Aus dem Stadtpark klingt leise Reggae-Musik verhaltenes Lebenszeichen in dämmriger Stille
wer wollte hier schlafende Hunde wecken sie scheinen alle begraben
versprengte Passanten schleichen durch die Gassen, in einer Kampfsportschule beginnt der Unterricht, morgen ist wieder Theater, dann geht es nahtlos weiter über Kopfsteinpflaster im Tänzelschritt Arm in Arm
Nietzsche erhebt sich von seinem Denkmal spricht mit Blei im Mund vom dionysischen Glück
dreht die Musik auf! würde er rufen, mit an der Pfeife ziehen und den Mond anheulen
wollt ihr denn alle begraben sein? und aus den Fenstern schauten die Neugierigen, ein Jurist des Gerichts stürmte herbei den morgigen Tag schon jetzt zu vergessen
sich selbst nicht mehr fremd sein, ob unter Gestrandeten im Park oder vor Ort Versandeten –
In deinen tränenfeuchten Augen ruht ein Blick, der schmerzlich, herzlich dir und mir verwehte Leiden, verlorne Stunden und zerronnen Glück zurückrief beiden. –
Tiergarten
Sie alle bleiben vor der Magnolie stehen sie ist die einzige Attraktion zwischen Pariser und Potsdamer Platz, Schloss Bellevue und Schöneberg
im Halbrund der hohen Eichen blüht sie zum Ostergruß dem japanischen Paar wie einer Gruppe dänischer Radfahrer, die hier posieren für ihr Souvenir und sie bedanken sich bei mir für das Bild
von der Luiseninsel klägliches Hundegewinsel eine schrille Stimme keifert und schreit
ich schaue in mein Buch lese den Stummfilm aus schwarz-weißen Zeichen ein stiller Souffleur vor dem Halbmond der Eichen ins eigene Spiel vertieft
ein Specht hämmert zur Pause mitten im ersten Akt, ein Rapper seines Fachs: drei schnabelschnelle Schläge BAUM BEAT BOX unermüdlicher Rave unter freiem Himmel
hunderte rosaweißlicher Blütenkelche applaudieren im Licht, leuchten auf im milde lächelnden Wind
der Souffleur verlässt die Bühne drei englische Damen suchen nach dem Weg, im Trippelschritt nie stehender Jogger
eine gescheckte Elsterkrähe trippelt in ihre Nähe doch nichts fällt für sie ab der Nächste kommt und bleibt vor der Magnolie stehen
wie ein Baum, der das Zittern nicht kennt denkt er sich Wurzeln, eine Aufenthaltsgenehmigung unter der Erde, Vorfahren, die einem das Leben schenken – nicht weiter denken
auf der Krim sind Freunde von ihm stationiert die Verteidigung seiner Doktorarbeit steht kurz bevor und dann geht es zurück in die Heimat, in ihren neuen unausweichlichen Grenzen
Die Augenweide nannte sie ihr Geschäft eine Mischung aus Café und Buchhandlung
wir kannten uns beim Namen sie verkleinerte ihren Laden blieb in Bücher gekleidet, eine stille Augenweide
der letzte Lehrling wurde ihr Nachfolger, ließ das Schaufenster aufblühen, die Wände streichen
sie selbst zog sich zurück, verschenkte ihre Bücher
heute ist sie mir auf der Straße begegnet und erkannte mich nicht
wie in der Verpuppung erstarrt, spannte sich ihr Anorak zur Hülle, hielt sie die Plastiktüte fest
ich lief nicht hinter ihr her, blieb in der Vergangenheit und sah ihrer Gegenwart nach, mit unsicherem Schritt über die Gleise
Straßenfest
Der Baum schmiegt sich ans Haus die Wärme seiner Steine Blütenäste greifen aus durch die gespannte Leine quer über den Asphalt flattern bunte Tücher zwischen den Ballons
ein Kind hält das andere fest, sie drehen sich im Kreis, kreiselkreideweiß
während die anderen hüpfen drei vor und zwei zurück, mit oder ohne Gummi ein Tanztheaterstück
„Jetzt bist du dran!“ zeigt ein Mädchen auf mich und alle lachen – auch ich
Februarmorgen am Rhein
Schillernde Schieferschatten, fließende Furchen
vom Grau des abziehenden Regens getränkt, wälzen sich unter der Last der Kähne Stromschnellen und -wellen durch die Tiefe des Tals
Ausläufer der Schmelze in den Bergen von Schnee und Gletschereis ausblutende Wunden immer schärferen Lichts
wie es von neuem durch die Wolken bricht blendend grell den Blick verengt, über den Flussteppich tanzt in Silberschleifen
als wären die Schiffe ohne Schwere und Kraft, nur behäbige Masse unbändiger Energie, Luftspiegelungen im Funkenschlag –
die Augen schließen vor dieser Wirklichkeit
in sich vor Anker gehen
Volkmar Mühleis, geboren 1972 in Berchtesgaden, lebt und arbeitet in Brüssel, wo er an der Kunsthochschule LUCA School of Arts Philosophie und Ästhetik unterrichtet. Zu seinen literarischen Buchveröffentlichungen gehören die Gedichtbände «Fête de la Musique» und «Gesichtsverlusterkennung» sowie das «Tagebuch eines Windreisenden» und die Novelle «Wasserzeichen».
Mutters Sprache lässt sich vermessen wie das Schnittmuster für ein leichtes luftiges Kleid. Oder wie für einen zu eng sitzenden steifen und unbequemen Anzug. Gefangen in Launenhaftigkeit, schwankend zwischen heiterer Fröhlichkeit und finsterer Unzugänglichkeit durchpflügt sie die Tage. Und dazwischen Leni, die kleine Tochter.
Mutters Sprache ist spitz wie Stecknadeln, welche den Stoff zusammenhalten. Die Worte ritzen Lenis Seele. Leni schaut und lauscht den Stimmen hinter der geschlossenen Glastür. Sie sitzt dort gemeinsam mit dem Hund und versucht, durch das mit Schlieren versetzte Türglas die verschwommenen Umrisse der Mutter und der Gestalt einer weiteren Person zu erkennen. Mutter jagt Hund und Leni von der Glastür weg, sie ist mit Kundschaft beschäftigt.
Mutters Sprache zerschneidet Lenis Tag in Aufstehen, Mittagessen, Nachhausekommen und Schlafengehen. Dazwischen, wenn sie nicht draussen unterwegs ist, liegt Leni auf dem Rücken in ihrem Zimmer und beobachtet durch das Fenster die die vorbeiziehenden weissen Wolkengeschöpfe. Sie zeichnet die Umrisse in ihrem Kopf nach: ein Fisch, ein Teufel, ein Drache, eine Maus, ein Hund. Für Leni sind es glückliche Tage, sie kennt nichts anderes.
Abendessen gibt es dann, wenn der Vater nach Hause kommt. Danach richtet sich Mutters Tageszeit. Der Tisch wartet, gedeckt mit drei Tellern. Leni ist überzeugt, in der falschen Familie zu leben. Vielleicht ist sie adoptiert, denkt sie.
Immer, wenn Mutter mit Kundschaft beschäftigt ist, bleibt Leni sich selbst überlassen. Ihr Reich befindet sich draussen. Sie turnt an der Teppichstange oder verbringt die Zeit vor dem alten Speicher. Durch den breiten Spalt über der Türschwelle spähend und ohne etwas zu erkennen, versucht sie sich vorzustellen, was im Innern des alten kleinen Hauses wohl sein könnte. Welche Geschichten sich dort abgespielt haben könnten, schlimme vielleicht oder auch frohe. Darüber vergisst Leni die Zeit. und die Mutter muss sie suchen, zusammen mit dem Hund an der Leine.
Wenn es regnet, oder nach dem Mittagessen muss Leni in ihrem Zimmer bleiben. Sie richtet dann Räume in Kartonschachteln ein und stellt sich vor, sie würde darin leben. Allein, oder zusammen mit ihren Stofftieren. Sie erzählt ihnen die Geschichten, die sie erfindet. Sie handeln von kleinen Reichen, Inseln, die sich unter einem Baum oder auch mitten in einem See befinden. Um diese Inseln schwimmen Monster, die sich unter ihrem Bett verstecken. Die Mutter erzählt Leni auch Geschichten, abends, im Bett. Leni will dieselbe Geschichte immer wieder hören. Es ist die Geschichte eines Mädchens, dass die Noten auf der Blockflöte nicht spielen konnte, weil ihre Finger die Löcher nicht in der der richtigen Reihenfolge decken konnten oder sich die Löcher hurtig wegduckten, bevor die Finger sie fanden. Die Flötenlehrerin, eine der Mutter ähnelnde Frau mit seltsamen Unterrichtsmethoden verlor die Geduld und schleuderte das hölzerne Instrument durch das Zimmer. Leni staunt, dass die Flöte dabei nicht zerbrach und die Geschichte damit gut ausging. Doch Mutter will diese Geschichte nicht erzählen, sie gefällt ihr nicht, sagt sie.
