Vorderscheiben mit einem Lappen.

Rita empfängt uns herzlich und führt uns in die geräumige, warme Stube. Nach der Vorspeise verzieht sie sich, um den Hauptgang fertig zu kochen. Ein Mann tritt in die Wohnung, grüsst flüchtig, geht in die Küche. Ich weiss nicht, wer er ist; vielleicht Ritas Freund. Die Vorbereitung des Hauptgangs scheint viel Zeit zu brauchen. Es dauert und dauert. Mary und ich nehmen es kaum wahr, wir sind ganz in unser Gespräch vertieft. Plötzlich schrecken wir auf. Aus der Küche das klatschende Geräusch einer Ohrfeige, sonst kein Laut. Erstarrt sitzen wir da.
„Er hat Rita geschlagen“, bricht es aus mir heraus.
Mein Herz klopft wie verrückt. Wie in Trance stehe ich auf, schiebe den Stuhl von mir weg: „Ich schaue mal nach.“

In der Küche sitzt Rita still und bleich auf einem Hocker, ein hässlicher roter Abdruck auf der einen Wange. Der grosse, kräftige, sicher zehn Jahre ältere Mann erhebt die Hand, gleich wird er wieder zuschlagen.
„Stopp, so geht das nicht.“
Ich nehme Rita an der Hand und ziehe sie aus der Küche. Zu ihm sage ich:
„Geh, sonst rufe ich die Polizei.“
Der Mann lacht höhnisch, sein Gesicht ist blanke Wut, aus jeder Pore seines Körpers atmet Gewalt. Er folgt uns in die Stube wo Mary wie gelähmt am Stuhl klebt. Er versucht, Rita in die Küche zurück zu zerren:
„Du Schlampe, du sagst mir jetzt, wo du gestern Abend warst, oder ich schlage dich nieder.“ „Halt“, sage ich, und greife zum Telefon an der Wand.
Der Mann ist schneller, zieht am Kabel, das Telefon ist tot.

Bebend vor Angst führe ich Mary und Rita rasch aus dem Esszimmer, an ihm vorbei. Er ist einen Moment lang überrascht, dann wird er wieder ausfällig:
„Das geht euch alles gar nichts an, ich bringe euch um, ihr verdammten Weiber!“
Zwischen Stube und Wohnungstüre liegt ein Gang. Es ist der längste Gang, den ich je gesehen habe. Er erstreckt sich von hier aus bis fast in die Unendlichkeit. Der Mann wird sich an uns vorbei vor die Türe stellen, den Schlüssel drehen und abziehen, das grosse Küchenmesser holen und uns einzeln abschlachten, denke ich. Ich weiss nicht wie, aber es gelingt mir, die Wohnungstüre zu öffnen. Schnell raus, alle drei.

Kaum sind wir draussen, sieht der Mann rot, kommt angerannt wie ein wilder Stier. Er packt mich und stösst mich die Holztreppe hinunter, dann Mary, zuletzt Rita. Ein Riesenlärm, Schreie. Aus drei Wohnungen im Erdgeschoss stürmt je ein Paar heraus. Ich sage:
„Rufen Sie bitte die Polizei.“
Eine Frau geht los. Die anderen Frauen stellen sich vor Mary, Rita und mich, schützen uns. Die Männer packen den Mann zu dritt, versuchen ihn zu beruhigen. Es gelingt nicht. Ein wüstes Gerangel. Der Täter scheint Bärenkräfte zu haben. Kaum zu glauben, was jetzt geschieht: Er reisst sich los, nimmt Anlauf, wirft sich wie ein Irrer auf die Haustüre, deren obere Hälfte verglast ist, hechtet durch das splitternde Fenster und landet blutend im eiskalten Wasser des Brunnens vor der Haustüre. Die Polizei kommt gerade rechtzeitig. Zu dritt spedieren sie den tobenden Mann in den Kastenwagen. Dann protokollieren sie den Tathergang.

Mit der Zeit kehrt Ruhe ein im Haus. Rita sagt beim Abschied vor der Haustür unter wiederholten Schluchzern:
„Es tut mir so leid, dass ihr das erleben musstet! Armin ist mein Ex. Er hat noch nicht verstanden, dass es aus ist.“
Wir versuchen sie zu trösten. Dabei nehme ich wahr wie sich Rita schämt: für Armin und dass sie mit ihm zusammen war, vor den Nachbarn und über die Geschichten, die über sie, die Lehrerin, eine Respektsperson, im Dorf zirkulieren werden. Und sie hat Angst, dass die Sache noch nicht ausgestanden ist.

Es ist spät geworden. Der Appetit ist uns längst vergangen. Mary bringt mich nach Baden, bevor sie zu sich nach Wettingen weiterfährt. Wir beide, zum ersten Mal im Leben mit einer so gewalttätigen und gefährlichen Situation konfrontiert, sind aufgewühlt, können das Geschehene immer noch kaum fassen, Mary sagt zu mir:
„Du warst so mutig, liebe Bianca“.
„Weisst du, ich war ausser mir vor Angst, aber ich konnte nicht anders. Ich mache viel Sport und dachte, das sei hilfreich, aber weit gefehlt, ich hatte nicht den Hauch einer Chance. Wir haben grosses Glück gehabt. Als wir aus der Wohnung traten, wusste ich, dass wir es geschafft haben.“
„Ja, aber wie er uns mir nichts dir nichts die Treppe hinunter geworfen hat, das war der helle Wahnsinn. Zum Glück ist nichts passiert.“

Agnes Weber, geboren 1951 in Aarau, las und schrieb als Jugendliche viel. Nach ihrer Erstausbildung arbeitete sie als Sekundarlehrerin. Lebte insgesamt sieben Jahre im Ausland. Engagiert(e) sich politisch für eine bessere Welt. Studierte Bildungswissenschaften. Leitete in der eigenen Firma Projekte im Bildungsbereich. Publizierte ein Fachbuch. Ist heute noch in der Hochschuldidaktik tätig im In- und Ausland. ‚Das Fest’ ist ein Auszug aus ihrem ersten literarischen Werk. Sie lebt mit ihrem Partner in Zürich.