Lea Le «Emma und ihre Tochter»

Nele liebt ihre Mutter. Emma liebt ihre Tochter. Manchmal wie eine Mutter, manchmal ganz anders.
Emma findet ihre Tochter anziehend. Schon als sie kaum grösser war als eine Mandel. Obwohl sie sie nie gesehen hatte. Und wenn, dann hätte sie nur in ein unvollständig entwickeltes Gesicht blicken können. Sie war schwanger und alleine. Alleine mit ihrem Kind. Umgab es körperlich wie auch im Gedanken fest und warm. Hätte Emma ihr Befinden zu dieser Zeit schon zu formulieren versucht, wäre es ihr nicht möglich gewesen. Sie empfand in Zuständen, mit allen Sinnen. Deuten konnte sie das damals nicht. Es waren kleine, kurze Höhepunkte, wie die Empfindung großen Glücks, das einen aufschrecken lässt.
Sie genoss, dass etwas in ihr wuchs. Es fühlte sich wie ihr eigenes an. Ein Kind, flüsterte sie im Gedanken und dachte dabei nicht nur an eine neue Freude in ihrem Leben. Sie dachte dabei an einen neuen Sinn. Eine Unterhaltung, eine Aufgabe, an Befriedigung und an Glück. Sie bebilderte die Gedanken in ihrem Kopf. Spielen würde sie mit ihr. Sie morgens und abends mit Öl einreiben. Überall. Emma runzelte die Stirn. Wieso schwoll ihre Vulva warm an? Sie eilte in die Küche, machte sich einen Tee. Verunsichert schob sie die Gedanken von sich. Kann nicht sein, dass mich diese Vorstellung eben erregt hat, oder? 
In solche gedanklichen Sackgassen geriet sie öfter. Emma beunruhigte das.

Nele war fünf Monate alt. Emma legte sie jeden Morgen auf den Wickeltisch. Sie ölte ihr nacktes Baby ein, strich ihr über die Glieder, streckte ihren Rücken. Sie wagte es nicht mehr, ihrem Kind zwischen die Beine zu sehen. Die Zehen. Zu abnormal schienen ihr ihre Gedanken. Die Fingerchen. Emma hatte Angst. Sie hoffte, diese Lust würde verschwinden. Die Öhrchen. Woher kamen nur diese unnatürlichen Bedürfnisse! Die Kraft wich aus ihr. Ihre Knie beugten sich, trafen aufeinander. Sitzen. Toilette. Auszeit. 
Fast jeden Morgen musste Emma Pausen einlegen. Tränen unterdrücken. All das, was sie ihrem Kind schon angetan hatte! Es darf nie wieder geschehen. Sie bereute es zutiefst. Es ist mein Kind! Ein Kind! Ein Kind.

Nele war zwei Jahre alt. Sie spielte im Garten. An diesem Tag waren es Tierfigürchen aus Holz. Ein gelbes Sommerkleid. Emma beobachtete sie verliebt. Ihre Gedanken schweiften ab, hinterließen ein schlechtes Gewissen. Schuld. Dreck. Schmerz.
Ihr sehnlichster Wunsch war es, dass sie am nächsten Morgen ohne solche Gedanken aufwachen würde. Ihr Kind beschützen vor dem, was sie ihr in der Vergangenheit angetan hatte. Sie würde sich gerne bestrafen für diese schlimmen Dinge. Sie wollte damit aufhören müssen. Deswegen wurde sie stetig unvorsichtiger. Sie wollte gesehen werden. Erwischt werden. Demütigung erfahren. Es sollte ihr ausgetrieben werden, diese Gelüste und Taten.

Nele war drei Jahre alt. Sie sprach manchmal schon ganze Sätze. Zählen auf sieben. Aufs Töpfchen zeigen, Bescheid sagen, wenn sie etwas möchte. 
Eine Panik bedrängte Emma mehr und mehr. Ihr Kind formte sich zu einem Individuum, das selbst entscheiden konnte. Ein eigenständiger Mensch mit eigenen Bedürfnissen. Eigenen Interessen. Ein eigenes Universum. Emma kämpfte. Hielt immer länger stand. Die Übergriffe waren schnell und verkrampft. Voller Zwang. Voller Angst. Voller Ekel.