Am Tag ist es plötzlich totenstill in der Wohnung. Leni öffnet leise die Zimmertür, dahinter liegt Mutter reglos auf dem Teppichboden. Leni schleicht sich ins Zimmer, setzt sich neben die still daliegende Gestalt und wartet. Mutter bewegt sich nicht. Lebt sie noch? Leni beginnt sich zu fürchten. Vielleicht ist die Mutter tot und Leni und der Hund sind dann ganz allein. Vorsichtig berührt sie den Arm der Mutter. Keine Reaktion. Lenis Angst um die Mutter wächst, sie versucht herauszufinden, ob sie noch atmet. Dabei weckt sie die schlafende Mutter, ihre Stimme zerreisst die Stille wie ein Stück Papier. Leni ist erschrocken und glücklich zugleich, die wütenden Worte der Mutter sind nicht schlimm, weil sie ja lebt und weiterhin auf Leni und den Hund aufpassen kann.
Draussen vor dem Fenster sitzt bereits die Dunkelheit wie ein grosses, pelziges Tier. Leni darf fernsehen. Mutter muss mit dem Hund noch raus, Leni will nicht mit, sie will diesen Film fertig schauen. Als der zu Ende ist, stellt Leni den Fernseher aus. Sie ist allein in der Wohnung. Leni wartet auf die Mutter und den Hund, dass sie endlich zurückkommen.
Keiner kommt. Der Schlüssel steckt im Schlüsselloch. Leni wartet hinter der Tür, spielt am Schlüssel, bis sich dieser dreht. Jetzt ist die Tür verschlossen. Mutter und der Hund können nicht mehr in die Wohnung, und Leni kann nicht raus. Leni spürt, wie das Monster unter ihrem Bett hervorkriecht, um sie zu fangen. Mit zittrigen Fingern nestelt Leni panisch am Schlüsselbund. Der Schlüssel will sich nicht zurückdrehen lassen, so verzweifelt sie es auch versucht.
Leni klettert auf den kleinen Balkon im ersten Stock und über das Geländer. Das Rufen ihrer Kinderstimme nach der Mutter versinkt in der pelzigen Dunkelheit des Abends. Sterne blinken, als Leni über das Geländer klettert und in die Tiefe springt, der Mutter entgegen.
Textile Collage Bader 4/1
Béatrice Bader *1968 ist visuelle Kunstschaffende und Erzählerin des Unaussprechlichen, arbeitet an der Schnittstelle von Kunst und Sprache. Ihre Werke sind wie Fenster in verborgene Welten, geprägt von einer feinen Sensibilität für das Flüchtige und das Bleibende. Ob in Bildern oder Worten – sie sucht das, was hinter den Dingen liegt, das Unsichtbare, das wir fühlen, bevor wir es verstehen. Als Autorin erzählt sie Geschichten, die den Alltag mit Poesie durchdringen, und als Künstlerin verwandelt sie Gedanken in Formen und Farben. Ihre Werke sind ein Dialog zwischen dem Innen und dem Aussen, der Stille und dem Klang. Béatrice Bader lädt ein, innezuhalten – und für einen Moment die Welt neu zu sehen.
Wolfgang Klein, geboren 1958 in Wien, aufgewachsen in Niederösterreich, Abschluss der HTL Wien für heute bereits antiquierte Nachrichtentechnik (Wahlscheibentelefon, 1 Computer für alle Wiener Schulen,…), lebt seit 2004 mit Familie (Ehefrau, Husky- & Mischlingshündinnen) im Wienerwald. Autodidakte künstlerische Tätigkeiten: mit Schrift kombinierte Malversuche, auch Keramiken, vorwiegend jedoch schreibend: Dramulette, Kurzgeschichten, Lieder, Poesie, Lyrik.
Ich hab mich verirrt Wimperntusche vergessen Auf der Treppe Das Fenster ließ sich nicht Schließen der Vorhang Klemmte als Segel Tuch im Rahmen ich musste Auf einen Stuhl steigen Um die Flatter zu machen Kann viel erzählen Von munteren Monden Verschütt gegangenen Verben verloren Geglaubten Schlüsseln Kann auch behaupten Ich spiele bloß mit Der Zeit wenn der Abend Lang genug wird
Innen
Ohne Sonne werfen Wir weniger Schatten Aufeinander dann Wird es wärmer Ich kann dich erkennen Du bist leichter Als Wind du drehst Mir am Glücksrand
Auftritt
Unter der Brücke Weht es mich durch In unvermutete Richtungen Ich soll mich erinnern An große Sprünge Gedächtnis Lücken übertreten dabei Komme ich eigentlich aus Dem Eishaus habe dort Zucker Statt Wasser getrunken und Aufgepasst dass der Überschuss Zeit nicht aufs Kleid tropft Du siehst aus als wolltest du Mir als erster begegnen Nur einmal in diesem Leben Auf meinen Ostmund Setze ich einen Rotstift an Den du für voll nehmen sollst Du hörst ihn glitzern Während ich rede
Glasfasern
In deinen Armen Schleppst du eine Reißprobe Durch die Idylle Sehnen sind am Zerspringen Wir sollten eigentlich Nicht davon sprechen Was du am Sonntag machst Dass Wandern Kein Sport ist Dass wir uns beide Zu schwer sind du solltest Eigentlich gar nicht Mit mir über Sehnen sprechen
Unberührbar
Kopierer geben den Geist auf Was wir schreiben lässt sich kaum Drucken nichts Schwarzes will halten Auf einem Weiß das unter ihm bricht Die Geduld des gesamten Papiers Hängt nur noch an einem Faden Keine Silbe hat deine Augen
Knapp über Null
Zu kühl für die Jahreszeit Sagen sie warten mit Gurkensetzlingen Der Eisheiligen wegen Du gießt Wasser ins Glas es könnte sich Glatt eine Schicht drauf bilden Ich werde eine Clematis pflanzen sag ich Streif deinen Kosmos du siehst Mich an von der Seite als würde sich was Lichtes bestätigen das du Schon lange über mich weißt und nie Ganz glauben konntest
(bisher unveröffentlichte Gedichte)
Franziska Beyer-Lallauret, geboren 1977 in Mittweida, wuchs im sächsischen Muldental auf und studierte in Leipzig Germanistik und Französisch. Nach längerem Aufenthalt in der Bretagne lebt sie heute mit ihrer Familie als Deutschlehrerin und Autorin in Avrillé bei Angers an der Loire Sie schreibt sowohl auf deutsch als auch auf französisch, bzw. überträgt ihre deutschen Texte wie bei ihren beiden letzten Gedichtbänden («Falterfragmente / Poussière de papillon» und «Lauschgoldfisch / Brise Âme», beide dr. ziethen verlag Oschersleben 2022 und 2025) eigenständig ins Französische. Auszeichnungen: Ulrich-Grasnick-Lyrikpreis 2021 (1. Preis), Shortlist des Bonner Literaturpreises 2021, Finalistin beim Lyrikpreis Meran 2022. Mitglied der internationalen Lyrikgesellschaft Leipzig e.V., des Friedrich-Bödecker-Kreises und des PEN Deutschland.
wir sind manchmal doch weiter voneinander entfernt als ich gerne glauben möchte. Sie w i s s e n, weshalb Sie schreiben, wenn Sie sagen: „Wir sind kleine Gefäße, die an einem Ozean nippen. Mein Bestreben als Autor ist es, diesem wilden Exzess Ehre zu erweisen.“ Was für ein Vorhaben! Ich beneide Sie darum. Dagegen komme ich mir vor, als säße ich nackt – wie Victorine Meurent auf Edouard Manets Bild Frühstück im Freien –zwischen lauter sorgfältig gekleideten Damen und Herren, die einen kulturellen Dialog führen, der nicht (wie bei Manet) unter Gleichrangigen, sondern über meinen Kopf hinweg stattfindet. „Chi-Ball“, „Chakra“, „kosmische Verlängerungsschnur“? Sie zweifeln daran, David, aber Sie haben in bestimmten Lebenssituationen Erfahrungen damit gemacht. Respekt! Da kann ich nicht mitreden. „Wörter sind dünn“, sagen Sie. Aber warum kommt mir so vor, als gehorchten sie Ihnen aufs Wort? Mir steht diese Sicherheit nicht zur Verfügung. Ich träume nachts oft, vor einem Schrankkoffer zu stehen, ohne darin etwas zu finden, was mich kleidet. Dann schau ich an mir herunter und erschrecke vor meiner Nacktheit. Wenn ich aufwache oder durch ein Museum gehe oder durch die diversen Kanäle zappe, die uns umwerben, begegne ich diesem Moment des Erschreckens überall wieder. Meine Lage ist die, nackt zu sein, denke ich manchmal. Nackt begegne ich mir auf vielen Bildern. Und in vielen Sätzen. Dort ist auch häufig von Dingen die Rede, die ich nicht verstehe. Was ist richtig und was falsch? Wer bestimmt den Dresscode? Ich habe keine Antwort darauf und gehöre selten „dazu“. Bei meiner Suche nach einem Gegenüber ist es wohl meine Aufgabe, austariert zu werden von einem mich musternden Blick. Oder es gibt erst gar keinen Blickkontakt. Dafür fehlen mir die Worte. Sie gehorchen mir einfach nicht.
