Beatrix Katharina Langner «Die frösche am bach»

Die frösche am bach


Nachts bei den glühenden scheiten am bach
Höre ich dem zwiegespräch der frösche zu
Verschlungene lautpfade durch die stille
Wovon reden sie im wechselgesang,
Verstehen sie den dialekt des feuers,
Wie es im innern des holzes rhythmisch atmet,
Antworten sie ihm, an dem ich mich wärme,
Ein lebendiges wesen, pulsierend im takt
Der elemente, kleine sonnenkraftwerke
Die durch die graue sommernacht glimmen,
Geheimnis des lebens, keim der zerstörung


 

Wolken

Aus dem atem der erde
Wachsen wolken
Wächter getürmt
Im lichtgrauen halbrund
Über dem kornfeld
Taumeln die ersten kohlweisslinge
Abgesandte der wolken
Geboren aus dem
Schaum des himmels. 

 

 

Am Fluss

Wind spielt mit meinen haaren,
Die von den jahren gebleicht sind
Wie das vorjährige schilf
Während ich mich betrachte
Im spiegel des flusses, der mein bild
Davonträgt auf den eiligen wellen,
Rauschen am ufer die weiden
Und im gesang der nereiden
Der göttlichen schwestern
Verrinnen ungezählt die stunden
Im antlitz der zeit.

 

Beatrix Langner, 1950 geboren, ist promovierte Germanistin, Autorin und Literaturkritikerin und lebt in Berlin. Seit 1990 zahlreiche Rundfunk-Features und Kulturreportagen für DeutschlandRadio Berlin sowie Feuilletons und Kritiken für Süddeutsche Zeitung, Neue Zürcher Zeitung, Deutschlandfunk Köln u.a. Sie veröffentlichte eine Biografie über Jean Paul (C. H. Beck), für die sie 2013 den Gleim-Literaturpreiserhielt, und ist Mitglied des PEN-Zentrums Deutschland.

Rezension von «Der Vorhang» auf literaturblatt.ch

Fotos © Beatrix Katharina Langner

Lisa Elsässer «An dich»

Der Brief am letzten Tag im Jahr. Ausgerechnet! Er kam von ihm. Ich nehme ihn als Zeichen. Er könnte auch vom Vater geschrieben worden sein. So antworte ich nun dir, nicht dem, der ihn auch geschrieben haben könnte. Er ist nicht Vater, meines Wissens hat er keine Tochter. Er hat auch keine Ahnung, wie das so ist, wenn man wieder Tochter eines bekannten Mannes wird, der einem fremd wird in dem Augenblick, wo es um das Gleiche geht, denn beim Lesen dieses Briefes wurde ich wieder die Tochter, deine, und was den Brief betrifft, auch seine. Es ist ausserordentlich, was einem Brief gelingt: alle neuen Vorsätze, die auch, nebst andern, sich um dieses Loslassen drehten, gleich Eintagsfliegen über den Haufen zu werfen. Für ein paar Stunden leben, um dann zu sterben.
Ich war an diesem Tag leicht und beschwingt und voller guter Vorsätze für den nächsten Tag, der ja der erste im neuen Jahr war, bis der Brief kam und das Ausgewogene in ein Gewicht hinein pendelte, das ich – ohne Brief – nicht auf die Waage brachte.
Dein Verdienst, Vater, ist es, dass es mich gibt, obwohl ich immer das Gefühl hatte, genau das nicht verdient zu haben. Das Verdienst des Schreibers ist: auch er hat es dir zu verdanken. Ohne es zu wissen, müsste er dir dankbar sein, in deiner Tochter die richtige Adressatin gefunden zu haben. Eine Vatergekränkte. Eine, die Vergleiche herstellt, eine, die im neuen Geräusch das alte zu hören vermeint, und, als ob du gerade erwacht wärst aus dem Totenreich, war deine Stimme zu hören in diesem Brief!
Dem Schreiber ist das nicht bewusst. Dir Vater war es auch nicht bewusst, was du in mich eingeschrieben hast. Und Briefe hast du mir nie geschrieben. Erst nach Mutters Tod Glückwünsche zum Geburtstag, Weihnachtskarten. Mehr als die nötige Fortsetzung von Mutters Gewohnheit war das nicht. Obwohl du eine schöne Schrift hattest, schrieb immer sie! Aber Briefe waren das nicht wirklich.
Einmal, bei mir am Tisch, hast du zum ersten und letzten Mal die von mir gekochte Polenta als die beste gerühmt, die du je gegessen hättest. Ich stand vom Tisch auf, ging in die Küche, schaute dort aus dem Fenster, wusch das schon gebrauchte Besteck oder vielleicht wusch ich auch ungebrauchtes sauberes Besteck, kämpfte mit der Rührung, kämpfte mit den Tränen, kämpfte mit dir, von dem ich nie etwas in diese Richtung Gehendes erwartet hatte: ein Kompliment! Wieder am Tisch, hast du dir von mir eine weitere Portion Polenta schöpfen lassen! Ich stand neben dir und fuhr dir ganz kurz mit der Hand über deine Glatze, von der seitlich noch einige wilde, graue Haare abstanden.
Du übertreibst!
Das würdest du auch jetzt sagen, wenn du den Brief des Schreibers lesen könntest. Selbstverständlich hätte ich ihn dir nie zu lesen gegeben. Du hättest dich darin erkannt und sofort gesagt: jetzt übertreibst du wieder einmal tüchtig. Meine Tüchtigkeit war aber nicht die Übertreibung! Vielmehr war es immer die Suche nach einem ausgewogenen Verhältnis zwischen dir und mir. Zuletzt die Erkenntnis, dass es vergeblich war. Du wolltest der immergleiche Vater bleiben, ich die Tochter, die mehr als nur diesen einen Vater wollte, der jede nur denkbare Zumutung an sie mit dem Satz: DU ÜBERTREIBST, abschmetterte. Unzählige Situationen, an die zu erinnern ich mich nicht weigern noch wehren kann, weil sie mir fortlaufend begegnen. Aha, denke ich dann, manchmal sage ich laut: schon wieder und hie und da wird es gröber: leckts mich doch alles am Arsch. Auch dieses Gröbere schliesst die Nuancen mit eigentlich feinen Rissen nicht aus. Damit sie nicht schmerzen, denke ich ganz einfach grob wie beim gerade gelesenen Brief: Verdammtes Arschloch!
Zuerst rieb ich mir die Augen, als ob ich gerade erwachte, dann war ich wieder wach, hellwach! Lässt es sich noch mehr steigern das Wort? Am Hellwachsten! Tatsächlich stieg mir das Blut und eine Röte stieg mir in die Sprache: Zornig und keifend, wie ein Weib mit einem abschmetternden Brief ihres Liebhabers in der Hand, war ich eine in Rage geratene Tochter, die mit zwei gleichen und doch verschiedenen Vätern am Tisch sitzt, in exaktester Wiederholung zwei gleiche Erzieher in väterlicher Pose sieht, in gleicher, erzieherischer Anwandlung. Unbegreiflich, das erwachsene Kind sehen sie nicht in mir, sie sehen mich in einem erwachsenen Körper als Kind! Nicht einen einzigen Riss bekam der Brief ab, denn ich wollte und musste ihn immer wieder lesen können, so wie man ein Gedicht immer wieder lesen will, das einem aus irgendeinem Grund erregt. 
Ich bin wieder bei dir im Krankenzimmer. 
Es waren die letzten Stunden, die du bei Bewusstsein warst. Der letzte Gang mit dir auf die grüngekachelte Spitaltoilette. Ich hielt dich am Arm, setzte dich auf die Klobrille. Mit beiden Händen hast du meine beiden Hände gehalten, mir deine müden Augen zugewandt und gesagt: JETZT STERBEN WIR. ich dachte: DU ÜBERTREIBST. Ich putzte deinen Hintern, widersprach deinem WIR nicht. Ich fragte mich bloss, da in diesem intimen Geschehen, warum es das WIR so selten in weniger traurigen Momenten gegeben hatte. Ich war versucht, während ich dir die Scheisse wegputzte, zu sagen, ich liebe dich. Stattdessen strich ich dir das Papier, so sanft wie nur möglich und wie einen Liebesbeweis, über deinen After, zog dich hoch und legte dich zurück ins Bett, deckte dich zu wie ein Kind, das unruhig noch eine Weile in einem angestrengten Wachen bleiben will, um dann in einen Schlaf zu versinken, aus dem es kein Erwachen mehr gab.
Der Briefschreiber lebt ganz arglos, denke ich, lebt er mit diesem an mich versandten Brief. Ich brauch aber keinen neuen Vater, der mir erklärt, dass mein Sein seinem sich vorgestellten nicht entspricht. Er war ganz nett zu mir, solange ich keine Fragen stellte. Noch immer weiss ich es nicht, dass ich keine Fragen stellen darf.  Fragen stellen, das verwandelt mich augenblicklich in ein unbeliebtes Kind! 
Ich habe dem Vaterschreiber nicht zurückgeschrieben. Ich blieb bei mir und Vater, lese den Brief, wieder und wieder passiert sie mir, diese väterliche Schrift. Nachts im Traum erschütterte mich ein Weinen. Als hätte ich dem Schlaf den Auftrag erteilt, es nur in seiner Tiefe zuzulassen. Mit trockenen Augen erwachte ich am Morgen und wie die Zuschauerin eines seltsamen Geschehens triftete ich in den Tag ab. In den ersten Tag im Jahr. Der Brief liegt auf dem Tisch und Vater liegt im Grab. Plötzlich ist der Brief ein Grab, aus dem Vater spricht. Zunehmend verschwindet der eigentliche Schreiber.
JETZT STERBERN WIR
Ich fühlte deine Hände in meiner Hand. Die Handlung an deinem Rücken. Und dass du dann nicht mehr erwachtest, nachdem ich dich zudeckte, forderte andere Formen von Liebe. Mit eingenässten, kühlen Lappen fuhr ich dir über deine heissgewordene Stirn, von einer Seite zu andern während auf den beiden Seiten deines Gesichts Schweisstropfen ins Kissen fielen, deine Atemzüge immer länger und länger und dann ruhiger wurden.
Ich lebe, entgegen deinem vorgebrachten WIR. Ich nahm es nicht persönlich, so wie ich den Brief des Vaterschreibers jetzt auch nicht mehr persönlich nehme. Es ist ein Fragment, oder die Kopie einer ungeheuren Kraft, die Möglichkeit, dich langsam zu begraben.
Das Jahr hat erst angefangen. 
Draussen liegt Schnee. Die Bäume schütteln ihre Schultern. Staub fällt.

(Unveröffentlichte Erzählung)

die dunkelheit

erhellt alle gedanken
in ihnen geistern
geschichten das leben
ich liege schlaflos da
die erste Liebe zieht
an mir vorbei wie ein
schwan den ich zum 
ersten mal richtig sehe
was ich klar erkenne
ich war nicht dabei 
immer schon beim 
nächsten vergänglichen
spiel der film schmerzt 
ich schliesse die augen
der schlaf steht wach
am see leise gleitet
das leben übers wasser
verschwindet in die tiefen
die jede regung kennt
wenn die fische schlafen
gestaltet sich das angeln 
leicht  

Eva Strautmann «Ohne Titel 1 – 4»

Ohne Titel 1

Im Flug der Raben wellt
sich die Luft, sie gräbt
Gedanken in seinen Körper.
Er spreizt seinen Mund und
schreit und hört den
anderen, dessen
Voraussage er verkündet.
Er wirft toll um sich und
schmeißt sich gegen eine
Wand, aus Grau und Stein,
sein Fleisch fängt zu bluten
an und zu sprechen, aber
sein Körper geht weiter,
fliegt und fällt. Er wirft sich
gegen den Himmel, fängt
sein Blau auf und wälzt
sich darin, er speit Feuer
und ist voller bunter
Geschichten vom Vater, der
Mutter, den Geschwistern
und erzählt teuerste
Geschichten, die
nirgendwo zu haben sind.
Dann leckt er seine
Wunden, seine
Auszehrungen und schaut
einmal in die Welt, dort
hört man sein lautes
Lachen und schreit um Hilfe.

Akt Dreierkonstellation © Eva Strautmann
Oil nn Papier Mache 70cm x 100cm

 

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Anna Kim «Die Zähne»

Gilbert träumt: Er sitzt in einem Zugabteil neben zwei Frauen. Sie stellen sich mit einer kleinen Verbeugung vor. Martha sagt, sie heißen Ida und Martha. Ida ist stumm, da sie aus ihrem Mund eine Gebirgslandschaft bläst. Sie hört nicht auf, bis alle Berggipfel vollzählig sind und die Wolken einen Himmel gebildet haben. Martha trägt eine Fellmütze auf dem Kopf. Endlich knarrt Ida: Der Arzt sagt, Sie sind ein Engel. Gilbert: Sprechen Sie mit mir? Martha wiederholt: Der Arzt sagt, Sie sind ein Engel. Sie nestelt in ihrer Handtasche, gibt ihm zwei verschlossene Briefumschläge. Er öffnet sie, beide Karten sind unbeschrieben. Ida und Martha ziehen schwarze Lederhandschuhe an. Sie nähern sich seinem Hals, drücken auf seinen Kehlkopf. Er zieht eine Bratpfanne aus der Hosentasche. Gilbert schlägt auf Idas und Marthas Köpfe. Die Pfanne gewinnt. Das Abteil verwandelt sich in einen Hotelflur. Martha ruft den Aufzug herbei. Der Aufzug stürzt ab.