Nele war dreieinhalb Jahre alt. Sie erzählte ihrer Mutter, dass sie vor ein paar Tagen im Wald einen Igel aus einer Kastanie und zwei schwarzen Beeren gebastelt habe, als sie zu zweit spazieren gingen. Da wurde es Emma klar: Ihre Tochter war nun in der Lage, sich zu erinnern. Der Gedanke, sie könnte sich an die letzten Übergriffe erinnern … Emma ging auf die Toilette. Sie übergab sich. Sie übergab sich erneut. Dermaßen angewidert.
Diese Erkenntnis brachte Änderung.

Nele ist heute zwölf Jahre alt. Sie und ihre Mutter Emma liegen nebeneinander auf einem Strandtuch. Schulter an Schulter lesen sie getrennte Bücher. Jede in ihrem eigenen Universum. Emma schielt hin und wieder hinüber, wenn ihre Tochter die Seite umblättert. Den erhaschten Textfragmenten nach muss es sich um eine Liebestragödie handeln. Irgendwie berührt sie das außergewöhnlich stark. Sie senkt ihre Arme. Dort wo das Buch nun ihren Bauch berührt, genau dort schmerz es sie. Sie schließt die Augen, bewegt ihre Pupillen nach unten. Rot ist es. Unterdrückte Tränen.
Mein eigenes Kind. Ein Kind. Ein Kind. 
Nele legt ihr Buch zur Seite. Mama? Wieder ins kalte Nass? lacht sie. Mhm schluckt Emma. Nele schlüpft in den Schwimmreifen, blickt ihre Mutter fordernd an, wie es Kinder eben tun, dann laufen sie zusammen ins Meer. Das Wasser ist wärmer als sonst. Nach wenigen Metern springt Nele auf, klammert sich an die Arme ihrer Mutter. Eine Qualle! An Land! Schnell! 
Emma wird von ihrem Kind ans Ufer zurückgezerrt. Nele läuft lachend zum Strandtuch und beginnt weiterzulesen. Wie groß sie schon ist, denkt Emma noch immer im Wasser stehend. Tatsächlich, es schweben ungewöhnlich viele Dinge in den seichten Wellen, stellt sie fest. Quallen kann sie keine sehen. Sie schmunzelt. Der sonst so gut aufgeräumte und überwachte Strandteil ist heute wilder als üblich. Emma klammert sich an den Reifen, watet erneut ins Wasser. Sie weint. Vor Freude. Ihre Tochter interessiert sich für Liebe. Ihre Tochter will mit ihr auf demselben Strandtuch liegen. Und das Beste, es sind die Quallen, wovor sie Angst hat. Nicht vor ihr. Nicht vor der eigenen Mutter.

Emma läuft weiter. Bald hat sie keinen Boden mehr unter den Füssen. Der Blick zum Strand zurück fühlt sich fremd an. Er fühlt sich so unecht an wie der Blick durch eine Kamera. 
Ein hässlich großes Gebäude ragt weiß aus der Düne. Emma paddelt mit den Füssen. Trotz den heißen Temperaturen wirkt der weiße Beton kalt. Sie paddelt schneller. Sie hasst diese Glaskuppel auf dem Dach. Eine suggerierte Freiheit. Emma schlägt im Wasser um sich.
Dann, zwischen Schirmen und Sand erkennt sie einen weißen Kittel. Emma beginnt zum Ufer zurück zu schwimmen. Nele! Sie holen sie jetzt schon? Sie gräbt ihre Füße heftig in den nassen Boden, um voran zu kommen. Die weiße Person erreicht das Strandtuch. Das dumpfe Geräusch des aufgeschäumten Wassers, wenn ihre Oberschenkel die Wasseroberfläche brechen. Nele steht auf. Die Tasche gepackt. Emma umklammert den Ring mit dem rechten, hebt den linken Arm zum Gruß. Sie tropft. Bis, bis nächste Woche dann? 
Ihre Tochter umarmt sie. Ein ruhiger, zustimmender Blick. Dann die weiße Stimme. Ihre Medikamente, Frau Obers. Es ist 18 Uhr.

Lea Le (24) ist dabei, ihr Bachelorstudium an der Hochschule Luzern in Illustration abzuschliessen. Sie arbeitet leidenschaftlich an Comics, in denen sie sich mit Themen wie Beziehungen, deren Konsequenzen und zwischenmenschliche Kommunikation auseinandersetzt.