Wie gerne würde ich hin und wieder Mondschein-Romantik vermitteln. Sie sagen, Sie hofften dies nicht zu tun. Warum nicht? Steht Mondschein nicht jedem Dichter, der den Eigengeruch der Nacht aus der Lichtverschmutzung bergen will? Da ist sie wieder: die Sehnsucht. Auch nach Mondschein-Romantik. Ich male mir immer noch das Paradies Schlaraffenland Arkadien aus. Kann einfach nicht die Finger davonlassen. Vielleicht bin ich ernsthaft krank und habe wieder zu viele Äpfel gegessen. Vielleicht lebte ich gesünder, wenn ich das Angebot des freundlichen Clubs akzeptierte, der mich bei sich aufnehmen möchte. Das Problem ist nur, dass ich nichts anzuziehen habe, um mich dort vorzustellen.
Gerade komme ich aus Paris zurück, wo ich erneut zwei Monate verbrachte. Wie schon vor zwei Jahren, als Sie und ich uns zufällig dort über den Weg liefen. Dieses Mal liefen mir ständig Soldaten in kugelsicheren Westen über den Weg, Maschinengewehre im Anschlag. Der Ausnahmezustand war überall sichtbar. Ich grüßte die Soldaten, die vor unserem Haus standen, und sie grüßten zurück. Aus welchem Land kommen Sie, fragten sie nach einer Weile des Grüßens erstaunt, denn sie waren es nicht gewohnt, gegrüßt zu werden.
Aus Deutschland, antwortete ich. Sie lächelten. Deutschland nimmt so viele Flüchtlinge auf. Verwandte von uns. Freunde, sagten sie. Traten höflich auf dem schmalen Gehweg zur Seite, wenn sie mich sahen. Da glaubte ich einen Moment lang, im Paradies angekommen zu sein. Wertgeschätzt zu werden, weil das Land, in dem ich lebe, etwas gelernt hat aus seiner Vergangenheit. Wären da nur nicht die ständig wiederkehrenden Anschläge auf Asylantenheime. Im Feuerlegen kennt mein Heimatland sich gut aus.
In Paris lief ich mir die Füße wund. Die Stadt überwältigte mich ohne Angabe von Gründen. Der Ausnahmezustand ließ sie außerdem ganz anders aussehen als beim letzten Aufenthalt. Kontrollen am Gare du Nord. In den Kaufhäusern. Absperrbänder. Terrorwarnung. Keine endlosen Touristenschlangen vor den zentralen Sehenswürdigkeiten. Abgeriegelte öffentliche Grünflächen, wo ich vor zwei Jahren noch flanierte. Was ich wiedererkannte, war architektonische Grandiosität neben Verfall. Eleganz neben Obdachlosigkeit. Stinkende Abfälle neben üppig blühenden Kamelien in struppigen Hinterhöfen. Schon nach wenigen Ausflügen musste ich mich ins Atelier zurückziehen. Meine Füße streikten. Ich streifte mir Schwimmflossen über und tauchte ab. Las in Jean-Pierre Abrahams Buch „DerLeuchtturm“ über das Leben und die Einsamkeit weit draußen im Atlantik.
„Ohne mir dessen bewusst zu sein, bin ich in die stumpfen Seelen alter Seemänner vorgedrungen…Ich wüsste zu gerne, ob sie auf hoher See jenen Moment erlebt haben, da die Haut dünn, endgültig lichtdurchlässig wird.“
Gedankenträgerin, Tusche auf Papier 2019
Jean-Pierre Abraham öffnet mit einer weit ausholenden Handbewegung das Fenster zur Stille. Sie wird zum Leuchtturm vor der Küste der Bretagne. Nach der Lektüre gab ich jeden Plan auf, etwas Bestimmtes fertigstellen zu wollen. Wochenlang studierte ich das Moos auf dem Haufen rostiger Fahrräder vor meinem Fenster. Hatte Besuch von einer einzelnen Taube, die immer auf exakt derselben Stelle des gegenüberliegenden Daches ihr Revier in Besitz nahm. Hörte aus dem Tanzstudio nebenan Übungen in Schreitherapie. In der Waschküche lernte ich ein junges finnisches Genie kennen. Ein Komponist, der seine Mütze tief über die Augen gezogen hatte, gab mir den Link zu seiner ersten Symphonie. Am Ende des Waschprogramms murmelte er entschuldigend so etwas wie „zeitgenössische Musik findet wenig Zustimmung“ und verschwand nahezu völlig unter seiner Mütze. Direkt neben meinem Atelier lag ein russisches Studio. Dort malte Olga Tänzerinnen in Pastelltönen. Da uns eine gemeinsame Sprache fehlte, verständigten wir uns mittels gefüllter russischer Eier und Baguette. Olga beschrieb mir ihre Bilder, indem sie fliegende Bewegungen mit den Armen machte und die Hand aufs Herz legte. Sich die Augen rieb, als müsse sie weinen, wenn sie von Abreise zu sprechen schien und auf ihr Gepäck zeigte.
Ich tauchte noch tiefer in meine Skizzenbücher und hatte das Gefühl, die Seine in meinen Ohren rauschen zu hören. Wahrscheinlich war ich längst auf den Grund des Flusses gesunken, über mir nichts als bleigraues Wasser, durch das sich Ausflugsboote schraubten. An Deck spiegelte sich der Himmel in chinesischen Selfies. Jemand hatte mit weißer Farbe einzelne Worte auf die Trottoirs der Brücken zur Île Saint- Louis und Île de la Cité gestempelt: Ich bin, stand dort oder: Vernunft.Traum.
Vier Worte reichen, um Philosophie auf die Straße zu bringen! Das begeisterte mich. Vier Worte, die wirksamer sind als jede Vorschrift im deutschen Straßenverkehr. Die Franzosen bauen auf ihren Descartes wie auf solide Brückenpfeiler, die bis in die Moderne reichen.Hier trägt kaum jemand einen Fahrradhelm, fährt niemand auf dem Gehweg, auch wenn es keine Fahrradwege gibt. Rote Ampeln und Fahrspuren dienen lediglich als grobe Orientierung. Trotzdem funktioniert der Verkehr.Selbst Kinder überqueren die Straße bei Rot und niemand regt sich darüber auf. Ich nahm den Bus zum Jardin des Plantes, um mich von der Frage abzulenken, weshalb so ein Verhalten bei uns undenkbar wäre. Erschöpft vom Stadtlärm ließ ich mich auf eine Parkbank fallen.
Asseyez-vous, je vous en prie et parlez moi d`amour (Setzen Sie sich und erzählen Sie mir von der Liebe)
las ich auf einem kleinen Metalltäfelchen, das an unauffälliger Stelle auf der Sitzfläche der Bank angebracht worden war. Was für eine Begrüßung! Leichtfüßig sprang ich auf und verliebte mich sofort in weitere Parkbänke, wo spendable Pariser für ihren finanziellen Beitrag zum Erhalt des Gartens eigene Gedanken oder bemerkenswerte Zitate hinterlassen dürfen. Mancher Besucher nickte mir amüsiert zu, weil ich vor den Bänken kniete, um die herzstärkenden Mittel auf den kleinen Täfelchen abzuschreiben. Es sind zu viele, um sie hier alle wiederzugeben. Am besten kommen Sie selbst noch einmal nach Paris und testen die Wirkung, wenn Sie im Botanischen Garten von Bank zu Bank schlendern wie durch ein durch Fantasie geschütztes Areal. Hier ist vieles möglich, was außerhalb der Mauern, die den Park umschließen, schon wegen des Ausnahmezustands schwer vorstellbar ist.
Nous arrivons toujours à l`endroit où nous sommes attendus. (Wir kommen immer da an, wo wir erwartet werden)
Fast hätte ich den riesigen versteinerten Wirbelknochen übersehen, der wie ein Meteorit aus dem All in ein Blumenbeet gestürzt zu sein schien und als eine Art Mahnmal daran erinnert, dass Mensch und Natur irgendwann eine Einheit bildeten.Gehörte der Wirbelknochen einst einem Pottwal? Ich weiß es nicht, aber zusammen mit Pfingstrosenduft, Buchsbaumornamenten und Orangerien ergab sich ein Szenario, das mir den Kopf verdrehte. Das Paradies schien kurzfristig um die Ecke zu liegen. Fast greifbar nah. Mag sein, dass dieses Drehen des Kopfes die nötige Haltung ist, um den Glückszustand wahrzunehmen, den ich so oft vermisse. Wer stets absprungbereit lebt und das Aroma von frisch gepflückten Zitronen fast vergessen hat, wird schnell mutlos. Ich nahm mir vor, auf dem Rückweg eine Tarte Pommes et Compote zu kaufen. Diese unvergleichliche Köstlichkeit müssen Sie unbedingt probieren. Auf einen knusprigen Mürbeteigboden wird zentimeterdick Apfelmus gelöffelt und mit hauchdünn geschnittenen leicht karamellisierten Apfelscheiben belegt. Ich schicke Ihnen das Rezept gern zu. Ein Biss davon genügt, und Sie sind…..Sie wissen schon wo.
à bientôt
Johanna
«Schreiben ist eine Art von Luftwiderstand», von Johanna Hansen illustriert
(Aus einem deutsch-amerikanischen Schriftwechsel, den Johanna Hansen mit dem Schriftsteller David Oates aus Portland/Oregon über zwei Jahre lang führte. Das Buch erschien im Wortschau Verlag mit dem Titel «Schreiben ist eine Art von Luftwiderstand».)