An einem Sonntagmorgen, die Kopfschmerzen lagen noch im Bett, und auf den Straßen herrschte schüchterner Verkehr, schüttelte Gilbert den Traum ab, einen Wiederkehrer, und beschloss statt einer Dusche ein Sandbad zu nehmen. Er füllte die rote Plastikwanne seiner Kinder mit Vogelsand und warf sich, Rücken voran, in den Sand; die Beine und Füße wälzte er zuletzt. Anschließend schüttelte er sich so lange, bis er den Sand vollkommen losgeworden war, und lief in die Küche, wo er ein hart gekochtes Ei und eine Scheibe Toastbrot in seine Backen schob, ohne zu kauen. Im Badezimmer spuckte er die Ladung in den Wäschekorb, die Reste, die in den Zähnen und Wangen stecken geblieben waren, holte er mit den Fingern hervor und schmierte sie dazu. Er schloss den Korb und lief erneut in die Küche, wo er Kaffee aus der Kanne schleckte. Beim Hinauslaufen packte er ein paar Salamischeiben, etwas Vollkornbrot und eine Gewürzgurke in die Wangen und spie die Mischung auf die Dreckwäsche. Danach lief Gilbert in die Abstellkammer zum Schlafen, in einen dunklen Raum unter der Treppe, der wegen der Heizrohre in der Wand warm war.

Als er erwachte, waren seine Lippen zerbissen, und es war ihm kaum möglich, den Mund zu schließen. Seine Zähne waren gewachsen; Gilbert überprüfte dies mit Hilfe eines Spiegels und eines Lineals. Noch während er sie abtastete, musste er feststellen, dass sie bereits weitergewachsen waren, so beschloss er, sie an einem Tischbein abzuwetzen. Er wieselte aus der Kammer, blieb aber mit einer Wange an der Türklinke hängen. Auch die Backen hatten sich verändert, wieder griff Gilbert zum Spiegel, sie hatten sich in Hängebacken verwandelt, reichten bis zur Kinnspitze und schlabberten bei jeder Bewegung. Gilbert machte dies allerdings nichts aus, im Gegenteil: Sie gefielen ihm besser als vorher. Zufrieden ließ er sie in seinen Händen auf und ab hüpfen, als wären sie Brüste.

Es begann zu dämmern, Gilberts Magen knurrte laut und anhaltend. Auf Salami hatte er keine Lust mehr, wohl aber auf Vollkornbrot. Nach dem mühsamen Abendessen, es bestand aus Sonnenblumenkernen, die er mit seinen Zähnen und Fingern aus den Fitnessbrötchen pulte, verspürte er den Drang zu laufen. Laufen gehörte zu den Dingen, die Gilbert früher stets vermieden hatte: Nie wäre er gerannt, um einen Bus zu erwischen, und schon gar nie aus Spaß. Doch heute drängte es ihn geradezu danach zu rennen, er war besessen von dem Wunsch, die Beine zu bewegen, den Wind in den Haaren und hinter den Ohren zu spüren. Hin und wieder schlich sich der Gedanke an Sonnenblumenkerne ein, dann hielt er Ausschau nach einem weiteren Fitnessbrötchen, schließlich aber gewannen die Füße die Oberhand, und er nahm sie unter die Arme und rannte los, aus dem Haustor, die Straße hinauf zur Busstation und weiter nordwärts bis zum Ende der asphaltierten Wege; er lief auf verlassenen Schienen, die mit Gras überwuchert waren, Gras und Unkraut, rannte auf ein Wäldchen zu, über eine Wiese, und verrannte sich. Da er sich nicht entscheiden konnte, in welcher Richtung er weiterrennen sollte, rannte er auf der Stelle, nur um zu rennen. Als er ein verdächtiges Knacksen hinter sich hörte, floh er in den U-Bahn-Schacht.

Für die Zwillinge vergingen die Stunden im Hort zu langsam, die Mädchen starrten auf die große Uhr mit dem römischen Zifferblatt, hatten aber das Gefühl, die Zeiger bewegten sich nicht, tatsächlich waren sie sich nicht sicher, ob der Zeitzähler überhaupt Zeit zählen konnte. Zudem mussten sie stillsitzen, ein Buch in der Hand war alles, was ihnen gestattet war; die Beine brav übereinander geschlagen, und aus den zusammengebundenen Haaren verirrte sich keine Strähne. Die Aufpasserin war stets auf der Suche nach Briefchen, die die Mädchen einander zusteckten. Vielleicht aber, meinte der eine Zwilling, war sie nicht auf der Suche nach Briefchen, sondern dabei, ihre Nummer zu proben. Nummer, fragte der andere. Siehst du denn nicht, sagte daraufhin der eine Zwilling, dass sie eine Schlangenfrau ist?

An der Haltestelle stiegen die Zwillinge in die Tram und pressten ihre Gesichter an die Glasscheibe: Ein Luftballon versuchte dem Gartenzaun zu entkommen. Plötzlich sprang ein Mann auf die Schienen, der Schaffner zog die Notbremse, der Mann blickte sich verwirrt um und verschwand im U-Bahn-Tunnel, und die Schwestern sprangen aus dem Zug und jagten ihm hinterher.

Es roch nach Berührungen von Regen mit Welt; im Tunnel fanden sich weder Gehwege noch der rasende Wilde, nur Feuchtigkeit und die Gewissheit, dass sich Moder in den Haaren und in der Kleidung niederlässt, um für immer eingenistet zu bleiben, und doch kehrten die Zwillinge nicht um, sondern versuchten, den Mann mit den langen Wangen zu erschnuppern; es schien ihnen, als müsste er duften.

Gilbert war in einem Aufsichtsraum angekommen, in einer kleinen Kammer in einem Seitentunnel. Ein Fernseher stand auf einem Plastiktisch, die Zeitung war zusammengefaltet und hing (gerade noch) über der Lehne. Vorsichtig sah sich Gilbert um, seine Schnurrhaare auf dem Nasenrücken zuckten nicht, also schlüpfte er in den Raum, zog die Tür hinter sich zu, schlüpfte unter den Tisch und schlief ein. Vielleicht hatte es ihn danach gedrängt, aus der Wohnung zu laufen, weil er sich in den Höhlen unterhalb der Stadt sicherer fühlte. Die Dunkelheit machte ihm nicht zu schaffen, im Gegenteil, sie erleichterte das Erkennen: Die Finsternis schärfte seinen Sehsinn. Zudem konnte er endlich seinem Drang nachgehen, mit den Händen und Füßen zu graben, in der Erde zu wühlen, sich auf der Erde und in ihr zu wälzen und Dreck auf sich zu häufen, ohne gesellschaftliche Konsequenzen.

Nach dem Nickerchen begann er in den Nebenhöhlen des U-Bahnnetzes Gänge zu graben, vier Eingänge hatte er geplant, die Nestkammer sollte sich genau einen Meter unter der Erdoberfläche befinden und mit Gras ausgelegt sein, seine Fingernägel, seine Schaufeln, hatten schon begonnen, sich diesem Wunsch anzupassen, sie wuchsen sich aus zu Krallen, und die Hände zu Pfoten, etwas stärker behaart und um einiges kräftiger als zuvor. Zunehmend entfiel ihm die helle Welt, und seine Erinnerungen wurden vom Dunkel verschluckt.

Die Zwillinge hatten sich verlaufen. Seit einigen Tagen irrten sie durch das unterirdische Labyrinth und hatten es schon fast aufgegeben, an die Erdoberfläche zu gelangen, als sie an einer Abzweigung eine Abstellkammer entdeckten. Die hölzerne Tür war hinter einem Vorsprung verborgen; sie war ihnen nur aufgefallen, weil ein eigenartiger Geruch durch einen Spalt in den Tunnel strömte.

Vorsichtig spähten sie in den Raum, konnten aber im Schein des Streichholzes nicht viel erkennen. Um sicher zu gehen, dass im Inneren der Höhle niemand auf sie lauerte, blieben sie eine Weile vor der verschlossenen Tür sitzen und horchten auf verdächtige Geräusche. Erst als sie sich vergewissert hatten, dass ihr Leben nicht in Gefahr war, schlüpften sie in die Futterkammer. Eine große Auswahl an Lebensmitteln gab es nicht, sie ertasteten hauptsächlich Erdnüsse, Haselnüsse, Walnüsse, Sonnenblumenkerne und etwas weiches, fauliges Obst, außerdem tote Fliegen, Würmer und Käfer.

Die Mädchen stürzten sich auf das Essen. Im Schein des vorletzten Streichholzes beschlossen sie, an diesem Ort zu bleiben und auf den Besitzer der Fressalien zu warten; auch wenn er böse auf sie wäre, weil sie seinen Vorrat dezimiert hatten, wollten sie ihn um Hilfe bitten, er musste den Weg ins Freie kennen, vielleicht würde er sie sogar bis zur Erdoberfläche begleiten. Doch bereits nach wenigen Stunden bereuten sie ihre Entscheidung: Nichts deutete darauf hin, dass der Sammler zurückkehren würde, wahrscheinlicher war, dass er diesen Ort aufgegeben hatte, daher das verfaulte Obst und die vielen toten Insekten. Diese Kammer war nicht für die Lebenden gedacht, schoss es ihnen durch den Kopf.

Gerade, als sie sich wieder in die Finsternis wagen wollten, kam ein Schatten durch die Tür gehumpelt, stieß bei ihrem Anblick ein aufgeregtes Pfeifen aus und begann bedrohlich zu knurren.

Sein rechter Unterschenkel stand waagrecht in die Luft, Gilbert war auf seinen Beutezügen von einem Balkon gefallen. Er hatte zwar als Vierbeiner eine beachtliche Geschicklichkeit erworben, war aber gerade deswegen leichtsinnig geworden und hatte sich seine Ziele immer höher und höher gesteckt. Während er von Balkon zu Balkon gesprungen war, mehr ein Affe als ein Nager, war er abgerutscht und dabei mit einem Fuß im Geländer hängen geblieben. Also hatte er die Futtersuche abgebrochen und war in seinen Bau zurückgehinkt. Auf dem Weg in den U-Bahn-Schacht hatte er sich ständig umgesehen, er war das beklemmende Gefühl nicht losgeworden, dass sich ihm ein Raubtier näherte. Nun hatte er zwei Mädchen vor sich, denen die Finsternis sämtliche Farben von Gesicht und Kleidung gestohlen hatte: zwei Geister.

Gilbert machte es sich (so gut es ging) in seinem Nest bequem, krempelte das rechte Hosenbein hoch und untersuchte die Verletzung, die sich, von Schwärze angesteckt, ebenfalls schwarz verfärbt hatte. Das Geisterduo fragte, ob es in der Nähe ein Krankenhaus gebe, aber Gilbert hörte nicht zu, er hatte sich schon über das Bein gebeugt und begonnen, es abzubeißen.

Als er die Operation beendet hatte, reinigte er seine Zähne mit der Zunge und den Fingern. Die Schwestern, die ihm noch immer stumm gegenübersaßen, ignorierte er, akzeptierte aber die Haselnuss, die ihm Nummer Eins anbot. Nummer Zwei trug den abgetrennten Unterschenkel in den Nachbargang und stopfte ihn in einen Spalt, dann säuberte sie Gilberts Nest und streute trockenes Stroh auf die blutdurchtränkte Stelle.

Wie zahm er ist, dachten die Zwillinge, als sie ihm, wie jeden Tag, den Bauch kraulten und ihm Sonnenblumenkerne und Erdnüsse zusteckten. Ließen sie die Nuss auf der Hand, setzte er sich sogar auf ihre Hände, wobei diese vollkommen unter seinem Gesäß verschwanden. Da er sich weigerte mit ihnen zu sprechen – außer einem lauten Pfeifen kam nichts aus seinem Mund –, nannten sie ihn Hallo. Dies war das einzige Wort, auf das er reagierte. Auf die Idee, sich selbst mit Namen vorzustellen, kamen sie nicht. Es reichte ihnen, dass er wusste, wann er angesprochen war.

Sie begleiteten ihn überall hin, auch bei der Futtersuche, da er ständig das Gleichgewicht verlor und sich wunderte, wenn er umfiel. Manchmal versuchte er gar, sich mit dem Phantomfuß am Oberschenkel zu kratzen. Sein wohliger Gesichtsausdruck stand dabei ganz im Gegensatz zum Gelenk, das orientierungslos durch die Luft ruderte. Gilbert schien die Amputation vergessen zu haben, ebenso seinen Unfall; das Einzige, an das er sich erinnerte, waren gute Futterplätze und -verstecke sowie die Mädchen, die ihn mit Nüssen und Streicheleinheiten gezähmt hatten.

Aber auch die Zwillinge vergaßen; sie vergaßen, dass sie vor wenigen Tagen noch verzweifelt versucht hatten, einen Ausgang aus dem Labyrinth zu finden. Nun, da sie ihre genaue Position kannten, genossen sie Gilberts Gesellschaft und dachten gar nicht mehr daran, in ihr Zuhause zurückzukehren. An manchen Abenden wagten sie sich ohne seine Hilfe in die Oberwelt und brachten ihm einen Eimer voll Sand mit, den sie in seine Sandkiste schütteten, damit er ein Sandbad nehmen konnte. Ihr altes Leben vermissten sie nicht; an seinem Haar lasen sie den Wechsel der Jahreszeiten ab, im Oktober verlor es seine Farbe und wurde winterweiß, im Februar dunkelte es nach und wurde wieder hellbraun.