Sun Wei «Die Einbahnstraße der Elefanten»

aus dem Chinesischen von Anna Stecher

Es war ein Sommer wie im Backofen. Am Horizont hinter der großen Stadt türmten sich Abend für Abend feuerrote Wolken. Sie sahen aus wie riesige rote Elefanten, die gemächlich auf die fingernagelgroßen Häuser zu wanderten. Der Trupp der Elefanten war unendlich lange, so als würde er niemals aufhören. Sogar an windigen Abenden klebten sie am Himmel wie an einem Vorhang, der immer dunkler und dunkler wurde, bis schließlich die tiefblaue Nacht hereinbrach.

Mufeng presste ihre Nase ans Fenster und sah dem Elefantentrupp dabei zu, wie er sich langsam vorwärts bewegte. Obwohl die Klimaanlage im Wohnzimmer an war, schwitzte sie, und ihre Nase hinterließ auf dem Fensterglas einen Abdruck wie eine Erdbeere.

Großmutter sagte: „Morgen wird wieder ein heißer Sommertag sein. Das kann man an der Form der Wolken erkennen.“

Kaum war Großmutters Stimme verklungen, sah Mufeng keine Elefanten mehr, sondern nur ein paar feuerrote Riesenwolken, die über den Himmel dahinzogen.

Mit den Hausaufgaben für die Sommerferien war Mufeng schon fast fertig, der Sommer selbst würde bald zu Ende sein. Natürlich war sie gespannt auf den Herbst, im nächsten Semester gab es viele neue Kurse und sie würde viele neue Mitschüler kennen lernen. Aber in letzter Zeit hatte Mufeng begonnen sich etwas zu wünschen. Sie wünschte sich, dass der Herbst niemals kommt, sie wünschte sich, dass die Zeit stehen und dass es für immer Sommer bleibt, auch wenn es so heiß ist, dass man nicht nach draußen gehen kann. Genau das wünschte sie sich aus tiefstem Herzen.

Großmutter ging viel langsamer als früher. Sie brauchte jetzt sehr lange, um einen Teller Bohnenbrei aus der Küche ins Wohnzimmer zu tragen. Der kleinen weißen Katze kam sie auch nicht mehr nach. Großmutter liebte es Mufengs Haare zu einem Pferdeschwanz zu binden, jetzt kam sie beim Kämmen immer ganz außer Atem. Mufeng merkte, dass Mama und Papa sich große Sorgen um Großmutter machten. Jedes Mal, wenn sie Großmutter zum Arzt fuhren, kamen sie mit zusammengezogenen Augenbrauen wieder heim.

Aber Großmutter lächelte strahlend über das ganze Gesicht: „Jetzt bin ich eben alt. Was ist denn so schlimm daran?“

Was war das, „alt“? Mufeng fuhr mit der Hand leicht über Großmutters Rücken, der in diesen Jahren immer krümmer und krümmer geworden war.

„Dieses spezielle Recht bekommt man erst, wenn man sehr viele Jahre lang gelebt hat“, meinte Großmutter lachend. „So kann man die schönen Blumen am Boden besser sehen.“

Mufeng betrachtete Großmutters Haar, das ihr bis über die Ohren reichte. Keine Ahnung, wann es völlig weiß geworden war.

„Das ist ein noch spezielleres Recht, man bekommt eine silberne Krone. Damit kann man in der Menschenmenge glitzern und funkeln.“ Großmutter steckte einen Schmetterling in Mufengs Haar.

Plötzlich sah Großmutter wieder sehr müde aus, sie drückte ihre Finger an die Schläfen. Dabei meinte sie zu Mufeng: „Man hat nicht mehr so viel Energie wie die jungen Leute, das ist auch ein spezielles Recht. Denn man hat einfach keine Zeit mehr für nutzlose Dinge.“

Wenn Mufeng sich zu lange bei Großmutter aufhielt, kam jetzt immer öfter Mama vorbei. Sie meinte, Großmutter sei müde. Einmal brachte Mama sie ins Elternschlafzimmer, wo es sich gerade die kleine weiße Katze gemütlich gemacht hatte. Dabei murmelte Mama: „Großmutter muss sich ausruhen.“ Dann wurden ihre Augen rot und sie flüsterte mit erstickter Stimme: „Großmutter hat nicht mehr so viel Zeit.“

Als von den Sommerferien nur noch zwei Wochen übrig waren, war die kleine weiße Katze auf einmal verschwunden. Mufeng war noch im Bett, da hörte sie eines Tages in aller Frühe, wie Mama und Papa rein und raus liefen. Dabei sprachen sie leise darüber, dass Katzen verschwinden, bevor sie sterben, um sich ein Versteck zu suchen. Immerhin war die kleine weiße Katze schon über zehn Jahre alt.