Johanna Hansen, Schriftstellerin, Malerin, Herausgeberin, Studium der Germanistik und Philosophie an der Rheinischen Friedrich-Wilhelm-Universität Bonn. Lebt in Düsseldorf. Zunächst Sprachlehrerin und Journalistin. 1991 Beginn der künstlerischen Tätigkeit. Seit 1993 zahlreiche Ausstellungen. Seit 2008 literarische Veröffentlichungen als Einzelpublikation, in Literaturzeitschriften, Anthologien und auf Literaturplattformen. Seit 2013 zusammen mit Wolfgang Allinger Herausgeberin der Literaturzeitschrift wortschau. Mehrfache Auszeichnungen. Zuletzt Lyrikpreis Feldkirch 2024.
Sandrine. Notate. Nicht-lineare Erinnerungen eines weiblichen Ichs
„Man kann nicht ohne Liebe lesen. Wenn man schon zuvor ein Bild von einem Text hat, dann weist man ihn ab.“ Hélène Cixous
Ihr Atem ist so leise wie ein Hauch Gänsedaunen. Jetzt, da die Zeit in stehenden Gewässern friert, kann sie die kommenden Verwerfungen spüren. Sie schrauben sich um eine gedachte Achse. Das Gefühl dazu findet sich an keinem Strang. Wie ein Fresko legt es sich auf die Haut. Schicht um Schicht, feucht vermalte Erstarrung.
Erste Texturen falten sich auf. Bislang stets scharfe Umrisse geben die Konturen frei. Eine Art Vorgebirgszone legt sich vor ihr aus, deren Mitte sich ins Freie wölbt, ein Eigenleben führt. Sandrine könnte eine jede sein. Ihr Tagwerk rutscht ins Monochrome ab. Endlos verschleifen sich die Tage, verkürzen sich. Drehen sich nach ihr um.
Paris. Die weiße Wohnung an der Île de la Cité. Je ne suis pas là, ma chère. Die Zeit streckt ihre Fühler aus. Eine Nummer wählen. Dem Rauschen zwischen den Freizeichen lauschen. Laufmaschig zum Quai de Montebello. Taxi!
Rückwärts. Der Steg über den Main. Wasser, das über das Geländer greift. Wände, die auf Tuchfühlung gehen. Flashbacks. She’s like a rainbow. Keine Schonung überdeckt das Danach: Stoßkanten, Risse und ein Verlust, der keiner ist.
Vorwärts. London. Chalk Farm Studios. You are so funny! Stay like this. Peking Duck bei Mr. Chow. Teppiche sind Tagebücher. Sie dämpfen die Gegenwart, mischen sie mit Staub und dem Schlaf der anderen. Abflug.
Französische Provinz. Sandrine inmitten einer Herde Maneches. Waagerecht langgezogene Pupillen, schwarze Köpfe. Sie mischt sich ins wollige Feld: offenporig, körperlos. Voilà.
Zurückspulen. Germersheim. I take you to the backside of the moon. Brachlandig liegen. Furche an Furche. Gleichschaltung zweier Wesen. Augen auf! Es gibt immer ein Dazwischen.
Vorspulen. Zeit ist ein Hüpfspiel. Himmel und Erde, dazwischen Störstellen und haufenweise Glück. Sandrine ist nicht der Diminutiv von Alexandrine.
Jane Wels «Schwankende Lupinen», edition offenses feld, 2024, 80 Seiten, CHF ca. 27.90, ISBN 978-3-7597-2115-0
Jane Wels, 1955 geboren in Mannheim, Magister-Studium der Erziehungswissenschaften, Entwicklungspsychologie und Medienwissenschaften, 1989 erste Lesung im Heine-Haus Düsseldorf, 2024 Debüt mit „Schwankende Lupinen“, Hrsg. Jürgen Brôcan, edition offenes feld, diverse Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften,Anthologien und Online-Magazinen.
singid siba schneeawiissi Schwään übar mis Huus ufam Fluug in Süüda singid Säaga
bringid Freada ear schneeawiissa Schwään vum Noardan in Süüda vum Weschtan in Oschta bringid Freada
singid vu Kraankat Soargan und schtäarba schneawiissi Schwään
singid Läaba singid Säaga bringid Freada
Dämmarschtunda
Si ischt fascht 97gi gsii wo s gschtoarban ischt im Juli 2001 üsari Tanta Fiina leedig roati Hoor s Läaba lang ir Fabrik gschaffat um nünt si hett gäan an Maa khaa und Kiand abar doazmool mit roata Hoor ku Schooss blibscht hoka bim Kilbitaanz
abar im Aaltarshaim haiaiai bis in Moargan iachi taanzat ammana Fäascht jawool di roata Hoor siand iaz jo wiiss schneewiiss wi andari oo
si häat s Läaba ggnossa earscht räacht gäan gsunga regilmäässig a Glääsli Wii
ebs äacht no hundarti wöar
ammana Taag häats gseet as langat iaz bini müad ischt im Bett pleaba häat nümma ggäassa nümma trunka t Ooga zuan und ufa Toad ggwaartat däar ischt nüd gad glai koo
singa häat Pfiina gseet singa
iannari aalta Liadar hommar mittar gsunga Liabi Load Frööd und Toad alls hommar mittar gsunga mänga Schtrooffa
mit vollar Schtimm klaar und tütlig us vollam Häarz häat Pfiina gsunga Köarpar und Gaischt siand langsam varlöscht wi a Kearzaflämmli s Ggmüat häat no häall uusaklunga bisas dar Toad khöart und Pfiina it Aarma ggnoo häat
Gränzschtuua
ir Meatti vum aalta Rii schtoot an Gränzschtuua ufamana Schtuuabett
Als Kiand siammar uufikläattarat aachigjukt uufi aachi uufi aachi is Inland gjukt is Ussland gjukt uuni Pass
Gschichtabömm
Iaadi häat iannari Gschicht
doar Schichta
vu iannarar Moattar sinnar Gschicht
und iannaram Vattar sinnar Gschicht
und doar iannaran Eltara sina Gschichta
woarzlid
I ho
Bim Papa Kuschtar ir Kuchi khokat voar iam uss a Holzkischta ufar Holzkischtan an umkeearti Holzhäardiisapfanna am langa iisaga Schtiil vur Pfanna häat ar dar goldig Töargga ggraschplat ratsch ratsch ratsch Köannli siand it Kischta gschpikt dar läär Rapp häatar it Zuana gwoarffa dian häatar im Wiantar zum aafüüra ggnoo
ii als klänns Möatalidarnäabat khöklat ir Kafìmüüli uf da Knüüna hani Töarggaköanli ggmaalat schtundalang rundummioo iooioo vu Zitt zu Zitt häat dar Papa Kuschtar gseet i ho all han i gfröögat waa hoasst i ho i ho häat dar Papa Kuschtar gseet und häat hööfali gglächlat ammana Taag han i gseet iaz woassis: i ho hoasst joo dar Papa Kuschtar häat hööfali gglächlat ùnd häat gseet
i ho
Napoli
Am Meer Mööfagschrööa kun uanziga Voogil wo singt
bi nüd wägs da Vöögil koo bi wägs dar Muusig doo Rusalka s Määrli vur Nixa und vum Prinz wo nüd hond künna zämmakoo dr Graaba zwüschat Läaban und Toad ischt z tüüf truurig schüüa s Liad an Moo wo t Rusalka singt
la Luna höart s blibt schtumm am Himmil schtoo
Rii rundumm
rundumm Rii ruuschat aanis varbii laadat zum Baada zum Loosan und Luagan ii kunnt eewig goot eewig und ischt all doo
Rii rundumm rundumm Rii kunnt vu mächtiga Bäarg macht is klii wi Zwäarg loot is machtloas am Uufar schtoo übar viar Brugga üübarigoo
Rii rundumm rundumm Rii ischt wi umarmat sii vunnara Kraft wo flüüsst und Läaba bringt
mächtig doarsichtig singt
Uufrumma
kumm häascht di räacht iiggrummat im Läaba iss schu widar Zitt zum uusrumma
Aapassa
Aapassa sì müsstat sì gad aapassa tütsch läanna schaffa wi meear schmeka wi meear täänka wi meear
jò meear täätìd üüs aapassa
As klokat
As klokat a fröndì Frou A üsarì Tööar Uuftùùa Iiacha lòò Ìt Ooga luaga
Sì häat an Namma Ùnd o a Moattar Ìm Hìmmìl
Ùanì wo vòar 2000 Jòòr Säalbar Flüchtlìng Gsii ìscht
Am Taich
Frosch grüüa ufam Searoasablatt o grüüa schüüa Frosch grüüa
Frosch grau ufam gschpriggalatta Schtuua o grau schlau Frosch grau
Frosch schwarz im schwadriga Schwappilschlamm o schwarz
nüd aso schüüa wi Frosch grüüa abar o schlau wi Frosch grau
Berta Thurnherr «Rundumm Rii», Der gesunde Menschenversand, 2023, 184 Seiten, CHF ca. 25.00, ISBN 978-3-03853-134-0
Berta Thurnherr, geboren 1946, lebt als Autorin und Erzählerin in Diepoldsau. 2018 wurde sie mit dem Rheintaler Kulturpreis Goldiga Törgga, 2021 mit dem Anerkennungspreis der Kulturstiftung des Kantons St. Gallen ausgezeichnet. Zahlreiche Veröffentlichungen, unter anderem «As wöart schù wööara, ma tuat wamma kaa» (Buch mit 2 CDs).
