Konrad Pauli «Wegwarte»

In jungen Jahren schon zeichnete sich in ihm ein Hang zur sogenannten Fremdenfeindlichkeit ab. Er wusste, was Not täte in einem soweit gut funktionierenden Land, das auf allerhand Einflüsse seiner Meinung nach zu large reagierte und Kompromisse einging, die, auch seiner Meinung nach, dem Fremden zuviel Raum zugestand und, so seine Botschaft, das Land nicht nur in den Ruin, vielmehr in den Untergang führen werde. Sein Motto: „Ihr werdet sehen!“

Weitherum war er gekommen in der Welt. Als Akademiker in Chemie war er eingespannt in Projekte im In- und Ausland. Abenteuerliches war ganz in seinem Sinn. Seine Berichte und farbigen Erzählungen im Freundes- und Bekanntenkreis waren Unterhaltung pur. Der Unterhaltungswert überstrahlte oft den Widerspruch, die andere Meinung.
Er wüsste schon, wie das Land zu säubern, zu retten wäre. Man wunderte sich, goutierte nicht alles und nannte ihn ein Original. Das war zweifelsfrei. Trat er auf, bezog er sogleich die Position des Zentralgestirns. Wagte man ein Aber, einen Einwurf, wischte er Solches als belanglose Unannehmlichkeit weg. „Ihr habt keine Ahnung!“

Sein Wissen gefror allmählich zur Versteinerung. Er habe es ja immer gesagt. Flüchtlinge, Asylbewerber rückten an, profitierten von unsern grosszügigen Sozialleistungen. Eine Truppe, eine Art Geheimarmee wollte er aufstellen zur Rettung der Nation – denn die war in Gefahr wie seit lange nicht. Gerne arbeitete er Pläne aus, wie das im Detail zu leisten wäre. Viel Zeit blieb nicht – also waren rigorose Schritte und Lösungen angesagt, ja vonnöten.
Aber das Alter kam. Er wüsste, wie alles anzupacken wäre, aber Verschiedenes musste verschoben werden. Doch die Gesinnung, die Kraft zum Widerstand, ja Kampf gegen alles Weich- und Schlappgewordene blieb frisch. Verschoben war nicht aufgehoben. – Nun führten ihn die Lebenswege an den Ort seiner Kindheit zurück. Dem schrecklichsten Ort seiner Kindheit war er doch aus familiären Gründen gleichwohl zugetan. Auf dem Friedhof ruhten Mutter und Vater. Dem Vater war er auch im Nachhinein nicht herzlich zugetan. Er hatte, seiner Meinung nach, etwas Herrschaftliches an sich. Das Patriarchat hatte damals Hochkonjunktur. Auf kluge, nachsichtige Weise erfüllte die Mama ihre Rolle als liebende Gattin.

Nun also führten ihn Umstände und Entschlüsse der Familie, auf die er, aus gesundheitlichen Gründen und nach vielen Operationen, keinen Einfluss haben konnte, zurück an den Kindheitsort. In eine Wohnung an die Panoramastrasse. Das versprach Aus- und Rundsicht, war aber weit weg von allem, was er bis anhin hatte durchstreifen können. Nun war er ein Gefangener des Rollstuhls. Die Welt verengte sich. Die Erinnerungen waren wach, sie zogen sich aber zusammen an den Ort, wo er auf seine Weise, auf die Art der diktierten Umstände, das Leben nun zu fristen hatte.

Besucher rollten ihn tröstend durch Wege, die ihm naturgemäss vertraut waren. Erinnerungen erfreuten und schmerzten. Hier, ja hier – dort, ja dort. Tragödien der Altvordern lebten auf, so als wäre dies erst gestern gewesen. Man hörte ihm zu – er hatte etwas zu erzählen. Man vergass beinahe, dass man selbst inzwischen auch Manches getan und erlebt hatte. Aber seine Wesensart beanspruchte die Rolle und Wirkung des Epizentrums. Wo er hinkam, wer zu ihm kam – er übernahm sogleich das Regiment.
Das hatte sich so eingespielt. Man hatte ein abgestumpftes Verständnis für Gebrechlichkeit und Alter. Man nahm die Eskapaden seiner aufmüpfigen Vaterlandsverteidigungsstrategie erstaunt und versteckt lächelnd hin. Argumente zählten kaum.

Aber er freute sich auf jeden Besuch. Jeder Besuch, jedes Rollstuhlfahren holte ihn heraus aus seinem Ghetto, in dem er gefangen war. Und er, seine Gedanken und Meinungen blühten auf und kamen in Eifer. Ja, er hätte schon gewusst, wie die Anfänge der Verluderung hätten gestoppt werden können, wenn man bloss auf ihn gehört und seine Projekte ernstgenommen hätte. Etwas musste ihm bleiben, etwas musste sein Halt sein.
Endlich führte ein Rollstuhlspaziergang zu seinem Geburtshaus: Wegwarte. Ein schöner Name. Und wieder sprudelten Erinnerungen und neue Geschichten. Etwas Neues war immer dabei. (Das Eigene konnte warten.)
Hier also bin ich geboren, hier habe ich meine Kindheit verbracht. Wie Abertausende anderswo. Aber die Wegwarte ist mein Geburtshaus. Und wieder kommt das Bedauern, der Aufruhr, die Anklage gegen alles, was inzwischen verloren gegangen und anders geworden war. Naturgemäss.

Er betrachtet das Haus und erlebt Gedanken und Stimmungen. Wehmut gehört dazu. Unvermutet öffnet sich die Tür. Ein Schwarz-Afrikaner kommt auf den Rollstuhlfahrer zu. Aha. Wissen Sie, das hier ist das Haus meiner Kindheit! Hier wuchs ich auf. Können Sie das verstehen? Der Schwarze weiss sich nicht besser zu helfen, als den Rollstuhlfahrer mit dem schönsten Zähnelachen verständnislos anzustrahlen. Ja, was nun. Kurzum erscheint unter der Tür ein zweiter Schwarzer. Der Rollstuhlfahrer unterdrückt das Verlangen, ihn als Neger zu bezeichnen. Alles hatte, wie er beteuerte, seinen Sinn, seinen Wert eingebüsst. Auch die Wegwarte war nun für ihn verloren. Es ging zu Ende. Trotz und Ergebung begleiteten ihn zurück ins Heim.

Konrad Pauli, 1944 in Aarberg in der Schweiz geboren, arbeitete nach der Ausbildung zum Lehrer wiederholt in Zeitungsredaktionen. Der Autor lebt in Bern und veröffentlichte bislang neun Bücher. Zuletzt erschienen «Ein Heldenleben», «Seit jeher unterwegs», «Marcos Blicke in Seeland», «Weitergehen» und «Ein Romantiker in nüchterner Zeit“ (Collection Montagnola, ediert von Klaus Isele).