Gilbert wurde ihr Haustier und Anführer, was immer er befahl, sie folgten ihm. Er lehrte sie das Leben im Untergrund, und die Zwillinge revanchierten sich, indem sie ihm seine dreibeinige Existenz so angenehm wie möglich machten – zu angenehm, wie sich herausstellte: Er vergaß vollkommen, seine Zähne zu wetzen. So wuchsen seine unteren Nagezähne aus der Mundhöhle heraus und spiralförmig in seinen Oberkiefer, die oberen Zähne aber krümmten sich um sich selbst und durchstießen sein Kinn.

Kurz bevor Gilbert erstickte, streichelten ihn die ergrauten Zwillinge und stellten sich endlich vor. Du sollst unsere Namen erfahren, sagten sie, wir heißen Ida und Martha.

(Eine längere Fassung erschien 2017 im Erzählband „Fingerpflanzen“, Topalian & Milani)

Anna Kim wurde 1977 in Südkorea geboren, zog 1979 mit ihrer Familie nach Deutschland und schliesslich weiter nach Wien, wo die Autorin heute lebt. Im Suhrkamp Verlag erschienen zuletzt die Romane «Anatomie einer Nacht» (2012) und «Die grosse Heimkehr» (2017). Für ihr erzählerisches und essayistisches Werk erhielt sie zahlreiche Stipendien und Preise, darunter den Literaturpreis der Europäischen Union.

Illustration © leafrei.com

Ana Marwan «Wechselkröte»

Ich ziehe mich jeden Tag an, weil jeden Tag eine zwar kleine, aber durchaus realistische Möglichkeit eines Besuches besteht. Der Briefträger kommt oft, und ich nehme die Pakete durchs Fenster entgegen, das Fenster kann ich sofort aufmachen, während die Tür ganz woanders ist, und er läutet nicht zweimal, er geht einfach wieder, während ich zur Tür gehe, und dann muss ich mit dem Zug das Paket von der Post abholen, so mache ich das Fenster, das gleich bei der Glocke ist, auf, aber für ihn ziehe ich mich nur oberhalb der Hüfte schön an, das Fenster fängt bei der Hüfte an, mich zu umrahmen. In dem gebrachten Paket ist meistens eine Bluse für das nächste Mal. Ich bekomme Blusen per Post, weil ich sonst lange mit dem Zug fahren müsste. Ich kaufe Blusen aus einer Gewohnheit, die ich mir angeeignet habe, weil ich einmal Blusen gebraucht habe, um das Gefühl zu haben, dass ich eine Andere, eine Neue bin. Ich bestelle meine Blusen aber keineswegs wegen des Briefträgers selbst, damit er käme, meine ich, obwohl er einer meiner wenigen Besucher ist. Ich zwinge mich jedes Mal, ihm in die Augen zu schauen. Es gab einmal eine Zeit, da sah ich so viele Augen, dass ich sie einfach ausgeblendet habe, wie Stadttauben, jetzt sind es seltene Vögel geworden, die Augen meines Briefträgers sind taubengrau.

Für den Gärtner ziehe ich mich ganz an. Auch der Gärtner gibt mir keine fixen Besuchszeiten. Er kommt, wenn sich eine Lücke auftut, wenn er zufällig vorbeifährt, oder wenn jemand absagt, so haben wir das vereinbart, weil er „voll“ ist und der Einzige, und weil jeder einen Garten hat.

Ich werde wohl nichts Größeres machen wollen, nimmt er an, weil ich „nur ein Mieter“ und „nur vorübergehend“ da bin, sagt er, nachdem er das Unkraut ausgerissen hat – er hat einiges über die vergangenen Wochen in seinen Lücken ausgerissen.

Doch, ich will, dass es wuchert! Wild, gelb und violett, oder auch rot, was meint er? Was hält er von rot? Ich vertraue ihm …

Will ich das wirklich?, fragt er. Dann macht er hier alles schön, ich bezahle es, ich zahle viel, und dann ziehe ich weg. Und dann hat der, der nach mir kommt, hier alles schön. Will ich das?

Ich bin bereit, das in Kauf zu nehmen.

Er wird vorbeikommen.

Ich rufe eine Freundin an und frage wieder, wann sie mich besuchen kommt. Mein Haus ist groß und schön und die Natur auch, nur ist ungeteilte Freude keine Freude. Sie hat so wenig Zeit, und wo ich bin, ist es, leider, sagt sie, so entlegen. Ich habe einen Pool, sage ich. Schön, sagt sie. Der Pool ist nicht schön, der Pool ist voll mit Regenwasser, das Kröten und Gelsen anlockt. Ich muss auf eine Lücke des Poolmanns warten, weil jeder einen Pool hat, und ich früher hätte anrufen sollen. Auch die Freundin hat im Moment keine Zeit. Ich dachte, wir kriegen beide vierundzwanzig Stunden am Tag. Aber in vierundzwanzig Stunden muss sie, sagt sie, und fängt an Dinge, die wichtiger sind als ich, nach Wichtigkeit aufzuzählen. „Ich habe es verstanden“, unterbreche ich sie und füge noch „kein Problem“ hinzu, eine Unart, die ich eigentlich abzuschütteln versuche. Ich habe kein Gehör für fremde Probleme, sagt sie. Sie tut ihr Bestes, sagt sie auch. Leuten ist es egal geworden, wenn ihr Bestes kümmerlich ist, merke ich, sie betonen schamlos ständig, wie das, was sie tun, ihr Bestes ist.

Manchmal denke ich mir am Abend, wenn ich in den Spiegel schaue: Heute war ich umsonst. Ich schaue mich oft im Spiegel an, damit mein Gesicht nicht gänzlich ungesehen bleibt und sich selbst überlassen zu etwas wird, das sich dann nicht mehr geradebiegen lässt.

In der nächsten Lücke des Gärtners wird endlich eingepflanzt.

Er kommt mit ein paar hilflosen Sommerhüten, einem kleinen Sommerflieder, grauem Lavendel und noch sechs anderen Pflanzen, die ich in ihrer Armut oder in meinem Unwissen nicht erkenne. Sie dürsten nach einer anderen Erde als der unseren, die trocken ist und schon aufmacht, um Regen bittend. Kakteen wären besser, sage ich, aber ich vergesse ja, dass der Sommer nur vorübergehend ist.

Es sind nicht genug. Ich wollte, dass es wuchert!, sage ich. Nächstes Jahr werden es doppelt so viele sein, sagt er.

Er rechnet doch mit der Zeit, widersprüchlich ist er. Es macht mich oft wütend, dass man nichts dagegen tun kann, dass Leute sich selbst widersprechen. Das macht mein Widersprechen vollkommen sinnlos, und das ist das, was mich wütend macht – die Sinnlosigkeit.

Alles ist so nackt, ich meine kahl, ich hätte gern einen Baum, sage ich.
Bevor irgendwas halbwegs nach einem Baum ausschaut, ziehen Sie weg, sagt er. Einen erwachsenen Baum hätte ich gerne eingepflanzt.
Das geht schwer, es ist ziemlich wahrscheinlich, dass der sich nicht verwurzelt, sagt er.

Die Sonne pulsiert wie mein Herz, in gleichem Takt. Die Luft wird nur von den flatternden Vögeln bewegt, glaube ich. Sie nisten in den Kletterpflanzen an der Fassade. Unser Haus ist das lauteste. Ich möchte sagen, unser Haus singt, aber meistens zwitschert es nur vielstimmig. Die Vögel sind mäusegrau und unzählig. Sie scheißen schwarz-weiß. Wir sind hier fertig, alles passt schon so, ich gehe wieder hinein.

Ich schaue im Internet nach. Es gibt riesige Bäume zu kaufen in der Hauptstadt, die mehr Verständnis für das Vorübergehende aufbringt, die ich vermisse.

Der Baum wird geliefert, denke ich mir, in all seiner Länge, indezent und deplatziert. Er wird über die Mauern des Gartens ragen, und die Einheimischen mit ihren großen, über die Mauern ragenden Bäumen werden mir mein Überspringen der Wartezeit nicht gönnen, das tut man nicht, einen alten Baum verpflanzt man nicht, der verwurzelt sich nicht, wird gesagt, und ich werde fiebern und zuschauen, wie der Baum allmählich austrocknet und abstirbt, einen verfrühten Tod wird er sterben, und wie wird dann die Leiche beseitigt? Wie ich mich kenne, wird der ausgetrocknete Baum ein- fach in der fremden Erde stecken bleiben, ein Zeichen meiner Ungeduld, meines Übermuts. Es ist mir egal, was die Nachbarn über mich reden, aber ich gönne ihnen keine Schadenfreude; ich werde keinen Baum bestellen.

Ich kann Gott sei Dank gut meine Vorstellung so lenken, dass ich nichts Gröberes tun muss. Alles passt, wir lassen das Ganze dem Himmel ausgesetzt, und ich bestelle einen Sonnenschirm.

Ich gehe eh nicht viel raus, ich habe wenige Gründe rauszugehen, und viele, nicht rauszugehen. Wenn ich rausgehe, setzen sich zehn, zwölf, zwanzig Gelsen auf mich und saugen mein Blut, auch bei strahlender Sonne. Bei Dämmerung ist von Gelsen alles grau. Es gab noch nie so viele Gelsen und Fliegen, hat der Gärtner gesagt, das erfreut die Vögel. Ich verstehe, dass ich für ihr Singen mit Gelsen bezahlen muss.

Ich lüfte selten – ich will die Fenster nicht aufmachen. Ich lüfte nur ab und zu zu Mittag, wenn es am Heißesten ist, damit so wenig Gelsen wie möglich hereinkommen. Es kommen aber Fliegen her- ein und reiben sich ihre Hände. Wenn das Fenster offen ist, zwitschert es, wenn es zu ist, summt es.

Ich ziehe die Bluse, die mir der Briefträger gebracht hat, an und fahre mit dem Zug Gelsennetze be- sorgen. Ich will mich beraten lassen, damit ich das Gefühl loswerde, dass das Internet meine einzige Verbindung zur Außenwelt ist.

Der Winter war lang. Unter der FFP2-Maske ist mein Gesicht faul geworden, ich fühle es. Maskenhaft. Als der Sommer kam (ich nehme an, man lebt jetzt nur sommers ganz), lebte ich aber schon entlegen. Es war einmal so, dass ich immer für jeden ein frisches Gesicht hatte. In der Gruppe hatte ich ein Gruppengesicht. Jetzt hatte ich schon lange kein frisches Gesicht mehr, ich trage nur zwei, drei, wenn ich das Briefträgergesicht, das ich nur für einen Bruchteil des Tages aufsetze, mitzählen kann; alle meine unbenutzten Gesichter faulen ins Unbenutzbare.

Auch meine Zunge ist aus der Übung. Ich sollte mehr mit mir selbst reden. Als ich dem Verkäufer meine Lage schildere, kommen mir meine Sätze wie ein Stück vor, das ich lange nicht gespielt habe – ich irre mich viel, aber ich weiß, nur ich, dass ich es gleich wieder können könnte.

Weiße Gelsennetze sind aus. So schaut geteiltes Leid aus. Ich nehme die schwarzen und hänge die Trauerspitze überall auf.

Wegen der Trauerspitze kann ich jetzt kein Paket mehr entgegennehmen. Beim letzten Mal hat der Briefträger bei der Übergabe kurz meine Hand berührt, seine Augen verschwiegen aber die Absicht, ließen an ihr zweifeln, meine ich. Ich erzähle ihm von der Gelsenplage und frage, ob er warten würde, wenn die Übergabe künftig durch die Türe erfolgt. Er sagt kein Problem, er kann läuten und das Paket bei der Tür abstellen. So. Ich bilde mir ein, er hätte auf mich gewartet, wenn die Spitze weiß wäre. Es wird für mich zunehmend schwer, Dinge zu finden, auf die ich die Schuld für Ereignisse schieben könnte.

Ich gehe in den nächsten Tagen nur im Garten spazieren, dem ummauerten, dem uneinsehbaren, in dem ich einen breitkrempigen Hut tragen kann und die Trauerspitze drüber, bis zum Boden. Ich zeige mich nicht, ich weiß, was normal ist und ich bin anpassungsfähig, ich kann mich sowohl den Gelsen als auch den Nachbarn anpassen, ja, es dauert ein bisschen, der Prozess ist wie bei einer Geburt schmerzhaft und schmutzig, jedoch verhältnismäßig kurz, und bald ist alles vergessen, als ob nichts wäre, und alles selbstverständlich, auch wenn der Unterschied zwischen der Welt der Ungeborenen und der Welt der Geborenen nicht größer sein könnte. Bald also werde ich so wie alle an- deren Frauen meines Alters, die alle jünger sind, die entlegen wohnen, alles mit 40 bunt waschen. Keine Seide wird mehr sorgfältig von mir gebügelt. Was werde ich mit den ganzen Zeitersparnissen anstellen? Nichts, ich werde sie nicht merken, ich weiß, die Zeit lässt sich nicht sparen, man kann sie nur verschwenden, im Sekundentakt.

Wie würde ich leben, würde ich leben?

Es ist heiß, und ich spiele mit dem Gedanken, mich in den Pool zu werfen, in das Regenwasser, oh Gott, nicht um mich abzukühlen, sondern um Ekel zu empfinden und mich dann wieder sauber machen zu können, damit das, wie ich bin, anders ist als das, was ich kurz davor war. Nachdem das zu umständlich ist und es sich Gott sei Dank, wie so vieles Andere, schon in meiner Vorstellung erschöpft hat, möchte ich, vernünftiger, mit dem Regenwasser die Neueingepflanzten gießen, die Armen, als ich merke, dass die Kröte im Wasser von außergewöhnlicher Schönheit ist. Das Internet sagt, es ist eine Wechselkröte. Leicht mit einer Kreuzkröte zu verwechseln, aber selten und teuer und gefährdet und schutzbedürftig. Ich empfinde eine Anwallung von Selbstliebe, weil ich die außergewöhnliche Schönheit gleich bemerkt habe, obwohl sie mit Gewöhnlichem leicht zu verwechseln ist.