Dass er dem Herrn, dem er gerade die Toilettentür aufgehalten und den Lichtschalter gewiesen, einen schönen Tag gewünscht hatte, ließ Horst Bredolsky deutlich spürbar den Schweiß auf die Stirn treten. Bredolsky begann also heftig und weithin sichtbar, wie er meinte, zu schwitzen. Noch konnte er das Zittern der Hände, das für gewöhnlich einen solchen Schweißausbruch in verräterischer Weise zu begleiten drohte, im Zaum halten, doch er wusste, auch das war nur eine Frage der Zeit, eine Frage der Kontrolle, die ihm dieser Tage nur allzu leicht entglitt. Noch aber, so hoffte er, wäre nicht alles gänzlich verloren, wenn er nur so unauffällig, so unbekümmert wie möglich, ohne Stolpern oder Schlurfen, seinen Weg zurück auf seinen Platz finden, sich hinsetzen, ein Bein über das andere schlagen, die Arme locker verschränken, den Blick ungerührt auf das Bild gegenüber heften würde. Noch ist nicht alles verloren, dachte Bredolsky, als er ohne weitere Zwischenfälle den Weg zurückgelegt, am Platz angekommen, sich auf seinen zum Glück noch nicht neu besetzten Stuhl sinken lassen wollte. Noch ist nicht alles verloren, dachte er und setzte sich auf den Stuhl, dessen Polster sogleich ein lautes, wie er meinte, durchaus missverständliches Knarzen im fast voll besetzten Wartezimmer verlautbar machte.
Bredolsky erstarrte. Fixierte das Bild gegenüber, widerstand mit größtmöglicher Selbstbeherrschung dem Impuls, die Augen im Schreck über das vermeintlich unflätige Geräusch zusammen zu kneifen. Viel zu verräterisch wäre das, ein Schuldeingeständnis, wo doch gar keine Schuld bestand, zumindest nicht seinerseits – man müsse dem Hausmeister! Nein, dem Hersteller! Aber doch nicht ihm, nicht Horst Bredolsky! Nein! Bredolsky, das Bild fixieren! Den Blicken ausweichen, sagte sich Bredolsky im fast voll besetzten Wartezimmer. Den Blicken, die ihn zweifelsohne mit Scham und Schande überziehen wollten! So ist der Mensch, dachte Bredolsky, dass er den anderen beschämen möchte, wo es nur geht, der kleinste Anlass ist ihm gerade recht, dachte er im fast voll besetzten Wartezimmer.
Bredolsky schwitzte heftig. So eine furchtbare Situation! So eine unglückliche Verkettung! Schönen Tag noch, hatte er gesagt, als er dem Herrn die Toilettentür aufgehalten und den Lichtschalter gewiesen hatte. Die Toilettentür hatte er ihm aufgehalten und den Lichtschalter hatte er ihm gewiesen, nicht etwa die Eingangstür zur Praxis! Oder die Tür zum Sprechzimmer der Frau Doktor! Oder das Portal in eine fremde Dimension! Irgendetwas, das eine solche Verabschiedung gerechtfertigt hätte, nein! Durchaus hörbar hatte er dem Herrn einen schönen Tag gewünscht, als er selbst gerade das Badezimmer verlassen hatte, sich dem suchenden Herren gegenüber fand und ihm die hinter ihm zugefallene Tür rasch wieder geöffnet und den gerade erst selbst betätigten Lichtschalter gewiesen hatte. Schönen Tag noch, hatteer dem Herrn gesagt, der das fast voll besetzte Wartezimmer, in dem er, Bredolsky, zu allem Unglück auch noch geräuschvoll selbst wieder Platz genommen hatte, sicher gleich wieder betreten würde. Der Herr würde ebenfalls wieder Platz nehmen und dann würden er, Bredolsky und alle anderen Insassen des fast voll besetzten Wartezimmers im schrillen Bewusstsein dieser peinlichen Situation beieinandersitzen. Eine schreckliche, eine fast unerträgliche Vorstellung!
Bredolsky schwitzte heftig und erwog, schnell aufzustehen, seinen Hut zu nehmen und seine Überjacke, das Wartezimmer zu verlassen, einfach zu gehen, den Termin kurzerhand sausen zu lassen. Bredolsky erwog, den Anschein zu erzeugen, die Verabschiedung wäre schließlich gerechtfertigt gewesen. Er erwog, nach Hause zu fahren, sich eigenmächtig krank zu melden, die Jalousien runter zu lassen, sich ins Bett zu legen, Kraft zu sammeln für einen neuerlichen Anruf nach angemessenem Intervall, der Schwester dann zu versichern, er sei wieder ganz wohlauf, ganz und gar körperlich und seelisch imstande, die Untersuchung nun über sich ergehen zu lassen, in sechs bis acht Wochen also hier wieder aufzuschlagen, gefasst und gesammelt und hoffentlich – hoffentlich! –, ohne die Gegenwart des Herrn, dem er einen schönen Tag an der Toilettentür, am Lichtschalter gewünscht hatte, im Gefühl größter Peinlichkeit ertragen zu müssen. Noch, dachte Bredolsky im fast voll besetzten Wartezimmer, hätte er Gelegenheit zur Flucht.
Doch was würden die anderen Wartenden denken? War ein plötzliches Aufstehen und Gehen denn plausibel, wo er doch gerade erst wieder Platz genommen hatte? Hatte er seine Chance nicht schon verspielt, als er nicht direkt nach dem Gang zur Toilette und der unseligen Begegnung seinen Hut und seine Überjacke genommen hatte? Einige der Wartenden saßen schon so lange, waren vor ihm hier gewesen, sie hatten gewiss bemerkt, dass er selbst noch gar nicht aufgerufen worden war. Sie mussten wissen, dass er noch nicht im Sprechzimmer gewesen ist, noch nicht etwa ein Medikament verabreicht bekommen haben konnte, das eine zeitlich begrenzte Überwachung erfordert hätte, nach deren Verstreichen er sich nun hätte verabschieden können. Mussten wissen, dass seine Flucht eben dies war, ein feiger Akt reiner Nervenschwäche! Was sollten sie denken? Sie, die sie ihn beim Anmelden laut, wahrscheinlich zu laut, seinen vollen Namen hatten nennen hören: Horst Bredolsky! Ja, Binsenstraße 1! Bei der Frau Mama, ja, das war noch aktuell! Die Nummer ebenso, ja, Schwester, ja! Horst Bredolsky, würden sie gewiss denken, ein Feigling vor dem Herrn, dem er die Toilettentür aufgehalten und den Lichtschalter gewiesen hatte.
Bredolsky schwitzte heftig und seine Hände zitterten. Gleich würde der Herr, dem er einen schönen Tag gewünscht hatte, durch die Toilettentür treten. Dann würde er selbstsicher und festen Schrittes zu seinem noch nicht wieder besetzten Platz gehen und sie würden sich nun hier gegenübersitzen. Gewiss würde der Herr ihn erkennen, sich wundern, dass er nach dieser Floskel noch hier saß, sich im Geiste über ihn amüsieren, sich über ihn lustig machen, vielleicht nur in Gedanken, vielleicht aber sogar laut etwas Abschätziges äußern wie Ach! oder Na. Bredolsky würde stumm bleiben, stur auf das Bild sehen. Stark bleiben, dachte er im fast voll besetzten Wartezimmer. Und er wusste mit verzweifelter Gewissheit, dass trotz aller Bemühungen seine Beschämtheit rot leuchtend auf sein Gesicht treten würde. Dass dieser peinliche Vorfall grell und blinkend wie ein überdimensioniertes Reklameschild im Raum zwischen ihnen stehen und hämisch auf ihn deuten würde.
Bredolsky schwitzte heftig und zitterte. Was er nur immer den Mund aufmachen musste? Dachte er im fast voll besetzten Wartezimmer. Dass er nicht einfach die Klappe halten konnte?! Dass er überhaupt hergekommen war! Es war alles ein großer Fehler gewesen, ein durch und durch vermeidbares Unglück, das er selbst über sich gebracht hatte. Er löste einen Arm aus der krampfigen Verschränkung und griff in einem Versuch, sich zu beruhigen, in die Innentasche seines Herrenblousons. Ein kleines Heft zog er heraus und begann zu blättern. Nicht so hastig, ermahnte er sich noch selbst, innerlich, im fast voll besetzten Wartezimmer. Es nützte alles nichts, nicht einmal seine Listen, seine fein säuberlichen Eintragungen konnten ihn noch entspannen. Dabei war er vorbereitet gewesen. Hatte den Tag, den Weg hierher akribisch geplant. Seine Notizen studiert. Er wischte sich mit der zittrigen Hand über die schweiß-glänzende Stirn und besah sie dann, als hätte er tatsächlich erwartet, dass ihm Pech vom Haaransatz troff. Aber da war nichts. Nur übermäßig viel Schweiß.