Mufeng verstand nicht. Auch der Nachbarsjunge war schon über zehn, aber er sah keineswegs alt oder tot aus. Von draußen drangen laute Rufe herein, Großmutter war auf der Suche nach der kleinen weißen Katze im Garten hingefallen. Mufeng kletterte aufs Fensterbrett, um nachzuschauen, was los war. Als sie nichts sehen konnte, sprang sie aus dem Bett und lief barfuß im Schlafanzug hinaus. An der Haustür wurde sie von Mama aufgehalten.
Mama lächelte Mufeng mit geröteten Augen zu: „Ich habe eine Idee. Was hältst du davon ein paar Tage bei Onkel zu verbringen? Jetzt hast du ja noch Ferien.“

Schon wenig später war Onkel da und packte Mufeng in sein Auto. Dann hievte er noch den riesigen Koffer hinein, den Mama für sie eingepackt hatte. Schon sausten sie durch die Straßen und erreichten sein kleines Haus außerhalb der Stadt. Onkel war ein Maler, und in seinem Haus duftete es nach Öl und nach Holz. Neugierig lugte Mufeng durch die halboffene Tür in sein Atelier.

„Ich habe gerade deinen Vater angerufen, er sagt, Großmutter geht es sehr gut. Aber sie muss noch ein paar Tage im Krankenhaus bleiben.“ Obwohl Onkel sehr zuversichtlich klang, hatte Mufeng ein seltsames Gefühl und brachte keinen Bissen hinunter. So zog sie sich in ihr kleines Zimmerchen im oberen Stock zurück und starrte zum Fenster hinaus. Dabei drückte sie ihre schweißnasse Nase an die kalte Fensterscheibe.

Seltsam, obwohl sie sich am anderen Ende der Stadt befand, waren die Wolken vor dem Fenster dieselben. In der Sommerhitze dehnten sie sich aus und wurden unglaublich groß. So lagen sie quer am Horizont, zunächst weiß und dann zunehmend röter und röter, wie ein Trupp von riesigen roten Elefanten, der nach und nach in die immer dunklere Nacht hinein schreitet.

Plötzlich klopfte es an der Tür, leicht und schnell, so als pochten da viele kleine Fäuste. Mufeng erschrak, wer außer Onkel wohnte denn sonst noch in diesem Haus? Zaghaft öffnete sie die Tür. Im nächsten Augenblick rollte ein ganzer Schwall von feuerroten Tomaten ins Zimmer, der Raum füllte sich mit ihrem Duft. Das waren also die Tomaten gewesen!

„Wir haben keine Zeit mehr.“

„Wir haben keine Zeit mehr!“

So schrien sie und wirbelten wild durcheinander. Mufeng stand sprachlos daneben und starrte sie an.

Eine Tomate, die rundeste von allen, rollte sich in unglaublichem Tempo auf Mufengs Fußrücken. Unter heftigem Schnaufen meinte sie: „Bitte hilf uns! Schnell! Wir haben keine Zeit mehr!“

Mufeng fragte sie: „Wie kann ich euch helfen?“

„Geh zum Kühlschrank und iss uns auf, oder nimm uns mit.“

Kühlschrank? War das vielleicht ein Traum?

„Wenn ich sie nicht aufesse, dann kommen sie vielleicht wieder in meine Träume“, überlegte Mufeng. Also machte sie sich auf den Weg Richtung Küche.
Sie öffnete den Kühlschrank und stellte fest, dass sich dort in der Tat reife Tomaten türmten. Mufeng nahm sie heraus und legte sie auf den Küchentisch.

Jetzt sahen sie genauso schüchtern aus wie die Tomaten im Supermarkt, die nicht sprechen konnten. Mufeng griff nach einer Tomate und biss hinein, sogleich spürte sie ihren Geschmack auf den Lippen. Diese Tomaten hatten in der Tat genau die richtige Reife, sie schmeckten weich und ein bisschen sauer, und zugleich klebrig süß.