Ich rufe bei der Landesregierung an. Die Fragilität der Ökosysteme, die mich davon abhält, das Tier gedankenlos zu übersiedeln, wird von dem Mann, zu dem ich verbunden worden bin, bestätigt. Ich fühle mich gestreichelt. Wir reden über die Kröte. Sind die Marmorflecken an ihrem Rücken deutlich voneinander abgegrenzt? Ich bestätige. Das Wort Marmor klingt für mich beruhigend, merke ich. Bufo variabilis, sagt er. Velut Fortuna, denke ich. Wir beide haben uns gegenseitig unser Wis- sen wachgeküsst, auch manche seiner Tage in RU5 müssen bestimmt vergehen, ohne dass er mit wem spricht, bestimmt muss auch er in den Spiegel schauen, um sich zu fangen. Ich richte in einem Eimer alles so ein, dass sich der Bufo wohlfühlt, ich folge den Anweisungen mit einer eifrigen Dankbarkeit. Ja, ich vermisse die Tage der Kindheit, in denen man noch so lieb war, mir Anweisungen zu geben. Ich werde berichten, wie der Transport gelaufen ist, sage ich beim Abschied. Der Krötenmann sagt: „Das ist aber wirklich nicht nötig.“ Das war unnötig.

Trotzdem ziehe ich ein kleines, dünnes Müllsackerl über die Hand und fische die Kröte heraus. Sie ist so weich, dass sie Zärtlichkeit in mir hervorruft. Ich kann sie nicht anders als sanft halten, auch wenn es mich interessieren würde, wie stark man noch drücken kann, bevor es unwiderruflich zu viel wäre. Wie mich das Unwiderrufliche immer lockt und so tut, als ob es nicht unmöglich wäre!

Es sind zwei Stationen zur Donauau. Im Wald bin ich allein, ich kann wieder das Netz tragen. Ich setze mich auf das Moos und lasse die Kröte frei. Sie scheint mir glücklich, aber nicht dankbar zu sein. Das ist schön, bisher hat meine Barmherzigkeit immer eher im Umgekehrten geendet. Vielleicht sollte ich mich von den Menschen gänzlich abwenden und den Kröten ganz zu. Sie bewegt sich langsam weg von mir, ich bleibe auch dann noch sitzen, als ich sie nicht mehr sehen kann, etwas in mir wehrt sich dagegen, die ganze Fahrt in die entgegengesetzte Richtung mit einem leeren Eimer zu wiederholen. Es dauert mindestens eine halbe Stunde, bevor es für mich möglich ist auf- zustehen. Man hat oft eine ganz falsche Auffassung von dem, was für mich möglich ist. Oft glaubt man, es sei alles eine Sache der Entscheidung, des Willens, aber nein. Nein. Nicht einmal ich selbst kann jedoch sagen, kann berichten, worin die Unmöglichkeit liegt. Irgendwo zwischen dem Gedanken und der ersten Handlung, natürlich, aber dieser Raum ist dunkel und unendlich.

Abends kann ich nicht schlafen, weil unter dem Schlafzimmerfenster ein Kanaldeckel liegt. Und Autos fahren immer drüber. Und Autos fahren immer. Zu jeder Unzeit, was gibt es da so viel zu fahren, auch das würde ich gerne wissen. Ich finde es unfair, dass ich gleichzeitig an einer befahrenen Straße und entlegen lebe, unfair finde ich es, als ob ich ein Kind wäre.

Die Verhütungspille liegt mir schwer im Magen. 14 Tage sinnloser Schutz vor dem Entstehen von Leben, kein Entstehen des Lebens droht. Ich könnte mich ohne Pille und ohne Rock in den Vorgarten legen, der Briefträger würde über mich steigen, anläuten und das Paket ablegen.

Drei Wochen später sagt mein Frauenarzt: „Sie sind schwanger“, sagt er. Das ist unmöglich, sage ich. Ich sage, ich nehme die Pille. Er fragt, ob ich immer alle genommen habe. Ich sage summa summarum. Er fragt, was summa summarum heißen soll. Er sagt, das ist echt ein Wunder. Dann schimpft er mich. Das Wort „verrückt“ fällt. Ich glaube, ich gehe nicht mehr zu ihm, ich werde nächstes Mal zu einem anderen gehen und ihm mein Wunder zeigen; frisch anfangen.

Ich sitze still eine Stunde lang im Schlafzimmer und überlege, wen ich anrufe. Die Freundin würde sich freuen, sie würde meinen, dass ich jetzt auch sehen werde, wie man keine Zeit mehr haben kann, und dass wir uns jetzt öfters treffen können, der Unterschied im Alter unserer Kinder wird ja nicht allzu groß.
Ich rufe meine Schwester an.
Ich sage: Eine Eisenkugel an einer Kette um meinen Fuß.
Sie sagt: Ein Eisennagel, mit dem du dich wieder der Welt anheften kannst.

Meine Vorstellungskraft muss das Metaphorische verlassen, zum Konkreten übergehen. Die kommenden Tage ist mein Leben nichts mehr als eine konkrete Vorstellung.

Ich stelle mir vor, es hat keine Kiemen mehr, es ist weder Fisch noch Fleisch, aber der Arzt meint trotzdem, es sei zu spät, ich hätte zu lange gewartet.

Ich stelle mir vor, alle berühren mein Bauch, absichtlich; alle fragen, was es wird, und meinen dabei das Geschlecht. Alle fragen, ob wir schon einen Namen haben. Nein, nein, sie meinen einen Namen für das Kind!

Ich stelle mir vor, es kommt und ich vergesse mich.

Das Vergessen wird immer wieder kurz unterbrochen, wenn alle, denen ich begegne, ein Urteil fällen, ob es ganz die Mama ist oder ganz jemand anderer.

Manchmal möchte ich vielleicht weinen, aber ich komme nicht dazu. Oder bilde ich mir meinen Wunsch nur ein und ich kann gar nicht mehr weinen? Ist es geboren, ausgesondert, veräußerlicht (wie ein Gedicht?) mein Weinen, mein Kind?

Vielleicht hoffe ich manchmal, dass mir die Last abgenommen wird. Aber ich ahne in dieser Hoffnung eine dunkle Freiheit, die ich nicht überleben würde. Meine Freiheit muss ich von jetzt an innerhalb meiner Zelle denken.

Ich stelle mir vor, es ist eins. Der Mann kommt aus der Arbeit und streichelt das Kind. Sanft und liebevoll, hingebungsvoll. Er ist voller Liebe, das sehe ich. Kein Hass ist ihr beigemischt, das Kind liegt nur da, tut nichts, was man ihm verübeln könnte, es tut nichts. Es ist willenlos. Machtlos auch. Die Liebe des Mannes aber strömt ihm entgegen, sie hat meinen Mann in Besitz genommen, die Liebe, sie benutzt seine Hände und seine Augen nach ihrem Belieben.
Es lacht, wenn man es am Bauch kitzelt. Es ist ihm egal, dass der Mann einen Tag später aus der Arbeit gekommen ist. Auch ich versuche, im Moment zu leben. Im Moment sehe ich vor mir einen verspäteten Mann, der seine ganze Liebe dem Wesen schenkt, dem er egal ist. Ich überlege nicht, mich auf den Boden zu legen, das Hemd zu heben und vom Bauch zu erwarten, dass er zum kitzeln einlädt, nein.

Ich stelle mir vor, mein Gesicht ist ein Muttergesicht, eine nicht abnehmbare Maske.

Ich stelle mir vor, seine Augen sind blau. Reines Blau, das mich stört. Wie ein heiterer Himmel, der in mir schon immer Unbehagen auslöste, wie alles Regungslose. Ich halte meinen Kopf von Natur aus gesenkt, ich mag alle Farben der Erde. Im Blau seiner Augen finde ich nichts Heimisches.

Ich stelle mir vor, es ist vier. Es bricht alle Mauern um mich. „Ja, bist du nicht süß … Wie alt bist du denn?“, wird es von den Nachbarn angesprochen. Und es ist schüchtern, es nimmt meinen Rock wie einen Vorhang und taucht sein Gesicht hinein. Es fühlt sich sicher, schon hier, denn sonst ginge es noch tiefer hinein, unter den Rock, das macht es manchmal, mein Rock sein Bunker. Ich bemit- leide es, weil es sich bei mir am Sichersten fühlt.
Es ist komisch, Mitleid zu sagen, denn ich glaube nicht, dass es leidet, wenn es vier ist. Es weiß noch nicht genug, um richtig zu leiden.

Dann ist es fünf. Es redet schon, viel, zu viel. Ich stelle mir vor, ich bringe ihm eine ausgedachte Sprache bei, die uns verbindet und alle anderen ausschließt. Es ist ja so ein Vorteil für Kinder, wenn sie zweisprachig aufwachsen. Angeblich lernen sie dann auch andere Fächer leichter. Meine Sprache wird über all die fehlenden Wörter verfügen, zum Beispiel ein Wort für das Gefühl der falschen Liebe wird es geben und auch ein Wort für die Mischung aus Dankbarkeit und Verachtung, die man fühlt, nachdem einem jemand, den man als schwächer betrachtet hat, Hilfe geleistet und sich dabei großzügig gefühlt hat, und so weiter, die Grenzen unserer Sprache werden ausgedehnt, seine Welt wird groß.

Leute könnten meinen, es sei komisch, dass ich mein Kind „das Kind“ nenne und nicht beim Namen. Da ich ja so gerne Dinge beim Namen nenne, ist das der Grund, dass es ihnen komisch vor- kommt? Auch sonst werden sie vieles „nicht richtig“ finden.

Es ist acht. Es ist nicht aus meiner Erde. Nichts Heimisches in seiner Stimme. Es redet wie die Nachbarn.

Ich stelle mir vor, ich weiß zu einem Zeitpunkt dann aus Erfahrung, dass ich mich immer dann stark fühle, wenn sich meine Last kurz hebt. Dass die Last ihr eigenes Leben hat und auch Flügel. Dass nichts mein Verdienst ist bzw. wenig.

Ich bin für es da. Ich bin für es gemacht worden. Ohne es wäre ich nicht. Das glaubt es. Unsere Wahrheiten sind gegensätzlich.
Aber es fühlt seine, während ich meine nur weiß, und ich fühle seine, während es meine nicht weiß. Es gewinnt. Es gewinnt immer. Es obsiegt.

Ich stelle mir vor, dass das Vorübergehende zur Gewohnheit wird. Dass ich mir denke: Wenn ich einen kleinen Baum beim Einzug eingepflanzt hätte, wäre er jetzt schon groß, mein Kind könnte in seinem Schatten spielen, schade, dass ich das nicht gemacht habe.

Ich stelle mir vor: Wenn es so viel Platz einnimmt, wie ich in seinem Alter einnehmen wollte, als mein Wollen stärker als mein Können war, kann ich mich gleich aus dem Fenster werfen. Ich bin nicht so stark wie meine Mutter, ich werde nicht standhalten und bald wird dort, wo ich war, es werden.

Es ist zehn. Es erzählt mir, dass die Katze, wenn es sie auf den Schoß nimmt und streichelt, vor Genuss ihre Krallen in seine Oberschenkel bohrt, und dann muss es die Augen zusammenkneifen, um den Schmerz zu ertragen, und ich denke mir danach: Mein Kind ist besser als ich, es nimmt den Schmerz bei seiner Zuneigung in Kauf.

Ich stelle mir vor, es hat mich lieb, und einmal sagt es mir: „Niemand hört so gut zu wie du.“ Und dass ich, indem es mich lobt, erst das Ausmaß meiner Selbstverleugnung merke.

Es ist dreizehn. Ich stelle mir vor, ich nehme es ihm übel, dass sein mittelmäßiges Musizieren für alle mehr wert zu sein scheint als mein eigenes, das von Professor Pokorny einmal „genial“ genannt wurde.

Ich stelle mir vor, ich habe vergessen, dass ich mich schon kurz vor ihm aufgegeben habe.

Ich stelle mir vor, es ist sechzehn und es sieht nur sich und die Welt und seine Zukunft in der Welt, die Welt und sich dicht verflochten, ein starkes Bündnis, das ihm all der verfehlten Erziehung zum Trotz, der schwierigen Mutter zum Trotz, gelungen ist, das Ganze hat es nur stark gemacht, und das Traumatische wird sogar zum Schöpferischen, auch so ausgesprochen, dem Klischee zum Trotz, es ist noch so jung, dass für es noch nichts von dem Lebensbetreffenden ein Klischee ist.

Es ist vierundzwanzig und es zieht aus, und ich schreie und es atmet auf, wie bei der Geburt.

Ich stelle mir vor, es ist vierzig und besucht mich aus Pflichtgefühl, es ist schließlich gut erzogen, es tut so, als ob es mir zuhört, es nickt und Mhm Mhm meint, und ja, ja, es geht ihm auch gut, nein, nix Neues, nix Erzählenswertes, nein, seine Freundin ist noch nicht schwanger, sie konzentriert sich eher auf …

Es ist sechzig und redet mit mir wie mit einem Kind, gedanklich ist es anderswo, es möchte anderswo sein, aber ich lasse es noch nicht gehen, eine meiner Bruthennenkrallen bleibt in seiner Strickjacke hängen, mein Wunsch, dass es bleibt, ist stärker als sein Wunsch, wegzugehen, alle seine Wünsche sind momentan eher farblos und schwach und ich denke mir: Dafür habe ich dich bekommen? Von diesem Besuch im Altersheim haben alle geredet, als ich dich nicht wollte?