Noch ist nicht alles verloren, dachte Bredolsky, überrascht von sich selbst im fast voll besetzten Wartezimmer. Vielleicht, dachte Bredolsky, hatte er ja einmal Glück. Vielleicht würde ihn die Schwester gleich aufrufen und ihn aus dieser Misere befreien. Doch dann meinte er, leise die Toilettenspülung zu vernehmen. Gleich würde der Herr seine Hände waschen, gleich würde er die Toilettentür öffnen und wieder ins Wartezimmer treten. Bredolsky schwitzte so heftig, dass er spürte, wie ihm kleine Sturzbäche über Nacken und Rücken rannen. Gewiss würde es bald am Stuhl hinablaufen, eine Lache bilden, an die Straßenschuhe der anderen Wartenden branden, die sich dann redlich bemühen würden, ihn nicht mehr anzusehen, die angestrengt in ihren Illustrierten blättern und auf ihre Mobiltelefone starren würden, weil sie so befremdet wären, gewiss, und angeekelt von ihm, Bredolsky, diesem unglückselig wallenden Quell der Geniertheit.
Bredolsky hielt sein Heftchen wie ein Gebetsbuch zwischen den krampfigen Fingern, in seinen Ohren rauschte die Toilettenspülung, das Wasser im Waschbecken lief über vor seinem inneren Auge, es musste ihnen allen längst bis zu den Knien stehen, vermengt mit seinem Schweiß. Die Augen zusammengekniffen hielt er sein Notizheft noch fester umklammert und flehte in Gedanken die Schwester an, ihn zu erlösen. Wünschte sich nichts sehnlicher, als seinen Namen aus ihrem Mund durch die Luft schweben zu sehen, wie einen Rettungsring, nach dem er nur den Arm ausstrecken müsste. Jetzt, Schwester, ich bitte Sie, ich bitte Sie! Eindeutiger konnte doch niemand ertrinken?! Das musste doch für alle und erst recht für sie, die fachkundige Schwester, erkennbar sein, dass hier jemand um sein Leben kämpft! Mit sich selbst ums blanke Überleben ringt!
Das Dröhnen des Händetrockners riss Bredolsky aus seinem Strudel. Und stürzte ihn sogleich in noch gefährlichere Gewässer. Es war also soweit! Die Tür würde sich öffnen, Bredolsky würde in Scham und Schande untergehen! Mit fest geschlossenen Augen hielt Bredolsky tatsächlich die Luft an, als er hörte, wie die Türklinke heruntergedrückt wurde…
“Herr Müller, bitte in Sprechzimmer 1, Herr Müller bitte!”
“Oh, das wär dann wohl… Ja.” Der Herr, der gerade durch die Toilettentür getreten war, durchschritt rasch das Wartezimmer und verschwand in dem Raum, aus dem heraus ihn die Schwester gerufen hatte. Ohne dass sich eine Flutwelle hinter ihm Bahn gebrochen, ohne dass er Bredolsky eines Blickes gewürdigt hätte.
Bredolskys Gesicht hing schlaff und farblos an ihm herab. Von einer abstehenden Haarsträhne fiel ein Tropfen Schweiß. Niemand sah ihn an.
Er würde nie mehr hierher kommen können, dachte er im fast voll besetzten Wartezimmer. Nie mehr herkommen wollen. Die Wände waren für immer gezeichnet vom Pegelstand seiner panischen Hilflosigkeit.
Romina Nikolić «Unterholz. Auszüge aus einem Langgedicht», Edition Muschelkalk, 2023, 72 Seiten, CHF ca. 15.90, ISBN 978-3-86160-588-1
Romina Nikolić, geb. 1985 in Suhl, wuchs in Schönbrunn/Thür. auf, studierte Literaturwissenschaft und Philosophie. Seit 2009 neben der eigenen schriftstellerischen Tätigkeit Organisatorin von Lesereihen und diversen literarischen Projekten, u. a. als freie Mitarbeiterin bei der Literarischen Gesellschaft Thüringen oder Mitbegründerin von Love Crime Books, einem Independent-Label für Fanfiction-Anthologien. Zweifache Preisträgerin beim Jungen Literaturforum Hessen-Thüringen, Walter-Dexel-Stipendiatin der Stadt Jena. Lebt als Projektmanagerin, Lyrikerin und Herausgeberin in Jena.
Das Buch lag in Evas Schoss. – Ingeborg Bachmann schaut auf Fotos nicht selten auf den Boden, ging es Eva beim Betrachten des Umschlags durch den Kopf. Und: Ist es Scheu, die sie so blicken lässt?
Ein weisser Fleck vor der Scheibe des langsam fahrenden Zugs liess Evas Kopf nach rechts schnellen. Ein weisser Esel stand da, kurz vor Arth Goldau. Genau da, wo am 2. September 1806 der Rossberg zu Tal gefahren war und drei Dörfer mit 457 Menschen, 323 Stück Vieh, ihren Häusern und Kirchen unter sich begraben hatte.
Der weisse Esel blickte nach Osten. Keine drei Meter von ihm entfernt, Steiss gegen Steiss, stand auf einem kuppelförmigen Stück Grünfläche ein schwarzer Esel und blickte nach Westen. Zwischen Häuserfassaden, Geleisen und Brocken von Urgestein ein Bild wie aus der Zeit geschnitten.
Die Lokomotive zog an. Der Wagen, in dem Eva sass, tauchte ein in eine dunkle Tunnelöffnung, um kurz darauf am Bahnhof zu stoppen. Evas Körper ruckte in die Gegenwart zurück. Sie hörte den Rentner mit dem spärlichen Blondhaar im Abteil rechts schräg vis-à-vis vor sich zu seiner Frau sagen, indem er Satzteile aus dem Magazin mit eigenen Gedanken mengte: «Das gloubsch jo ned, de Ueli Murer zeigt sis wohre Gsecht. Das Staatsoberhoupt het vo de Krise be de CS Bank gwösst ond nüt onderno.» Seine Frau genervt: «Die spenne jo! So eine aus Bondesrot z’ wähle.» Ihr Mann, mit Ironie in der Stimme: «Met em Xi Jingping hett er öberus fröndschaftlechi Gspröch gfüehrt. Ond d’ Finanzmineschter vo Saudi Arabien ond Katar het er 2022 ou bsuecht, för bilaterali Gspröch zo pikante Theme.» Seine Lippen kräuselten sich erneut, bevor er tiefernst anhängte: «Ond denn esch er chorz druf, öberraschend z’roggträte. Das get’s jo ned!»
Er vertiefte sich wieder in das Magazin. «Hey, so cool», drang plötzlich seine Frau in seine Lektüre ein, «do vore esch grad de Papscht igstege! E Voralpe-Expräss! Dass ich das darf erläbe. – Do esch aues dra», warf sie nach ein paar Minuten wieder ein. «Wahnsenn! De muess i fotografiere.»
Sie ging nach vorn zum Wagenausgang. Der Papst sass in seinem weissen Papamobil. Es war Schmutziger Donnerstag. «So cool, Herr Papscht!» – «Wie mer’ s aluegt,» grinste der Kirchenfürst. Der gutaussehende Mittfünfziger läutete mit einem Glöcklein und liess sich fotografieren. Eva bemerkte mehrere gedrehte Hälse von Passagieren, die sich wie sie nach dem gelungenen «Fasnachtsgrend» umsahen.
Evas Gedanken kehrten zurück zu Ingeborg Bachmann und deren Erzählung «Der Kommandant». Die Schriftstellerin erzählt in diesem Text von einem Mann, der aus schwerem Schlaf erwacht und sich nicht mehr zurechtfindet. Verängstigt will er Licht machen, aber die Müdigkeit ist zu gross.
S., nennt die Autorin diesen Mann, der im Traum ohne Ausweispapiere auf einer tiefroten, breiten Strasse singend Richtung Grenze ausschreitet und ohne Legitimation zum neuen Kommandanten avanciert. Einem Kommandanten, der vergeblich seine Identität sucht und dabei zu einem herrschsüchtigen Anführer mit demütigen Befehlsempfängern wird, die ihm, dasselbe Liedchen auf den Lippen, munter in der Kolonne folgen.
Vom Wagenausgang her ertönte erneut das Glöcklein. Der Papst war aus dem Papamobil gestiegen und schüttelte seine Glieder. Goldene Plaketten um seinem Hals stiessen aneinander und erzeugten Klänge, die an die Segnung des Opfers vor der Kommunion erinnerten. Von diesem Augenblick an galt Evas ganze Aufmerksamkeit dem faszinierenden Papst. In Luzern, an der Endstation, fotografierte sie den Fasnächtler mit seinem Papamobil beim Aussteigen aus dem Voralpen Express. Mühevoll war sein Gesichtsausdruck dabei.
An der Bushaltestelle fragte sie den Fahrer, ob das der richtige Bus nach «Möischter» sei. Der Ausländer schaute Eva aus dunklen, erloschenen Augen an. Er verstand nicht, was sie wollte. «Beromünster», wiederholte sie auf Hochdeutsch. Er nickte ausdruckslos. Unwillig stellte Eva fest, dass die Namen der Bushaltestellen ihm nichts sagten. Ja, der ganze Rummel dieses Landes vermochte ihn auch am Tag des Urknalls, wie die Luzerner ihren Fasnachtsbeginn nennen, nicht zu berühren.