Mufeng aß und aß, aber es waren zu viele Tomaten. So langsam befürchtete sie gleich zu zerplatzen.

Als die alte Uhr im Wohnzimmer zwölf Mal schlug, kam auf einmal Bewegung in die Tomaten auf dem Tisch. Mufeng sah, wie eine nach der anderen einen Sprung bekam. Fröhlich riefen sie: „Jetzt haben wir endlich einen eigenen Mund! Dann brauchen wir nicht mehr in die Träume anderer Leute hinein zu laufen, wenn wir etwas sagen wollen.“

Mit ihrem gerade erst gewachsenen Mund flehten sie Mufeng an: „Bitte nimm uns mit, wir können hier nicht länger bleiben!“

Mufeng fragte: „Wohin wollt ihr denn?“

„Ans Ende des Sommers“, rief die Tomate mit dem größten Sprung. „Das befindet sich hinter der Nacht da draußen.“ Und dann lächelte sie das schönste Lächeln, das Mufeng in ihrem ganzen Leben gesehen hatte. Es hörte sich an, als wäre das ein Ort, der zehn Millionen Mal besser war als das Gemüsefach im Kühlschrank.
Mufeng überkam die Angst. Sie blickte in die undurchdringliche Dunkelheit vor dem Fenster hinaus. Sie kannte die Straßen in dieser Gegend kaum. Zudem kam gerade Wind auf, der die Schatten der Bäume über die Gitter vor dem Fenster tanzen ließ. Auf einmal tat es einen lauten Knall und die Haustür flog auf. Der Wind blies in die Küche und wirbelte einmal über den Tisch und den Geschirrschrank, sodass die Teller und Essstäbchen laut klirrten. Die Tomaten auf dem Tisch drängten sich auf einem Haufen zusammen. Draußen prasselte schon laut der Regen.

Plötzlich bemerkte Mufeng eine kleine weiße Gestalt, die in der offenen Haustür vor der Regenwand stand. Es war die kleine weiße Katze, die sie den ganzen Tag lang gesucht hatten. „Weißchen!“ Mufeng lief auf die Katze zu und wollte sie hochheben.

Wer hätte gedacht, dass sich die kleine weiße Katze hochnäsig sträubte: „Es ist dir nicht erlaubt mich so zu nennen. Mein richtiger Name ist Kater Weiß. Deswegen wünsche ich, dass du mich Herr Kater nennst.“

Mufeng schaute den Kater erstaunt von oben bis unten an, er sah heute wirklich anders aus als sonst. Er trug einen weißen Frack und hatte eine feuerrote Schleife umgebunden. Auf dem Kopf saß ein weißer Zylinder, und in einer Vorderpfote hielt er einen weißen Spazierstock. Mit der anderen Vorderpfote lüpfte er den Hut zum Gruß, dann schritt er majestätisch in die Küche und wetterte zu den Tomaten auf dem Tisch: „Hatten wir nicht ausgemacht, dass ich euch den Weg dorthin zeige? Warum fragt ihr dann sie?“

Die fröhliche Tomate meinte sogleich erklärend: „Herr Kater, natürlich haben wir auf dich gewartet. Aber schau doch, wie rund wir alle sind. Wenn dir niemand dabei hilft uns zu bändigen, dann wirst du einige von uns auf Halbweg verlieren.“

„Und wer sollte dabei bitteschön helfen?“ Herr Kater schwieg einen Augenblick. „Ihr wisst doch ganz genau, dass kein Mensch an diesen Ort gehen darf. Ihre Großmutter hat eine Eintrittskarte erhalten, aber sie doch nicht.“

Als Mufeng hörte, dass Großmutter auch an jenem Ort war, horchte sie auf. „Ich bin nicht irgendjemand, und ich helfe wirklich sehr gerne! Bitte bitte, lieber Herr Kater, ich muss Großmutter sehen. Lass mich doch bitte mitkommen!“

Mit ihren großen Mündern unterstützten die Tomaten Mufeng lautstark: „Herr Kater, eine Persönlichkeit wie du könnte doch eine Dienerin dabei haben.“
Was? Eine Dienerin? Er ist doch mein Haustier, und ich bin seine Besitzerin! Mufeng sträubte sich zunächst. Aber dann sah sie, wie Herr Kater den Spazierstock in seinen Händen drehte und sie dabei vielsagend ansah, so als wollte er sie daran erinnern, dass sie es war, die ihm Tag für Tag sein Futter hinstellte und sein Fell bürstete. In der Tat, es war völlig klar, wer hier der Herr war und wer der Diener.