*

Es tut sich eine Lücke auf bei dem Poolmann. Einen Tag, bevor der Mann wieder zurück ist, wird der Pool endlich schön. Ich schätze, wir haben gute drei Wochen, in denen wir nackt baden können, dann muss er für die Überwinterung vorbereitet werden. Als ich auf den Poolmann beim Pool warte, sehe ich im Wasser einen Laich. Ich rufe nochmals bei der Landesregierung an. Ich werde mit einem anderen Mann verbunden und muss deshalb die ganze Geschichte von vorne erzählen, was mich ermüdet und verstimmt. Der Poolmann unterbricht mich mit seiner Ankunft. Ich bitte ihn zu warten. Es ist heiß, die Sonne strahlt Hitze und Schwindel aus. Der Mann von der Landesregierung kennt sich nicht so gut aus wie der Mann von Letztens, das Gespräch mit ihm ist zermürbend. Ich höre etwas Zaghaftes in seiner Stimme, als er sagt, der Laich muss nicht geschützt werden. Trotzdem und ohne mich zu bedanken lege ich gleich auf und sage dem Poolmann, es kann alles abgesaugt werden.

«Wechselkröte» ist der Siegertext des Ingeborg Bachmann-Wettbewerbes 2022. literaturblatt.ch dankt Verlag und Autorin für die Erlaubnis, den Text wiedergeben zu dürfen!

Ana Marwan «Wechselkröte», zweisprachig D/SLO, ins Slowenische übersetzt von Amalija Maček, Otto Müller Verlag, 2022, 60 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-7013-1307-5

Anna Marwan, 1980 in Murska Sobota/SLO geboren, aufgewachsen in Ljubljana. Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft in Ljubljana und der Romanistik in Wien. Lebt als freie Autorin auf dem Land zwischen Wien und Bratislava und schreibt Kurzgeschichten, Romane und Gedichte auf Deutsch und Slowenisch. Augezeichnet mit dem exil-literaturpreis „schreiben zwischen den kulturen“ 2008, dem „Kritiško sito“ für das beste Buch des Jahres in Slowenien 2022 und dem Ingborg Bachmann-Preis 2022. „Der Kreis des Weberknechts“ (2019, 3. Aufl.) ist ihr Romandebüt. Am 23. Februar 2023 erscheint der neue Roman „Verpuppt“ (aus dem Slow. von Klaus Detlef Olof) im Otto Müller Verlag.

Ana Marwan ist am 23. März Gast im Literaturhaus Thurgau!

Beitragsbild © Una-Rebic

Frank Keil-Behrens „Ich weiß nichts über meine Familie, suche sie aber trotzdem“ – ein erster Auszug

„Tut mir leid“, sagt meine Großmutter, „Sie haben sich verwählt.“ „Wen wollen Sie denn sprechen?“, fragt sie beim nächsten Mal. Ich höre sie atmen, dann klickt es in der Leitung. 
„Frank?“, fragt sie, bevor ich etwas sagen kann. Sie fragt: „Du hast noch das Auto?“

Wir vereinbaren den Tag, die Uhrzeit, mehr besprechen wir nicht, so ist es immer, sie ist wie sie ist. Sie steht unten auf dem Parkplatz vor ihrem Wohnblock, sie steht da in ihrem blauen Mantel, mit ihrem Gehstock, auf den sie sich mit beiden Händen stützt. Ich halte an, ich steige aus, ich helfe ihr beim Einsteigen und Anschnallen, ich rieche ihr Parfüm, leicht seifig riecht es, wir lächeln uns an, ich steige wieder ein, starte den Wagen, einen roten VW-Käfer, den ich bald verschrotten lassen muss, wir fahren los. 
Es geht in den Sonnenland, am Einkaufszentrum vorbei, ich biege rechts in die Kapellenstraße ein, ich folge der Straße zum Friedhof vorbei, auf dem meine jüngere Schwester beerdigt liegt. „Petra“ steht auf ihrem Grabstein, es fehlt ihr Nachname, es fehlt der Tag, an dem sie geboren wurde, es fehlt der Tag, an dem sie starb, ein erster September, der nachmittags noch herbstmild wurde, nachdem es am Vormittag geregnet hatte, so wie um uns doch noch ein wenig zu trösten, nachdem der Bestatter seinen in Kunstleder eingeschlagenen Katalog mit den verschiedenen Sargmodellen, Blumenbestecken und Totenhemden zugeklappt hatte und gegangen war. Meine Großmutter hält ihre Handtasche auf dem Schoß, und sie hält sie fest, sie schaut geradeaus.

„Fahr‘ erst mal“, sagt meine Großmutter, sie blickt durch die Windschutzscheibe, als sei alles neu für sie, was sie um sich herum sieht, die Bäume am Straßenrand, die Steinbeker Kirche, die hinter den Häusern hervorlugt und die auf einem Geesthang erbaut wurde, wie ich mal im Gemeindebrief gelesen habe, während ich die Gänge schalte und ich mich langsam entspanne. Vielleicht schaffe ich es nachher noch ins Büro.
Mal geht es in die Vier- und Marschlande, wo sie Balkonpflanzen kaufen will, falls wir an einer Gärtnerei vorbeikommen. Mal führt es ins Lauenburgische, wo es bald waldig wird und es nach nassen Nüssen und Moos riecht. Diesmal aber geht es zur Tatenberger Schleuse. Wir schauen auf die Bauernhäuser mit den Gewächshäusern, wir schauen auf das Schleusenbecken, wo gerade Wasser eingelassen wird, dass strudelnd vorwärts drängt. Ein Segelboot mit eingeklapptem Mast wartet auf die Weiterfahrt. Ein Mann steht auf dem Vorderdeck und hält die Leine konstant stramm, mit der das Boot an einem eisernen Ring festgebunden ist. Wir kehren um, wir halten an den Gasthof, an dem wir zuvor vorbeigefahren sind, beide werden wir Gulasch bestellen, dass auf der Schiefertafel vor dem Eingang angezeigt ist, dazu Kartoffelsuppe als Tagessuppe vorweg. „Viel los ist ja hier nicht“, flüstert meine Großmutter und nickt in den leeren Gastraum, in dem bestimmt 50 Personen Platz finden könnten, am Wochenende, wenn die Motorradfahrer einfallen. Aus der Küche kommt leise Musik, manchmal hören wir Stimmen. Der Wirt scheint ein Lied zu summen, doch als er schwungvoll den Gastraum betritt, verstummt er und stellt uns wortlos die Teller hin, erst meiner Großmutter, dann mir, wie es sich gehört. „Lass es dir schmecken“, sagt meine Großmutter, die ihren Hut nicht abgesetzt hat. Sie sieht mich aufmunternd aus ihren mittlerweile wassertrüben Augen an. Sie legt sich die Serviette in den Schoß, faltet sie nicht auseinander.

Sollen wir noch ein paar Schritte gehen? Wir gehen noch ein paar Schritte. Gehen kurz über den Gaststättenparkplatz bis zur Hauptstraße, langsam gehen wir, Schritt für Schritt, meine Großmutter ist jetzt 81 Jahre alt, 1910 geboren, sie erwähnt es manchmal. Sie hakt sich bei mir unter. „Das war ein schöner Ausflug“, sagt sie und ich weiß, dass wir nun umkehren werden. Und wir steigen wieder ein, und ich fahre auf die Stadt zu, die sich langsam vor uns aufbaut, in weiter Ferne die Hauptkirchen, der Fernsehturm, dann die Lagerhallen im Billwerder Industriegebiet, die näherkommen, als wir ostwärts abbiegen, als wir den Unteren Landweg entlang fahren, verschiedene Kanäle überqueren, die Grüne Brücke nehmen, Richtung Billstedt fahren wir, es ist dichter Verkehr, der Nachmittag bricht an, nicht jede Ampel ist nach einem Stopp zu nehmen. „Viel Verkehr“, sagt meine Großmutter zu dem vielen Verkehr und ich versuche mich zu erinnern, ob ich eigentlich gerne bei ihr war, an manchen Wochenende, wenn in der Tischlerei am Deich, in dessen Werkswohnung sie mit ihrem Mann wohnte, niemand arbeitete und auch sonst.

Frank Keil-Behrens, 1958 in Hamburg geboren und aufgewachsen, hat an der dortigen Universität studiert, hat die Stadt nie wirklich verlassen. Er arbeitet als freier Kulturjournalist für verschiedene Print-Medien und Magazine. Er ist Mitbetreiber der Plattform maennerwege.de und stellt dort regelmäßig das „Männerbuch der Woche“ vor; außerdem ist er Deutschland-Redaktor für das Magazin ERNST. Für sein Roman-Projekt „Ich weiß nichts über meine Familie, suche sie aber trotzdem“ bekam er einen der Hamburger Literaturpreise 2022.

Laudatio Hamburger Literaturpreis:
«Ein Mann betrachtet seine Leute, seine Familie. Vater, Großmütter, Großväter, Onkel, Mutter, ihr Herkommen, was sie werden wollten, was sie geworden sind. Ihr Leben im Osten, ihr Leben im Westen oder das im Dazwischen. Der Auftrag der Großmutter: Einmal musst du unsere Familiengeschichte aufschreiben, damit sie nicht verloren geht. Und das tut der Ich-Erzähler, der Frank heißt wie sein Schöpfer und in der Erzählgegenwart 1991 berichtet, das Epochenereignis »Mauerfall « drängt sich dem Leser, der Leserin auf. Aber es ist in diesem Familienporträt lediglich ein ferner Wink der Geschichte. Frank Keil-Behrens, den wir besonders in Hamburg seit vielen Jahren als Betrachter des kulturellen, des literarischen Lebens kennen, durchschreitet in seinem Roman- projekt, das wir gerne unter dem literarischen Trend des autofiktionalen Erzählens subsumieren, ein Erinnerungsdickicht, in dem die Generationen auf deutsch-deutsche Weise miteinander verbunden sind und die Erfahrungen ineinanderragen. Eine sensible Suchbewegung hin zur eigenen Herkunft, in einer kraftvollen und doch leisen, melancholisch grundierten Prosa. Sie schaut auf die Verluste, die ein Menschenleben anhäuft; jeder Mensch steht vor dem anderen und verbirgt sich diesem doch,
 so gut er kann. Hier ist einer, der damit aufhören will, nichts über seine Familie zu wissen, und dieser Prozess von Nachforschung und Einfühlung entwickelt die berühmte literarische Sogkraft, der man sich nicht entziehen kann.»
Thomas Andre

Webseite des Autors

Beitragbild © Petra Behrens

Bert Strebe «Von dir, von mir»

Für dich

 

du bist den ganzen weiten weg gekommen
mit deinen seidigen wörtern und der erde an den sohlen
und mit der eisenbewehrten scherbe
die du in deiner linken herzkammer verwahrst

ich habe ein kissen gefüllt mit gras und blüten
und die schafwolldecke liegt bereit

der wind zerrt an der stadt doch das muss uns nicht kümmern
lass dein fieber einfach auf dem esstisch liegen

ich wärme deine füße du trägst meinen ring

***

 

Für jeden einzelnen Tag

 

es gab keinen anfang und es gibt kein ende 

du hast mich angeschaut und meine hand berührt 
ich habe wasser geholt für dich
wir haben geatmet 
wie am tag zuvor

und es war wie zuvor bloß eine winzigkeit leichter
und seitdem ist das so an jedem einzelnen tag

du gehst deinen weg und ich gehe meinen
und keiner von uns geht vom anderen fort

***

 

Für unsere Eltern

 

zwischen den müttern liegen fast fünfzehn jahre
zwischen den vätern zwei tagesreisen

sie haben unsere knochen gefügt und uns die augen gefärbt 

sie haben uns unser alleinsein zugeteilt

und alles was das alleinsein heilt

jeden morgen noch vor der dämmerung
beugen sie sich über uns

dann gehen sie und trösten den traurigen tod
dass er sanft wird und schwebend wie schnee

***

 

Für unsere Kinder 

 

wir haben federn unter ihre herzen gelegt
und ihnen felsen an die füße gebunden

wir haben ihre adern einzeln ausgewaschen
und jede träne für sie vorgeweint

wir wollten sie nicht beschweren

aber wir haben es getan und sie sind gewachsen

sie haben in unserem atem geschlafen 
so lange bis es ihr eigener war

wenn sie die augen schließen sind wir da

***

Für Scott

 

er hat sich nach den ersten drei nächten 
sein ganzes weh aus dem fell geschüttelt 
und hat es unter dem fußboden vergraben

von da an hat er mein weh getragen 
und ein stück von deinem

und als ich nicht bei mir war war er bei mir
und als du nicht bei dir warst war er in deinen träumen

wäre er nicht da wäre ich nicht mehr da
und du wärst hinter den rippen wund

***

 

Für die Engel und die Frierenden

 

dies ist für die die millionenmal zuhören mussten
für die die von ferne gedichte geschickt haben
für die die balsam in den nachtwind gemischt 
und rote streifen an die wolken geklebt haben
dies ist für die engel 

und die die schwiegen und ihre kalten arme verschränkten
die bekommen ein lächeln 

dies ist für die die da waren wo ich nicht war

dies ist für die die da waren wo du nicht warst

***

 

Für den Bussard, der am Morgen des 25. Juli 2015 auf der umgestürzten Eiche im Warper Wald sass und sitzen blieb

 

ich hätte ihn beinahe berühren können

aus seinen augen rieselte ruhe 
auf blatt und halm und borke und mich

einmal hob er die gelbe kralle 
da muss er die angst erwischt haben 

dann zog er sich plötzlich luft unter die schwingen
und die federn vibrierten und der wald fiel in schweigen

doch er faltete die flügel und legte sie zurück
und sagte deinen namen und sagte dass er bei mir bleibt

***

 

Für mich

 

dass ich immer blumen auf den tisch stelle 
dass ich eine kerze anzünde zum essen
dass ich das kreuz mit dem brotmesser schlage
dass ich das licht durch den tag wandern sehe
dass ich das leben achte 
auch meins
das habe ich von dir gelernt

und dass ich nicht mehr traurig bin
von mir

***

 

Für uns

 

komm wir gehen ein stück und schweigen

dann gehen wir noch ein stück und schweigen wieder

dann reden wir dann biete ich dir meinen arm 
und etwas später stehen wir 
und halten uns 

dann ziehen die wolken und von diesem moment an
wohnt die sonne in dir in mir

jetzt können wir schlafen und wieder wach werden
und tanzen und zu hause sein

***

Bert Strebe, geboren 1958 in Hunteburg, zu Hause in Hannover. Jahrzehntelang Redakteur, vor allem bei der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung. Erster Gedichtband 1999 bei Eric van der Wal, seitdem literarische Veröffentlichungen in unregelmässigen Abständen. Aufsätze, Reportagen, Porträts für die Zeitung.