Sie nahm gleich rechts vom Fahrer hinter der Frontscheibe Platz. Ausgangs Luzerns schweifte ihr Blick aus dem Fenster und blieb an einer alten ovalen Tafel aus gut erhaltenem, lackiertem Nussbaumholz haften, die ein geschichtsträchtiges Haus zierte. Darauf stand die Inschrift «Deo et Pauperibus». Sie vergewisserte sich auf ihrem Handy, ob sie die Inschrift mit «Gott und Armut» richtig übersetzte, las den Eintrag «Pauperismus (von lateinisch pauper «arm») bezeichnet die zunehmende Verarmung der Arbeiterschicht und die Verelendung großer Bevölkerungsteile unmittelbar vor der Industrialisierung». – Sie blickte mitfühlend zum Chauffeur und dachte, der Mann hat andere Sorgen im Kopf als die Fasnacht und Ortsnamen, die ihm nichts bedeuten.
Der Bus fuhr an einer grünen Ampel vorbei und tauchte in den Tunnel ein. Der Lenker fuhr in dem engen Stollen auf der rechten Spur. Eva schaute aus dem Fenster. Angst durchzog sie, weil die Räder des Fahrzeugs haarscharf an der Trottoirkante im dunklen Strassenrand klebten. Zum Glück war das unterirdische Autobahnstück nur kurz: Eva atmete auf.
Der Bus fuhr durch graue Peripherie, an der da und dort farbige Fasnachtswagen standen und diverse Maskenträger – Indianerhäuptlinge und aufgetakelte Blondinnen schienen nie aus der Mode zu kommen – die Strasse kreuzten. Auf der linken Strassenseite fiel ihr der starke Gegenverkehr stadteinwärts auf. Aus einer Seitenstrasse kamen drei breite Militärfahrzeuge. Der Bus hielt nach rechts und holperte über eine Trottoirkante. Der Fahrer hat Angst vor Gegenverkehr, dachte Eva sofort. Sie betrachtete die schweren Hände am Steuer. Die um das Rad geballte Rechte des Lenkers zog wieder nach rechts. Noch zweimal überfuhr der Bus die Fussgängerkante. Erst als sie die städtische Agglomeration Wiesland erreichten, beruhigte sich der Fahrstil. Evas Gedanken tauchten ein in die Zeit des Jugoslawienkriegs. Sie sah den Fahrer im Morgendämmer an Trümmern und toten Menschen vorbei westwärts flüchten. – Fürchtet der Fahrer Gegenverkehr aus vergangenen Tagen? Das könnte gefährlich werden!
Du hängst mittendrin im Zeitrad der Geschichte, dachte sie. Dieses Rad dreht zu schnell, weil sein Treibstoff das Produkt unverdauter Konflikte ist.
Beatrice Häfliger studierte Soziale Arbeit, Philosophie und Soziologie. Modellieren, Zeichnen und Schreiben prägen seit 1990, ihrem Umzug ins Toggenburg, ihrenKünstleralltag. 2019 erschien anhand von Zeichnungen aus der Erinnerung ihr Debütroman «Das Mädchen mit dem Pagenschnitt». Er wurde mit einem Werkbeitrag gefördert und von Ruth Schweikert lektoriert. Aktuell ist sie auf der Suche nach einem neuen Verlag für ihr zweites Buch «Eva blickt zurück», Vom Magnetismus des Schicksals. Erzählungen und eine Skulptur «Der Anfang und das Ende» sind in Arbeit.
Deine Eltern können nicht kommen,» sagte Schwester Hilde, „aber ich soll dir sagen: sie haben dich ganz toll lieb!» Sie schaute auf ihre Arbeit, während sie das zweite Bett des Krankenzimmers neu bezog. Sein Zimmernachbar war seit gestern zuhause bei seinen Eltern. «Sie haben dir das Christkindl geschickt, das hat dir viele schöne Geschenke mitgebracht!“ Luca schüttelte den Kopf. „Ich will die dämlichen Geschenke nicht!“, brach es aus ihm heraus. Und dann heftiger: „Meine Eltern wollen eh nichts von mir wissen!“ Es wurde ihm heiß, sein Bein quälte ihn so sehr, dass er sich auf dem Bett hin und her rollen musste. Sein Gesicht glühte, das Metall im Körper riss und brannte. „Mir doch egal!“ Schwester Hilde sollte nicht bemerken, dass er laut aufschreien wollte. „Den Weihnachtsmann, den kenne ich! Aber Christkindl, was soll das den sein?“ Als sich nun Schwester Hilde Luca zuwandte, schaute er an ihr vorbei, absichtlich. Ihr Arm, gerade noch auf den Weg zu ihm, hing wie ein Stück Pappe lose an ihrer Schulter. „Leg dich lieber doch auf den Rücken!“, sagte sie tonlos. In Ruhe lassen sollte sie ihn!
Ein Jahr war es her, dass der Nikolaus sich vor einem in Gold getauchten Thron in Position warf. Ein dunkelroter Mantel umhüllte ihn und betonte seine große, imposante Gestalt. Er trug eine Kopfbedeckung, die wie ein robuster Pappkarton auf seinem Kopf festsaß. Mit seiner einen Hand umklammerte er einen Gehstock, der am Griff zu einer Spirale auslief. Ab und zu stieß er den Stab lässig auf den Holzfußboden. Ein „Hört, hört!“ begleitete dieses Stampfen, das in der Aula einen Widerhall fand. Mit seiner anderen Hand winkte er über große Distanzen einigen Elternpaaren zu, die prompt lachend seinen Gruß erwiderten. Seine Lesebrille hing weit vorne dem Nasenhöcker, sie wollte nicht von seiner Nase rutschen. Vor ihm, auf einem dreibeinigen Tischchen lag das in schwarzem Leder umhüllte Buch, dass seit Generationen Kindern Albträume verhieß. Alle ihre Sünden des letzten Jahres wären dort fein säuberlich notiert, so hieß es.
Die letzten Familien hatten eilig noch Platz genommen, Lucas Füße pendelten während der Begrüßungsrede des Bürgermeisters hin und her, fast schien es, als wolle er wegrennen. Erst als seine Mutter nach seinen Oberschenkel griff, stoppte er die Bewegung.
Dann endlich begann der Nikolaus die verpackten Geschenke unter den aufgerufenen Kindern zu verteilen. Er tat das natürlich nicht, ohne zuvor im „Sündenbuch“ zu blättern. Nachdrücklich belehrte er die Kinder. Erst dann durften sie abtreten.
So reihte sich Kind an Kind. Auch wenn der Nikolaus wirklich schlimme Taten in diesem Buch fand und sie mit vorwurfsvoller Stimme vortrug, gab es doch kein Kind, das ohne Geschenke die Bühne herabstieg. So mussten zwei Brüder mit heißen Ohren hören, dass sie viel Geld aus dem Portemonnaie ihrer Tante geklaut hätten. Sie wurden fast unsichtbar, so tief sanken ihre Köpfe zwischen den Schulterblättern, und doch bekamen sie beide einen neuen Rucksack voller von weiteren Geschenken. Und ein Mädchen mit einem geflochtenen langem Zopf verließ die Bühne, auf der sie ihre Mutter zuvor geschubst hatte, nur mit einer kleinen Schachtel. Dabei war ihr einzige Sünde, dass sie morgens immer noch so müde war und deshalb manchmal den Schulbuss verpasste.
Als Luca nun endlich auf die Bühne stieg, fröstelte es ihn. Vielleicht würde doch noch rauskommen, dass es seine Idee war, die gehbehinderte Kunstlehrerin „Hinkebein“ zu nennen; waren die Kinder unter sich, wurde sie nur noch so genannt.
Oben auf der Bühne griff der Nikolaus seine Schultern und drehte ihn zum Saal. Luca senkte den Kopf und erblickte die Füße des Nikolaus. Der trug alte, ausgelatschte Straßenschuhe. An den Knöcheln sah man die ausgefransten Enden seiner Jeans. „Du bist also Luca! Wollen wir doch mal sehen, was das Buch über dich erzählt!“ Wie von ferne hörte er den Nikolaus sprechen. Er hätte wohl genascht und sich mit seinem Freund Alex gestritten, sagte der gerade. Er lobte ihn sogar, er wäre so hilfsbereit zu der alleinstehenden Nachbarin gewesen und hätte ihr täglich Kohlen aus dem Keller geholt. Luca atmete tief ein und bemerkte, dass der Nikolaus beim Sprechen ein wenig spuckte und es kleine Tropfen auf den Boden regnete; und er roch nassen Zigarettenrauch. Der Nikolaus reichte ihm seine Geschenke. Die Ski, die er sich so gewünscht hatte, waren nicht dabei. Er trug die Geschenke, als wären sie eine Last, und mühte sich zu seinem Platz! „Der Nikolaus trägt Jeans!“ flüsterte er leise seiner Mutter zu. Sie hörte ihn nicht und strahlte ihn an.
Und jetzt erzählen mir alle vom Christkindl! «Ich bin doch nicht blöd!», entfuhr es Luca, „die lügen doch!“ Er musste so schimpfen, um nicht an seinen Gedanken zu ersticken. Im Fernsehen lief ein alter Film, er bemerkte es gar nicht. Schwester Hilde saß im Schwesternzimmer und bereitete die Medikamentenausgabe vor. Luca pustete die Luft gegen seine Lippen, dass sie brummten, als liefe er auf Schienen. Mit der Eisenbahn war er er schon unterwegs zu Oma.