Gut, dachte Mufeng, Hauptsache ich kann Großmutter sehen. Was macht es da schon aus, dass ich seine Dienerin sein muss.

Als Dienerin machte sie sich sofort daran genügend Regenschirme aufzutreiben. Es regnete in Strömen, da braucht jede Tomate ihren eigenen Schirm. Aber Herr Kater bestand darauf, dass es keine Schirme bräuchte. Dann machte er einen Katzenbuckel, hob den Kopf, klopfte mit dem Stock auf den Boden und wies alle an zusammenzustehen. Er hielt er den Stock in den Regen hinaus. Auf einmal öffnete sich mitten im Regen ein kleiner Gang mit silbernen Vorhängen, wie ein Durchgang, der hinter eine Bühne führt.

Würdevoll trat Herr Kater in den Gang, und die Tomaten folgten ihm kullernd eine nach der anderen. Mufeng war die letzte in der Reihe. Als sie sich noch einmal umsah, waren die Regenvorhänge verschwunden, ebenso wie die große Stadt. Mufeng spürte Sonnenlicht auf ihrer Haut, die Luft um sie herum war trocken und kühl. Licht und Schatten wogten auf und ab wie Musiknoten, und unter ihren Füßen spürte sie weiches Gras. Es duftete nach Tau.

Sie befanden sich an einem frühen Morgen ohne genaues Datum. Um sie herum standen keine Hochhäuser, sondern nur schneebedeckte Berge mit dichten grünen Wäldern. Darüber strahlte ein blauer Himmel.

Am Fuß der schneebedeckten Berge lag ein ruhiger See, der so klar war, dass man durch das Wasser hindurchsehen konnte. An seinem Ufer wuchsen frische Gräser und bunte Blumen. Sie liefen am Seeufer entlang, der Kater schritt eilig an der Spitze des Zuges, die Tomaten rollten in einer Reihe hinterher.

„Beeilt euch ein bisschen!“

„Sonst kommen wir noch zu spät zur Feier!“

Aber der Trupp kam alles andere als schnell vorwärts. Im Gegenteil, es war genauso, wie es die Tomate vorhergesagt hatte. Sie rollten ständig durcheinander, manche auf die linke, die anderen auf die rechte Seite. Mufeng, die als letzte ging, hatte alle Hände damit zu tun die Tomaten, die vom Weg abgekommen waren, wieder zurückzurollen. So kam es, dass sie immer wieder von anderen Trupps überholt wurden.

Der Trupp der Sternjasmine bestand aus vielen kleine Grüppchen. Alle trugen grüne Röcke und hielten weiße Windräder in die Luft. So glitten sie wie auf Flügeln im Wind dahin.

Dann kam der Trupp der Hortensien, die auf einem grünen Wagen saßen und während der Fahrt wie ein Team von Cheerleadern tanzten und winkten. Die Musik, zu der sie sich bewegten, stammte vom Trupp der Klettertrompeten und Taglilien. Diese hielten ihre orangen Trompeten hoch in die Luft und bliesen gerade einen flotten Marsch.

Majestätisch nahte der Trupp der Chrysanthemen. Auf hohen Stängeln reckten sie ihre Blüten in die Luft. Sie waren mit lila und roten Röcken bekleidet und trugen goldene Kronen auf den Köpfen. In höfisch distanzierter Eleganz nahmen sie den Gruß von Seiten der Tomaten nur sehr von oben herab wahr.

Auch die Kirschen waren dabei. Sie drängten sich schnell nach vorne, dabei hüpften sie wild und prallten aufeinander. Schon bald hatten sie den Trupp der Tomaten auseinander gesprengt. Nach ihnen folgten Erdbeeren, Pflaumen und Litschi. Den Pfirsichen erging es ähnlich wie den Tomaten, sie rollten langsam daher und verliefen sich ständig. Schon bald hatten sie sich völlig mit den Tomaten vermischt. Unglücklicherweise hatten sie es noch nicht geschafft sich wieder in Formation zu bringen, als sich mit Getöse ein weiterer Trupp ankündigte.