René Frauchiger «Gespräche und Geschichten»

Die Gabel

Er schneidet sein cordon bleu, sie stellt das Weinglas wieder auf den Tisch. «Weisst du, Mari, ich weiss eigentlich gar nicht mehr, wie du aussiehst», sagt er. «Ich sehe dich da und sehe dich auch nicht. Wenn ich auf deine Wangen sehe, denke ich immer nur, ich sehe wieder die gebleichten Küchenwände unserer ersten Wohnung im Schangnau, als ich Möbel ausgeliefert habe für den Steffen. Am Abend sind wir am Küchentisch gesessen und unter der Lampe hat alles dieselbe Farbe gehabt. Deine Wangen hatten den matten Schimmer, wie die Wand hinter dir. Und diesen Schimmer sehe ich jetzt noch auf deinen Wangen, da kann man nichts machen. Und deine Augen, das sind die Augen vom Sean. Das sind Kinderaugen für mich. Sie sagen mir immer, wie er hat Landschaftsmahler werden wollen und du stolz auf ihn gewesen bist und ich nur gemeint habe, dass man damit kein Geld verdiene, auch wenn er Talent habe, was ich nicht beurteilen könne. Dabei haben mich die Augen vom Sean zuerst an deine Augen erinnert und nun ist es umgekehrt. Und bei deiner Stirn ist der Huttwiler Wald, wo wir uns immer gestritten haben, das Moos an den Bäumen, wo du deine Stirn daraufgelegt hast und immer, wenn ich gedacht habe, dass du weinst und ich dir einen Arm um die Schultern gelegt habe, hast du zu wüten angefangen und mich beschimpft und auf deiner Stirn ist noch etwas Moos gewesen, was du nicht weggemacht hast. Und bei deinen Haaren sehe ich wieder die Scheiben meines Alten VWs, die innen sich beschlagen haben im Winter, als wir das erste Mal miteinander geschlafen haben, weil deine Eltern mich dich nicht besuchen lassen wollten und wir uns draussen getroffen haben, auch im Winter und deine Haare sind über die Scheibe geglitten und feucht geworden und du hast dich geekelt vor dem feuchten Haar, dass ich dich nicht mehr habe berühren dürfen an dem Abend. Aber wenn ich deine Lippen ansehe, dann sehe ich auch meine Wohnung in Aarwangen, wo du nie gewesen bist, den Velourteppich der Wohnung, ich weiss nicht weshalb. Damals als wir uns getrennt haben für zwei Jahre und du mit diesem Basler zusammen warst. Da bin ich oft auf diesem Velourteppich geschlafen, weil mir das Bett zu leer gewesen ist und mein Gesicht ist am Morgen wund gewesen von diesem Teppich. Das kommt mir in den Sinn, wenn ich deine Lippen ansehen. So ist das: Bei den Wangen die Küchenwände in Schangnau und bei den Augen die Augen von Sean und bei der Stirn das Moos im Huttwiler Wald und bei den Haaren die feuchten Scheiben vom VW und bei den Lippen der Velourteppich. Eigentlich ist es nur dein Hals, an dem ich nichts sehe, als deinen Hals, den ich immer gern geküsst habe und der mir schon aufgefallen ist, als du mich nicht beachtet hast und ich neben dir gesessen bin und mich nicht getraut habe dich anzusprechen.»

Im Oltner Restaurant lächelt sie, streicht kurz über seinen Handrücken und nimmt wieder ihr Besteck auf. Sie bemerkt wie er erneut auf ihre Wangen sieht, auf ihre Stirn, ihre Augen, ihre Haare, auf ihren Hals, und sie schiebt ein Stück des cordon bleus an den Tellerrand, sticht mit der Gabel hinein. Sie mag kein cordon bleu und bestellt es immer nur, weil er es mag und sie ihm sagen kann, dass sie satt sei und ob er nicht den Rest noch möge. Sie nimmt mit dem Messer den heruntergelaufenen Käse auf und streicht ihn auf das Stück Fleisch an der Gabel.

 

Wunderschön

Matthias Hauser ist blind, doch seit seiner Kindheit fotografiert er jedes Ereignis, welches ihm wichtig scheint, lässt die Fotos entwickeln und klebt sie in ein Album. Bilder des ersten Schultags, der ersten Liebe, der Reise nach Marokko. Auch wenn er nicht sehen kann, meint Matthias Hauser, so sehe doch die Kamera für ihn und nichts ginge verloren. Trotzdem hat er seine Bilder noch keinem Menschen gezeigt, aus Angst, es könnte nicht das darauf sein, was er sich vorstellt. Als Matthias Lisa kennenlernt, sie sich verlieben und bald heiraten wollen, holt er an einem Abend ein erstes Mal sein Album hervor. Lange und schweigend blättert Lisa durch die Bilder, bis sie zu ihm sagt, sie seien wunderschön.

 

Kurz vor Olten

«Hey Peter, ja, ich bin’s … stör ich dich? Nein, ich bin im ZUG. … Gut … nein, kein Stress.»
Einige lesen, einige sehen in ihre Laptops. Ein dicker Mann schläft mit offenem Mund.
«Hab vorhin auf dem Perron gewartet, und mir überlegt: wie lange ist es her, seit ich eigentlich mit jemandem geredet hab. Wirklich, also so richtig geredet … man spricht viel, wenn der Tag lang ist, aber nicht richtig … Was ich sagen wollte, Peter … In der letzten Zeit kommt es mir vor, als wär ich … wär ich allein. Ich weiss, das klingt komisch, wenn jemand wie ich das sagt. Ich habe ja nie Mühe auf Menschen zuzugehen, da kenn ich nichts, und bei meinem Beruf, da lernt man immer neue Leute kennen und in Langenthal kennt mich die halbe Stadt und … und die Vereine und die Projekte. Aber weisst du, Peter, ich … Ich fand das komisch, als ich mir das überlegt hab und ich hab mir gedacht: das müsse etwas Anderes sein, allein … das kannst du bei jemandem wie mir nicht sagen, nein, so etwas wie das Burn-out vom Lüthi, das … Aber es kommt mir vor, als versteht mich niemand. Als wüsste gar niemand, wer ich bin. Dann dachte ich, es seien die Frauen. Und wenn jemand bis vierzig keine gefunden hat, dann findet er keine. Dass es dieses Alleine-Sein ist. Die Bettkälte. Und ich gebe zu, dass es nicht leicht war, aber heute, wenn man sich an das Leben so gewöhnt hat, da will man auch nicht noch eine Frau. Ehrlich, da … Da gibt es die, die sind glücklich mit einer Frau und die, die sind unglücklich mit einer Frau. Und da gibt es die, die sind glücklich ohne Frau und die anderen sind unglücklich ohne Frau. Da gibt es immer beides. Aber wenn ich mich etwas frage, dann warum ich eigentlich keine Frau hab; wenn ich doch so gut mit den Leuten kann. Und es ist mir auch nie schwergefallen, eine Frau anzusprechen und ich hab mit so mancher etwas gehabt, ich hab sie gar nicht mehr gezählt. Das sage ich nicht zum Prahlen, Peter, du weisst das. Aber ich will dich gar nicht so lange aufhalten, und dich vollquatschen, Peter, nein, um was es … Aber es ist genau das. Das hab ich mich gefragt. Warum ist da trotzdem nie etwas Richtiges daraus geworden. Und ich denk mir auch, dass ich vielleicht schon eine spannende Person bin und viel erlebt habe und viel mache, aber wenn man mich kennt und wirklich kennt, dann ist es halt vorbei. Ich weiss nicht, ob ich jemand bin, mit dem man länger etwas zu tun haben will. Ich bin ein komischer Mensch, und rede viel und mache viel, und das macht mich auch interessant und deshalb kann ich auch gut mit Menschen. Aber das ist dann auch alles. Aber ja, Peter, ich muss aussteigen. War schön mit dir zu sprechen, hab das mal gebraucht. Sorry, jetzt, dass ich dich so vollgequatscht hab. Ist wahrscheinlich einfach eine Laune und morgen ist es wieder vorbei. Ja, man sieht sich. Du, am Donnerstag, dann ist ja die Opel-Messe in Burgdorf. So, ich muss. Tschüss, Peter, tschüss.»
Er steht auf. Ohne aufzulegen, schiebt er das Mobil-Telefon wieder in die Tasche. An der Türe wartet er mit drei Männern und einer Frau. Er hat Peter nicht angerufen.
Der Zug hält, er steigt aus. Als er sich umdreht, sieht er hinter den Fenstern die Passagiere des Regionalzuges nach Olten. Einige lesen, einige sehen in ihre Laptops. Es war ein langer Tag.

 

Intensivkurs Französisch

Nachdem die Lehrerin nach der letzten Stunde des Französischkurses sie zu einem Kaffee eingeladen hat, kommen die Schülerinnen und Schüler gemeinsam aus dem Restaurant. Michael Ledermann geht neben einer grossgewachsenen Frau, ohne etwas zu sagen. Er kennt ihren Namen nicht, nur den Nachnamen hat er während den Stunden erfahren. Sie heisst Madame Schleiermacher. Vorhin im Restaurant sprachen sie in einer kleinen Gruppe über Paris. Nun hat sich die Gruppe aufgelöst, einige gehen zu zweit, einige allein. Er neben ihr. Er mag Madame Schleiermacher, wenn auch nur wegen ihrer Art Kugelschreibern nervös auf dem Pult zu drehen. Gerne würde er das Gespräch fortführen, doch es fällt ihm nichts ein. Schade sei es, sei der Kurs bereits vorbei, könnte er sagen. Er hätte viel gelernt. Nett sei es von der Lehrerin, hätte sie sie alle zum Kaffee eingeladen, auch das könnte er sagen. Er sagt nichts. Es wäre zu offensichtlich, dass er nur ein Gespräch anfangen möchte. Er hört vorne die Lehrerin etwas erzählen, das er nur schwer versteht. Es geht um Tulpen. Thomas Ledermann sieht zurück. Er sieht das Restaurant. Die Fenstergläser glänzen in der Sonne. Eines der Fenster ist geöffnet. Sie wohnt in Zürich, hat sie erzählt. Er könnte sie fragen, ob sie von Zürich hierher pendle. Das könnte er. Doch ist zu viel Zeit vergangen. Wenn er sie jetzt etwas fragen würde, würde sie denken, er hätte sich die ganze Zeit überlegt, was er mit ihr sprechen könnte. Es wäre seltsam.

 

Die Leber

Bereits als sie den ersten Bissen der Kalbsleber in den Mund schiebt, merkt sie, dass es ihr nicht schmeckt. Das Fleisch ist schwammig und beinahe sauer. Muriel Amstutz denkt an das Kalb, das man wegen dieser Leber geschlachtet hat, nicht nur geschlachtet, man hat es gehalten, aufgezogen, es hat wegen diesem Stück Fleisch gelebt, und nun schmeckt es ihr nicht, es ekelt sie sogar ab dieser sauren Art von Fleisch. Muriel Amstutz wird still. Es war der jungen Kuh so gegangen, wie ihr selbst. Alle die Erwartungen, die die Menschen an sie hatten – und es waren im Grunde wenige – konnte sie nicht erfüllen. Die Buchhändlerlehre hat sie abgebrochen, letzten Sommer ist ihre langjährige Beziehung auseinandergegangen. Am Ende ihrer Tage würde es wenig geben, was sie richtig gemacht hätte. Je mehr sie darüber nachdenkt, desto mehr versteht sie dieses Kalb. Und obwohl es ihr noch immer nicht schmeckt, ist sie froh, es bestellt zu haben.