Als er das Glöckchen auf dem Flur klingen hörte, warf er seine Turnschuhe und seine Zahnbürste in seinen Rucksack. Er klemmte sich beide Krücken unter einen Arm, dass er schneller vorankam und hüpfte auf seinem gesunden Bein, so schnell er konnte, in den leeren Flur und dann um die nächste Ecke. Von dort schaute er aus dem Schatten auf den Flur. Es dauerte nicht lange. Erst stellte sich ein dunkelgekleideter Mann vor die Tür des benachbarten Zimmers und zog sich eine Kapuze über den Kopf. Ob das Knecht Ruprecht war? Kurze Zeit später kam eine Frau in einem weißen, bestickten Kleid zu dieser Figur gestürmt. Ihre langen, goldenen Haare glänzten in Flurlicht, ihr Gesicht und ihre Hände waren tiefbraun. Sie zupfte ihre Kleidung zurecht und schob ihre Haare zurecht. Die beiden nickten sich zu und der Mann bollerte an die Tür. Und das soll das Christkind sein? Luca zog die Luft ein, das war ja gar kein Kind! Alles Lüge!
Die Suche nach Luca und dauerte jetzt schon zwei Stunden. Er konnte ja mit seinem gebrochenen Becken und den Metallplatten an Unterschenkel nicht weit gekommen sein, so dachte man. Aber als er auch nach 1 ½Stunden nicht aufzufinden war, informierte der diensthabende Oberarzt die Polizei. Sie wollte gleich kommen und einen Spürhund mitbringen.
Luca lag dieweil die ganze Zeit in einem der fahrbaren Wäscheschränke. Um die Weihnachtstage herrschte in der Wäscherei nur ein Notbetrieb, die Wäsche wurde nur allezwei Tage abgeholt. Hier türmten sich jetzt zerknüllte, schmutzige Laken und Bettbezüge. Ganz nach hinten war er gekrochen. Zweimal wurde die Tür geöffnet, er hielt die Luft an. Doch keiner suchte den Wagen gründlich ab. Wer würde sich schon unter dreckiger Wäsche verstecken? Irgendwann hörten die Geräusche und die Rufe auf. Lucas Wangen glühten, das Schlucken schmerzte. Zuerst waren die Handtücher ja noch weich und warm. Doch dann wurde ihm zunehmend kalt. Und der Hunger nagte. Den Schokoriegel hatte er schon längst aufgegessen. Es wurde Zeit weiter zu ziehen. Er drückte die Tür des Wäscheschranks auf und schaute sich um. In den Keller wollte er, da war bestimmt keiner, der ihn dort jetzt noch suchte. Auf der Rückseite des Krankenhauses befand sich ja das große Garagentor. Von da wollte er zum Bahnhof laufen. Vielleicht konnte er auch, etwas zu essen, abstauben. Und dann würde er zu Oma fahren. Erst im Treppenhaus bemerkte er, dass er eine Krücke im Schrank vergessen hatte. Die Kellertreppen waren steil, die Gänge nur noch schwach beleuchtet und eng. Keiner kam ihm entgegen, keiner arbeitete mehr noch in den Kellergängen des Krankenhauses. „Wir lagen vor Madagaskar und hatten die Pest an Bord!“ Ganz leise sang er das Lied; es half ihm, mutig zu sein. Irgendwie, so tröstete er sich, wird der Gang zum Garagentor führen. Sein Bein tuckerte unentwegt, der Kopf wurde immer schwerer, die Hände branntenEs kostet ihm viel Kraft, auf einem Bein vorwärts zu hüpfen oder das andere nachzuziehen. Zwei, dreimal versuchte er die Türen im Gang zu öffnen, um sich zu verstecken und auszuruhen. Sie waren verschlossen. Die Strecken, die er hinter sich brachte, bevor er eine Pause einlegen musste, wurden immer kürzer. Die Pausen immer länger. Irgendwann musste doch mal der Ausgang kommen. Er fror und schwitzte zur gleichen Zeit. Das Schlucken schmerzte. Nur ein wenig ausruhen und sich auf den Boden ablegen, dachte er, nur mal ganz kurz sitzen. Dann wäre er wieder frischer. Halb rutschte er und halb stürzte er auf den Kellerboden. Kalt, dunkel und unheimlich war es. Liefen dahinten nicht zwei Ratten über den Gang. Und dann hörte Luca ein Bellen, schnell griff er nach seiner Krücke, seiner Waffe;sie sollte ihn vor gefräßigen Tieren schützen. Er war allein! Und auf ihn warteten die Wölfe! „Sollen sie doch nur kommen!“ Und schon zog er sich weiter bis zur nächsten Ecke! Bis dahin wollte er es schaffen. Seinen Rucksack, den hatte er liegengelassen.
Auf einmal: ein kühler Luftzug, der ihm entgegenwehte. Noch ein kleines Stück und der Gang weitete sich, es wurde heller und ganz von ferne hörte er den Straßenlärm. Und mutig schaute er um die Ecke. Tatsächlich, dort war der Ausgang nach draußen, das Tor hoch gezogen und dann sah er sie. Sie saß ganz in Weiß auf einem großen Metallkasten nahe der offenen Tür, die in die Nacht führte. Die goldene Perücke lag neben ihr und sie rauchte. Sie hatte ihn sofort bemerkt, blieb aber sitzen und lächelte ihn zu. Auch Luca lächelte trotz seiner Erschöpfung; sie kam ihm so vertraut vor. Und er wagte sich näher. Sie rückte ein wenig, um ihm Platz zu machen. Er blieb vor ihr stehen, sein Atem wollte nicht ruhiger werden: schön war sie, schwarze Haare, braune Haut, viele Falten um die Augen. Sie sah aus wie ein Engel nach der Arbeit.
«Bist du nicht das Christkind?» fragte Luca. «Ja!» sagte sie, verschluckte sich am Zigarettenrauch und musste husten. «Und ich bin der Weihnachtsmann!» Jetzt prusteten beide und lachten laut auf. «Kann ich mal ziehen?» fragte er weiter und ließ sich neben sie fallen. «Nein!» sagte sie und drückte die Zigarette aus. Jetzt sah er es, sie hatte einen schönendunkelbraunen Teint, aber sie hatte auch viel mehr Falten als seine Oma. Sie war nicht mehr jung. «Du erzählst niemanden, dass ich hier rauche?» Er schüttelte den Kopf, nie würde er das tun. «Manchmal brauche ich eine Auszeit!», seufzte sie. Dann sah sie Luca an. Sie legte ihren Arm um seine Schulter; die Arme seiner Mutter fühlten sich viel schwerer an. «Du bist tatsächlich abgehauen!» stellte sie kopfschüttelnd fest und als sie über seine Stirn strich, weinte er. Er wusste nicht, dass Tränen so warm sein konnten. Sie nahm seine Hände, hielt sie für eine Weile fest und half ihm dann auf. „Ich bring dich nach oben!“ Luca wehrte sich nicht „Bist du ein Engel?“, fragte er.
Als er endlich in seinem Zimmer lag, schlief Luca sofort ein. Früh am nächsten Morgen musste Schwester Hilde Fieber messen, Luca wurde wach. Auf seinem Nachtschränkchen stapelten sich einige verpackte Geschenke. Die Sonne schien in sein Gesicht. Er erinnert sich an ihren braunen Teint mit den vielen Fältchen, an ihre Perücke und an den Zigarettenrauch. Und auf einmal wusste er, warum ihm ihr Gesicht so vertraut war. Als er nach dem Unfall wieder die Augen öffnen konnte – sein Kopf brummte im Schmerz – da war sie es, die sich über ihn beugte. «Es ist alles gut», hatte sie ihm gesagt und ihn angestrahlt. Ihre dunklen Haare berührten seine Wangen und sie waren ganz weich wie Katzenhaare. Sein Kopf fühlte sich so kühl an. Er lächelteund schlief unter all den Geschenken ein.
Es war schon abends, als Luca endlich aufwachte. «Wer war die Frau, die mich in der Nacht hochgebracht hat?» fragte er, noch nicht ganz wach, Schwester Hilde, «ich mag sie!» «Ach, das war Marga, sie ist ein wahrer Engel, ein Schatz!“, sie hob den Kopf. „Es gibt nur noch wenige von ihrer Art!» Luca nickte, „Engel müssen manchmal ganz schön müde sein!“ „Ja“, sagte Schwester Hilde und sah ihn lange an. Warum hatte Schwester Hilde Tränen in den Augen?
Horst-Werner Klöckner, 1952, hat Philosophie und Deutsch studiert, arbeitete als Pfleger, Physiotherapeut und Osteopath, war Lehrer für Physiotherapie und für Osteopathie unterwegs, als Osteopath immer noch beschäftigt. 2011 Erzählung „Alles ist gut!“ vom Literaturhaus Zürich als beste Geschichte zum Thema „Familie“ im August 2012 prämiert. „Blurb“, aus dem Lesebuch „Autorenträume“: Petra Hartmann & Monika Fuchs (Hg.).
Scheinheilig 1 – 7 sind ausgewählte Weihnachtsgeschichten, prämiert mit einer Zeichnung der Künstlerin Lea Le.