Das waren die Wassermelonen. Sie rollten daher wie Kriegsfahrzeuge, die alles niederzuwalzen drohten, was ihnen in den Weg kam. Zu Tode erschrocken flüchteten sich die Pfirsiche und Tomaten zur Seite. Herr Kater stellte sich schützend vor sie hin und nahm den Spazierstock quer in seine Vorderpfoten: „Ruhe bewahren, Ruhe bewahren!“

In diesem Augenblick erblickte Mufeng abermals die feuerroten Elefanten. Es war das erste Mal, dass sie sie aus nächster Nähe sah. Sie gingen am Ende des Zuges und kamen allmählich näher. Sie waren so groß, dass Mufeng nur ihre Beine und Bäuche sehen konnte, als sie näher kamen. Ihr Trupp sah unendlich lange aus, so als würde er niemals aufhören.

Auf ihren Rücken trugen sie Menschen und Tiere, die gemeinsam ein altes hallendes Lied sangen. Die Melodie erfüllte die Luft, als würden zahllose kleine Elfen mit den Flügeln schlagen. Mufeng konnte nicht genau verstehen, worum es in dem Lied ging. Sie schaute nur gebannt nach vorne, wo Großmutter auf einem kleinen Elefanten daher geritten kam. Ihr weißes Haar glitzerte im Sonnenlicht wie eine Silberkrone.

„Großmutter, Großmutter!“ Mufeng stürmte auf Großmutter zu.

Großmutter war auf einmal wieder jung und beweglich. Sie rutschte über den Rüssel des kleinen Elefanten hinunter und breitete ihre Arme aus, um sie um Mufeng zu schlagen. Mufeng stürzte sich in die Umarmung, wie warm und schön war das doch! Die Kleider hatten Großmutters vertrauten Geruch. Mufeng war so glücklich, dass ihr die Tränen kamen.

Der kleine Elefant hielt inne und lächelte und schloss die beiden mit seinem Rüssel in einer weiteren Umarmung ein. Seine Haut war weich und warm, wie die Schale von gebratenen Süßkartoffeln. Mufeng sah, wie der kleine Elefant eine Freudenträne vergoss, und als sie auf den Boden fiel, wuchs daraus eine schöne Blume.

Sogleich kamen die Tomaten herbei und freuten sich mit. Herr Kater lüpfte seinen Hut und küsste Großmutter nach europäischer Art auf beide Wangen.

Mufeng griff fest nach Großmutters Hand. Sie hatte sich solche Sorgen um sie gemacht! Jetzt war sie entschlossen sie nie wieder los zu lassen. Hand in Hand folgten Mufeng und Großmutter dem Zug. Vorne wurde es langsamer. Umrahmt von Seen und Wäldern öffnete sich auf beiden Seiten des Weges ein fröhlicher Jahrmarkt. Früchte und Blumen mit bunten Schürzen und Kopftüchern verkauften alle möglichen kleinen Dinge.

Herr Kater wollte eine Riechflasche aus Geißblatt haben. Mufeng sah, wie er der Verkäuferin eine Pfote hinstreckte. Diese scannte die Pfote, es piepste, dann meinte sie: „Restbetrag: eine Stunde und 19 Minuten.“ Daraufhin reichte die Verkäuferin Herrn Kater die Riechflasche und meinte: „Ich wünsche dir viel Freude damit.“

Die Riechflasche war gefüllt mit getrocknetem Geißblatt, das einen betörenden Geruch verströmte.

Als Mufeng sah, dass es Windräder aus Jasmin zu kaufen gab, blieb sie sofort stehen. Großmutter konnte ihre Gedanken erraten und streckte lächelnd ihre Hand aus.

„29 Minuten.“ Daraufhin meinte die Verkäuferin: „Das ist die gesamte Zeit, die Ihnen geblieben ist. Dafür kann man nur noch ein kleines Windrad haben.“ Großmutter nickte, nahm das kleine Windrad entgegen und reichte es Mufeng.
Mufeng war ein wenig traurig. Auf dem Jahrmarkt gab es noch so viele schöne Dinge, sie wollte auch etwas für Großmutter kaufen. Das Gelee aus Vogelbeeren zum Beispiel, das in kleinen herzförmigen Behältern angeboten wurde. Mufeng streckte ihre Hand aus, die Verkäuferin scannte sie. Da begann ein Alarm zu schrillen.