 

Goethe (eine Novelle)

Nachdem der Basler Pharmakonzern Novartis Patrick Huber gekündigt hat, haust dieser jahrelang ausgesteuert erst in Muttenz dann in Pratteln und züchtet in der Küche aus dem Genmaterial eines Fingerknöchels den Klon des längst verstorbenen Weltliteraten Johann Wolfgang von Goethe heran. Huber übergibt den Goethe-Klon, den er im umgebauten Backofen bis zum Säuglingsstadium reifen liess, seiner Freundin Flavia Gut, damit sie das Geschöpf wie ihr eigenes Kind aufziehe.
Der Klon erhält den Namen Johann Wolfgang Gut.
Johann überspringt mehrere Klassen, beginnt mit fünfzehn Philosophie, Botanik, Mathematik, englische und deutsche Literatur, Chemie und Physik zu studieren. Seinen ersten Doktortitel erhält er noch vor seinem zwanzigsten Geburtstag. Johann Wolfgang legt sich nicht auf ein Gebiet fest, seine Studien treiben ihn in alle Richtungen. In einem Zeitungsbericht wird er als letzter Universalgelehrter betitelt, bald fällt das Adjektiv: „olympisch.“
Ein brillanter Mensch jedoch auch ein umgänglicher Gesellschafter, ein ästhetischer Wanderer, ein engagierter Politiker und Redner, so sieht man ihn. Johann Wolfgang Gut ist der Mensch der Menschen.
An einem zweiten Dezember, Johann Wolfgang Gut ist vierundzwanzig Jahre alt, schlägt er die Einleitung zu Goethes Farbenlehre auf, die ein Freund ihm anempfohlen hat, obwohl er selbst sie für überholt hält. Er beginnt zu lesen. Johann Wolfgang erkennt in Goethe einen Seelenverwandten. Am nächsten Montag lässt er sich drei Biographien zukommen, eine Woche später kauft er Goethes Werke in hundertdreiundvierzig Bänden. Johann verlässt das Haus nicht mehr, wandert, politisiert, schreibt nicht mehr, Johann hält keine Reden, beantwortet keine Mails, keine Anrufe nimmt er entgegen. Johann Wolfgang Gut liest Goethe. 
Jahre vergehen, zusehends verarmt Johann; er zieht nach Pratteln in die Wohnung seines Paten und geheimen Schöpfers Patrick Huber, der mittlerweile eine Professur für Genetik erhalten hat. Johann Wolfgang schläft in der Küche, die überstellt ist von Goethe-Bänden und Kommentaren. Im Alter von zweiunddreissig Jahren stirbt der Goethe-Klon Johann Wolfgang Gut an einem Magengeschwür.
Während er am Küchenboden liegt, schmiegt sich eine Katze an seinen Kopf. „Gewiss weiss ich, Bützi“, sagt er keuchend zum Tier, „ich hätte mehr tun müssen als lesen. Aber jetzt … was mich jetzt plagt, ist nicht, das Neue, das ich nicht gesucht habe, die Taten, die ich nicht vollbracht habe, sondern die Seiten dort auf dem Pult, bei denen ich noch nicht weiss, was darin steht.“ Die Katze leckt ihre Tatzen.

René Frauchiger «Ameisen fällt das Sprechen schwer», Knapp, 2022, 113 Seiten, CHF 27.00, ISBN 978-3-906311-99-9

René Frauchiger, geboren 1981 in Madiswil, ist Autor von Kolumnen und Kurzgeschichten, sowie Gründer und Mitherausgeber vom Literaturmagazin «Das Narr» (seit 2011). Heute leitet René Frauchiger den Bereich Werkstätten des Aargauer Literaturhauses und lebt in Basel. Im September 2019 erschien sein erster Roman: «Riesen sind nur grosse Menschen» im homunculus-Verlag, 2022 folgte «Ameisen fällt das Sprechen schwer» bei Knapp.

Webseite des Autors

Markus Kirchhofer «Das Planetenrührwerk»

Jürg blickt stur durch die Windschutzscheibe. «Du bist sauer wie ein Naturjoghurt», sagte ich zu ihm, wenn er als Kind zornig war. Das brachte ihn noch mehr in Rage. Eigentlich habe ich einen guten Draht zu ihm. Einen immer besseren in den letzten Jahren. Obwohl wir uns nicht häufig sehen. Obwohl er was ganz anderes macht als ich. Obwohl er neun Jahre jünger ist als ich. Aber die werden gefühlt immer weniger. Jürg ist fast gleich alt wie Beatriz. Und ich fühle mich ebenso jung wie sie. 

Wenigstens bleibt mir heute die Schaukäserei erspart. Früher gab’s keinen Familienausflug ins Voralpental ohne Schaukäserei. Im Restaurant vertilgten wir Vermicelles mit Meringues. Danach ging’s in den Shop, wo wir allerlei Käsesorten, Quark und Honig kauften. Neulich besuchte ich die Schaukäserei mit Beatriz’ Familie. Unter Anleitung stellten wir selber Frischkäse her. In Herzform, ganz nach dem Geschmack der Brasilianer. Am meisten beeindruckte sie aber der grosse Käsefertiger. Auch ich sehe sein glänzendes Kupfer, wenn ich an unsere Käserei denke. 

Der Fertiger war rund und riesig. Darin ein weisser See. Vater erwärmte die Kuhmilch und brachte sie mit magischen Beigaben zum Eindicken: Labenzyme aus Kälbermägen und Milchsäurebakterien. 

Dann bestückte Vater sein Planetenrührwerk. Er hängte Harfen daran und legte den Schalter um. Die Käseharfen begannen sich im Fertiger zu drehen und einander zu umkreisen. Zwei nebeneinander in der Mitte, die dritte aussen, dem Chromstahlring entlang. Die Harfen tanzten durch die eingedickte Milch, beschwingt und kraftvoll. Umeinander herum und durcheinander hindurch. Scheinbar chaotisch, aber ohne je zu kollidieren. Auf mysteriösen Umlaufbahnen, die ich zu ergründen suchte. Die Saiten zerschnitten die eingedickte Milch in immer kleinere, körnige Bruchstücke. «Je kleiner die Käsekörner, desto härter wird der Käse», belehrte mich Vater. Zum Rühren der Bruchmasse ersetzte Vater die Harfen durch Schaufeln. An den Fertigerrand montierte er Strombrecher. Unsichtbar am Grund wühlten die Schaufeln gegen die Schwerkraft der Käsemasse. Die Brecher bewirkten Querströmungen und körnige Wirbel. Vaters Planetenrührwerk bewegte Milchstrassensysteme. Am Fertiger beobachtete ich sie, hypnotisiert.

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MEHR UND WENIGER – fliegen durch ein dreidimensionales Buch (2020)

Die Weltbevölkerung wächst, noch im 21. Jahrhundert werden mehr als zehn Milliarden Menschen die Erde bewohnen. Die Menschen brauchen mehr Platz, andere Lebewesen werden weggedrückt, täglich sterben Tierarten aus. Wie geht der Mensch, wie gehen Kunstschaffende mit dieser Konstellation um?

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MEHR UND WENIGER führt Medienkunst, Lyrik, Fakten zur Bevölkerungsentwicklung und zu ausgestorbenen Tierarten zusammen. Beim Starten der App befindet man sich in einer urbanen, futuristisch anmutenden Stadtlandschaft, die permanent neu generiert wird. Mit dem eigenen Handy oder Tablet als Flugsteuerung bewegt man sich spielerisch durch eine Metropole aus Bild, Text und Architektur – fliegen durch ein dreidimensionales Buch. 
Nähere Infos zur App und Gratis-Download auf Android-Geräte unter MEHR UND WENIGER – fliegen durch ein dreidimensionales Buch – Marc Lee
Konzept: Markus Kirchhofer und Marc Lee, Realisierung: Marc Lee (CH),Gedichte (50 Haiku) von Markus Kirchhofer. Übersetzungen: Erin Palombi (US) ins Englische, Valentin Decoppet (CH) ins Französische, Sound: Shervin Saremi (IR),VR Entwicklung: Antonio Zea (PY), Florian Faion (DE) und Marc Lee (CH)

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Drei der Gedichte von Markus Kirchhofer:

der kiesweg ums haus
ist meine stratosphäre
my home is my earth

 

über den rücken
der eidechse aus beton
fahren lastwagen

 

verhüllt unterwegs
in frachtcontainern und tanks
früchte der erde

 

Markus Kirchhofer «Das Palnetenrührwerk», Knapp, Illustrationen Maurizio Pinarello, 2022, 89 Seiten, CHF 24.80, ISBN 978-3-906311-97-5

Markus Kirchhofer, geboren 1963, lebt mit seiner Frau in Oberkulm/AG. Seit 2013 ist er freier Autor, zuvor war er Lehrer und Erwachsenenbildner. In den letzten zwei Jahren erarbeitete er die App «MEHR UND WENIGER – fliegen durch ein dreidimensionales Buch» (mit Medienkünstler Marc Lee, 2020), eine Graphic Novel (mit Zeichner Reto Gloor, 2021), ein Musiktheater (mit Musiker Christoph Baumann, Videodesigner Kevin Graber und Regisseur Nils Torpus, 2021) und den Roman «Das Planetenrührwerk» (2022). Markus Kirchhofers literarische Arbeit wurde mit Werkbeiträgen für Lyrik, Prosa und Interdisziplinäres ausgezeichnet, zuletzt von der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia. 

Webseite des Autors

Andreas H. Drescher «Mein alter Schwarzfernseher», ein Ausschnitt

 

WEICHE THEMEN

Sonnenaufgang. Das Zicklein nähert sich der Stadt über die A9 und bricht sich schließlich selbst eine Ausfahrt durch Leitplanken und Birkenschonung. Mit Vorbedacht schweift es in weitläufigen Mäandern, um den Grad seiner Verheer-ungen noch großflächiger zu gestalten. Von den Laubenkolonien zwischen A9 und dem Bahndamm bleibt so nur Schreberschredder übrig. Dabei absolviert es all das nur zum Warmwerden. Sein Ziel ist ein anderes. Punkt dreizehn Uhr wird das klar. Da bewegt es sich in gerader Linie auf den größten städtischen Uhrmacher zu und verwandelt auf dem Weg Schlachthof und Käserei in staubquirlenden Schutt. Der Uhrmacher hört keinen Ton davon. Er hält seinen Mittagsschlaf.


Die ganze Uhrmacherfamilie wird nicht wach vom herannahenden Dröhnen, obwohl ihr die Unruhen aus allen Weckern springen und die Kuckucke aus ihren Kuckucksuhren das Haus aus allen Fenstern verlassen. Dabei schnarcht jeder einzeln nicht einmal besonders laut. Je einzeln flappen ihnen lediglich die Lippen ein wenig beim Ausatmen. Gemeinsam allerdings schnarchen sie ohrenbetäubend: der Uhrmacher auf der Schlafcouch, der Großvater am Katheder und seine 
sieben Enkel auf den Schulbänken. Das Zicklein blinzelt nun zum Fenster dieses Klassenraumes hinein und überfliegt des Großvaters archimedisches Gekritzel: eine Inspiration. Sodann dreht es sich angelegentlich um, steckt sein Köpfchen in den Fluss und fängt gewaltig an zu saufen. Zugleich aber hebt es das Schwänzchen und füllt das Haus der Schlafenden vom Keller an durch seinen Schornstein auf. 


Ein druckvoller Pumpstrahl. Bald schon sieht man die Uhrmacherfamilie vor den Fenstern aller Stockwerke treiben und unter den großen Augen her die Lippen stimmlos zu einem entsetzten: „Helft uns!“ formen, zu einem „Aber so helft uns doch!“ Die Nachbarn aber sind beschäftigt. Sie haben, als sie sehen, dass auch nicht ein Tröpfchen Flusswasser in ihre Richtung sickert, die Fernsehsessel vors Fenster gerückt und nehmen ihr Abendbrot ruhig vor den hilflosen Zuckungen der Uhrmacher-Familie ein. Nur der Großvater hat sich genug Geistesgegenwart bewahrt. Er arbeitet sich durch die umhertreibenden Möbel zu seiner Schiefer-tafel vor, wischt alles Archimedische mit einem Strich seines Jackett-Ärmels aus und schreibt in großen Buchstaben: „Eine Million Belohnung. Randalierendes
 Zicklein zum Abschuss freigegeben.“ Kaum ist das erledigt, schwimmt er zu seinem Katheder zurück, macht es sich dort wieder bequem und atmet, nach einem allerletzten Bleistiftspitzen, tief ein, um sich das Sterben einfacher zu machen. 


Der Einzige, der sich von dieser Bekanntmachung angesprochen fühlt, ist ein 
Bäckerjunge aus der Nachbarschaft, der hin und wieder mit den Söhnen des Optikers in den Fluss gepinkelt hat. Er klemmt sich in der Backstube eine Packung feinen Mehls und ein Nudelholz unter den Arm und läuft hinunter zum Fluss. Hier hat das Zicklein das Haus des Uhrmachers eben bis zum Schornstein angefüllt und hebt den Kopf, um einmal tief einzuatmen. Im gleichen Augenblick wirft der Bäckerjunge die Packung Mehl in die Luft und stäubt es mit einem beidhändigen Schlag mit dem Nudelholz dem Zicklein gerade vor die Nüstern. Fast erstickt es daran, meckert jedoch zwischen den Niesattacken: „Hilf mir! Aber so hilf mir doch!“ Statt einer Antwort zeigt der Bäckerjunge in Richtung des Glasportals, hinter dem der Optiker und seine Familie inzwischen in Embryonalstellung
treiben. Keuchend kriecht das Zicklein darauf zu, niest die Lichtschranke auf und kühlt das Mehl in Mund und Nase mit dem Fluss, der ihm nun wieder entgegenströmt. Diesmal aber ersäuft es daran, weil ihm der Bäckerjunge auf den Schwanz getreten ist. Die Nachbarn sehen im Frühstücksfernsehen, wie die Kuckucke in den Laden des Uhrmachers zurückkehren, wo der Bäckerjunge im Wasserschaden steht und etwas auf die Tafel des Großvaters kritzelt. Es dauert aber das ganze Frühstück über, bis die Kreide in der Morgensonne getrocknet ist. Erst jetzt können sie entziffern: „Die Uhren sind umgestellt worden!“ Zu spät begreifen sie, wieviel Zeit inzwischen vergangen ist. So hat das Zicklein noch im Tod alle sieben Söhne des Uhrmachers wiedergeboren und diese Sieben haben bis zum Morgengrauen nicht allein ihre Bäckerlehre absolviert, sondern ihnen außerdem all ihre verlorenen und gesprungenen Unruhen in die Frühstücksbrötchen gebacken.



DER SPÄTE ZWIST

Die hundertjährigen Zimmermädchen waren für die ganze Bettenburg zuständig. Aber ihre Enkelin, die Hotelfachfrau, hatte sie nicht richtig eingeteilt. Denn die eine schüttelte ihre Plumeaus nun schon seit neunundneunzig Jahren mit Seeblick aus, während die andere sich dabei mit einem Blick ins Binnenland begnügen musste. So begannen die Zwillinginnen einander zu hassen und nahmen ohne Absprache mit ihrer Enkelin am Animationsprogramm teil. Die eine als Krustenbrot-, die andere als Granny-Smith-Granny, weil die eine Backwaren, die andere Obst aus ihren Decken schüttelte. Auf beiden Gebäudeseiten kamen so Hotelgäste zu Schaden. Doch obwohl nur die Tochter eines Straßenbauers und die eines Grobschmiedes ernsthafte Verletzungen davontrugen, wurden die Hotelfachfrau und ihre Großmütter fristlos entlassen. Vergeblich suchten sie an der Küste eine neue Anstellung. Doch auch im Binnenland hat es keine der Alten mehr geschafft, einen Baum oder einen Backofen erneut zum Sprechen zu bewegen.





GEFRIERBRAND

Schon in der Berufsschule genoss sie den ganzen Respekt ihrer Klassenkameraden. Vom Augenblick ihres ersten Erscheinens an. Ihrer sargförmigen Brille wegen, die sie selbst geschreinert hatte. Noch nie hatte ein Mädchen mit so geschickten Händen Bestatterin werden wollen. Ihr Meister hatte ihr zu Anfang nicht viel zugetraut. Doch gleich im ersten Lehrjahr zeigte sie so viel Kunstfertigkeit und Ausdauer als Leichenwäscherin, dass er schon im zweiten persönlich ihre Unterweisung übernahm. Ein Jahr, das sie mit dieser Brille abschloss. Die brachte ihre eisgrauen Augen nun derart vorteilhaft zur Geltung, dass es bald keinen Kunden mehr gab, der davon nicht zum lebenslangen Thanato-Erotiker geworden wäre.


Es hieß, sie habe das Talent von ihrer Mutter geerbt. Einer Frau von so grandioser Hässlichkeit, dass jeder Galan, den sie mit sich zu beglücken suchte, bei ihren unanständigen Anstandsbesuchen mit einem männlich-kühnen Sprung aus dem Fenster floh. Ganz gleich, um welches Stockwerk es sich handelte. Der Vater der Bestatterin hatte dem Himmel sei Dank jedoch nur in der dritten Etage gewohnt und war aus diesem Grund nicht vollständig zerschmettert worden. Die dritte 
Etage ist bekanntlich die der Querschnittslähmungen. Es wird für immer das Geheimnis ihrer Mutter bleiben, wie sie ihren Traummann steif bekam, als sie sich noch in dem Maulbeerbaum, der ihn abgefangen hatte, isishaft auf ihn setzte.


Das Kind wurde von der Alten verwöhnt wie weiland Aschenputtel. Dies war das Ideal ihrer Erziehung: Das Mädchen schlief in einem Taubenschlag. Sein erster vollständiger Satz war folglich: „Ruckedigu!“ So war ihre Kindheit akustisch eingefasst in dies halb daunene, halb quietschende Geflatter. Neun Jahre lang hatten die Tauben versucht, sie in ein ausgiebigeres Gespräch zu verwickeln, doch das Mädchen blieb verstockt. „Ruckedigu!“ Neun Jahre war sie alt, als der Mann vom Jugendamt sie fand: von Taubendreck geteert, von Daunen gefedert und in 
ein so gründliches Schweigen eingefasst, dass von einer regulären Einschulung nicht mehr die Rede sein konnte. So kaufte man ihr von Staats wegen die Lehrstelle bei diesem Bestatter, der selbst als ebenso rechtschaffen wie wortkarg galt.

Wie schon erwähnt, stellte sich die Kleine bereits mit zwölf Jahren derart verständig an, dass ihr Meister bald Vertrauen zu ihr fasste. Und das so sehr, dass er schließlich nur noch mit ihr die lockere Erde über den Särgen festtrampelte, während die Gemeinde den Kirchhof verließ. Wer sich von den Nachzüglern, durch das dumpfe, rhythmische Tönen aufmerksam gemacht, noch einmal umwandte und die beiden, bis zu den Nasenspitzen aus dem neuen Grab ragend, in dieser merkwürdigen Polka begriffen sah, drehte sich sofort wieder um, wurde jedoch bis ins hohe Alter hinein von dem Traum heimgesucht, selbst in diesem trampolinierten Sarg zu liegen. Der Traum wurde zum Gesellenbrief des Mädchens. 


Um diese Zeit herum fand man auch ihre Mutter. Sie hatte, vollständig ausgeweidet und perfekt geschminkt, seit drei Jahren vorm Spiegel einer Eisdiele gesessen und sich, über einen nie endenden Maulbeer-Shake hinweg, selbst fortwährend ins hohle Auge geblickt. Wie immer hatten alle an ihr vorbeigeschaut: die Gäste, die Bedienungen, selbst die Putzfrauen. Erst, als die Matriarchin des Familienbetriebs höchstselbst aus Neapel anreiste, weil der Verzehr von Tisch neun nun 
schon so lange zu wünschen übrigließ und die Mumifizierte, kurzsichtig wie sie war, ohne viel Federlesens anstibbte, zerfiel die prompt zu Staub. Die Zugluft durch die Gäste, die zu allen Ausgängen hinausdrängten, ließ sie so restlos verwehen, dass nicht einmal das kleinste Körnchen für einen DNA-Test übrigblieb.



 

REISE NACH JERUSALEM

Seit der Fuhrpark der Bundeswehr zur Deckung der Flugschulden des Verteidigungsministers versteigert worden ist, finden die Truppentransporte ausschließlich per Bahn statt. Ich bedaure das sehr, denn ich schätze dieses Fortbewegungsmittel außerordentlich. Besonders durch die Hooligans, die ihre Sozialstunden seit Neuestem bei den Pionieren ableisten dürfen, ist an die ruhige, distinguierte Art des Reisens, wie ich sie gewohnt war, nicht mehr zu denken. Nicht einmal meiner Anregung, die Eingänge zur Ersten Klasse durch Wachen abzuriegeln, oblag das Management der Bahn. So brachen denn auch vor dreizehn Tagen wieder Horden von Randalierern durch den nächtlichen Zug, verschütteten Sambuca und hörten selbst dann nicht auf, ihn vom Boden zu lecken, als dieser glatzköpfige Fettwanst … Ich bitte um Verzeihung: Als dieser übergewichtige Kahlkopf auf die Idee kam, ihn anzuzünden. Anna war dieser Geruch nach Grill selbstverständlich nicht zuzumuten, deshalb wies ich den Diener an, unsere Abteiltür zu schließen. 

Bedauerlicherweise machte das den Kahlkopf auf uns aufmerksam. Besonders auf Anna. Dumpf stierend ließ er sich auf einen der Klappsitze im Gang fallen und versank, ebenso somnambul wie impertinent, wie entrückt in ihrem Anblick. Es half nur wenig, dass der Diener sich zwischen die beiden schob. Sein Gesicht an der Scheibe platt drückend, fand der Dicke immer wieder einen Winkel, um hereinzugaffen. Nicht einmal, als ich Anna anbot, den Platz mit ihr zu tauschen, gab er Ruhe. Ebenfalls nicht, als wir mehrmals hin und her tauschten. Im Gegenteil: Mit einem Mal fanden wir den übergewichtigen Herrn sogar im Abteil vor, wo er versuchte, seine erstaunlich großen Hände in Annas Muff unterzubringen. 


Ich erhob mich, um Protest anzumelden, doch das hochgerissene Knie des Kahlkopfes ließ mich in Embryonalstellung zusammenfahren. So hatte ich kein Ohr für die beiden Schläge. Nicht für den klingenden. Und nicht für den dumpfen. 
Doch als sich meine edleren Teile wieder erholt hatten, sah ich den schweren Herrn zu meinem Erstaunen reglos zu meinen Füßen liegen und Anna in lebhaftem, wenn auch flüsterndem Gespräch mit dem Diener. Ihr Haar war ein wenig in Unordnung geraten. Gerade öffnete ich den Mund, um sie darauf aufmerksam

zu machen, als sie mich in einem Ton, der zu meinem Bedauern keinerlei Notiz von meinen zahlreichen Blessuren nahm, aufforderte: „Komm jetzt! Pack an!“ 


Ein wenig konsterniert, aber doch hilfsbereit, bemühte ich mich nun mit den beiden, den unhandlichen Körper durch das geöffnete Fenster zu bugsieren. Allein: Unsere Anstrengungen waren vergeblich. Der vorspringende Bauch des auskühlenden Kahlkopfes ließ ihn immer wieder zu uns hereinprallen. Im Gang brachen inzwischen, nun immer stärker vom Sambuca belebt, erneut die Hooligans vorbei, scheinbar auf der Suche nach ihrem Anführer. Zum Glück hatte der Diener, wenn auch ohne jede Aufforderung, die Vorhänge unseres Abteils geschlossen. 


Anna überzeugte uns nun mit dürren Worten davon, den Dicken in einem unserer frisch aufgeschüttelten Betten zu deponieren und uns selbst aufs Dach des Zuges zu verfügen. Gesagt, getan. Kaum hatten wir Anna an ihren unvergleichlichen Fesseln in die Höhe geschoben, als sie den Diener auch schon mit beherztem 
Griff zu sich heraufzog. Dann diese kleine Ungeschicklichkeit meinerseits, die sich jedoch bald als sehr vorteilhaft erweisen sollte: Während die beiden mich aus 
dem Fenster zogen, verhakte sich mein linker Fuß an dessen Griff, sodass ich es, 
freilich ohne dies beabsichtigt zu haben, fast zur Gänze schloss. Zudem stellte mein Schuh, der mir, als mich die beiden mit einem kräftigen Ruck aufs Dach beförderten, entglitt und zur Abteiltür kollerte, die Hooligans, die ihren Anführer schließlich in Annas Bett wiederfanden, vor ein schier unlösbares Rätsel. Den ganzen Zug durchsuchten sie nach dem Besitzer dieses Schuhs. Der Gedanke, einen Blick aufs Dach zu werfen, kam ihnen, aufgrund der Lage des Schuhs, nicht. 


Dem Diener, der die Geistesgegenwart besessen hatte, sich beim Angriff auf Annas Muff der leeren Sambuca-Flasche zu bemächtigen und damit einen so glücklichen Schlag gegen das Genick des Glatzkopfes zu tun, dass er dort irgendetwas Lebenswichtiges verschob oder durchtrennte, ohne dass auch nur eine Wunde zu sehen war, sagte ich auf der Stelle eine angemessene Gehaltsaufbesserung zu. 
Unser Plan war, uns beim Halt im nächsten Bahnhof in die Arme des frisch privatisierten (also motivierten) Bundesgrenzschutzes zu werfen und ihn um Beistand gegen die trunkene Horde anzurufen. Ein ausgesprochen aussichtsreicher Plan, wenn wir ihn auch bedauerlicherweise noch nicht haben ausführen können.


Seit dreizehn Tagen hat der Zug nämlich nun nicht mehr angehalten. Ein Truppentransport eben. Wir hätten es wissen müssen. Gut, dass Anna vorgestern auf den Gedanken kam, unsere regennassen Kleider gegen den Durst auszuwringen. Ich selbst beobachte trotz meines furchtbar frierenden Fußes – über den mir den beiden gegenüber selbstverständlich auch nicht ein einziges Wort über die Lippen kommt – noch immer aufmerksam den nächtlichen Himmel. Ich schweige eisern. Obwohl das Ziel unserer Reise inzwischen, besonders in sternenklaren Nächten, deutlich auszumachen ist. Denn inzwischen bewegen sich bereits in der neunten Nacht Teile des Hindukusch als frische Asteroiden in Richtung Hardthöhe. 


 

Andreas H. Drescher, 1962 in Griesborn/Saar geboren, studiert Germanistik, Politik und Philosophie in Köln und lebt als freier Autor und Künstler in Saarlouis. 2016 erscheint sein erster Erzählungsband „Die Rückkehr meines linken Armes“ in der EDITION ABEL. Der Roman „Kohlenhund“ erscheint 2018. Mit „Schaumschwimmerin“ legt Drescher den Nachfolge-Roman zu „Kohlenhund“ vor.

Heike Puderbach, 1966 geboren in Saarlouis, 1985 Abitur,1986-91 Auslandsaufenthalte in Paris und Norwich, 1991 Studium der Bildhauerei, Hochschule der Bildenden Künste Saarbrücken, 1992-97 Studium Produktdesign, HBK Saarbrücken, seit 1998 Freiberuflerin in den Bereichen Bildende Kunst, Design, Grafik, Inneneinrichtung, 1999 saarländischer Staatspreis für Produktdesign, 1999 Atelier in Paris, Ausstellungen in Montparnasse, 2017 Designerin bei Villeroy und Boch