„Ihre Zeit gehört nicht hierher“, meinte die Verkäuferin erstaunt. „Ihre Zeit gehört nicht hierher.“

„Sie gehört nicht hierher!“

Die Blumen, Früchte und Tiere schrien alle erschrocken auf, einer lauter als der andere. Das Chaos führte dazu, dass die Elefanten in ihrem Schritt innehielten. Der größte Elefant entdeckte Mufeng in der Menge und ging langsam auf sie zu: „Wer bist du? Wie kommst du hierher?“

Die Stimme des Elefanten grollte wie der Donner im Sommer.

Herr Kater sprang mutig vor und stellte sich vor Mufeng: „Ich habe sie hierher gebracht, sie ist meine … Dienerin.“

Mufeng wollte in keinem Fall, dass der Herr Kater Schwierigkeiten bekäme, und sagte: „Es ist meine eigene Schuld. Ich habe ihn darum gebeten mich mitzunehmen! Ich wollte nur Großmutter sehen.“

Der Elefant beugte seinen riesigen Körper und schwenkte seinen Kopf über die Menge, um Mufeng zu finden. Schließlich konnte Mufeng ihr eigenes Spiegelbild in den Augen des Elefanten erblicken. Nach und nach verschwand daraus die Schärfe und die Augen füllten sich mit Wärme.

Mufeng fragte den Elefanten vorsichtig: „Könntest du mir nicht ein bisschen Zeit geben?“

„Wofür willst du die Zeit haben?“ Der Elefant blinzelte mit seinen großen Augen.
„Ich möchte ein Geschenk für Großmutter kaufen.“

Der Elefant richtete sich wieder auf und erklärte laut vor der versammelten Menge: „Sie ist ein Kind.“

„Sie ist ein Kind!“

„Himmel, sie ist ein Kind!“

Alle schrien wild durcheinander.

„Und deswegen“, meinte der Elefant, „hast du noch sehr viel Zeit, mehr Zeit als wir alle zusammen.“

Der große Elefant machte mit seinem Rüssel eine Bewegung in der Luft, wie ein Zauberer. Da erschien auf der Spitze des Rüssels eine goldene Kreditkarte, eine „Zeit-Kreditkarte“. Er reichte Mufeng die Kreditkarte und meinte ernst: „Bitte merk dir eines: Jede Minute, die du heute hier ausgibst, wird später von deiner Zeit abgezogen, sobald du erwachsen bist.“

Glücklich nahm Mufeng die golden schillernde Karte in Empfang und bedankte sich beim Elefanten.

Im nächsten Augenblick hatte sie schon zwei Portionen herzförmiges Vogelbeergelee gekauft, eines für Großmutter und eines für sich selbst. Es schmeckte süßsauer und glitzerte rot wie Rubin. Schon bald hatten sie es mit einem kleinen Löffel aufgegessen.

Der Jahrmarkt hatte noch so viele schöne Dinge zu bieten! Mufeng suchte für Großmutter einen Haarschmuck aus Jade aus, der ausgezeichnet zu ihrem weißen Haar passte. Dann kaufte sie noch eine kleine Laterne aus Lampionblumen, die hell leuchtete, wenn ein Glühwürmchen hinein flog. Außerdem musste sie noch die lila Tusche aus Himbeeren haben, Großmutter konnte wunderschöne Schriftzeichen malen. Am Ende erstand sie noch einen Kirschenlikör in einer kleinen Porzellanflasche, eingehüllt in dunkelrotes Geschenkpapier.

„Zu zahlender Betrag: Eine Stunde und 39 Minuten. Vielen Dank für Ihren Einkauf.“ „Ursprünglicher Preis: 59 Minuten, nun gibt es zehn Prozent Rabatt.“

„39 Minuten. Ohne Garantie.“

„Zwei Stunden und neun Minuten. Dazu gibt es gratis eine Geschenkbox.“

Großmutter sah ein bisschen traurig aus: „So viele Geschenke brauche ich doch gar nicht. Ich habe ja schon dich, das macht mich sehr glücklich.“

Mufeng meinte ernst: „Großmutter, wenn ich für dich eine Minute Freude kaufen kann, dann ist es völlig egal, wieviel die kostet.“

Großmutter lachte laut: „Ich freue mich schon sehr.“ Sie strich Mufeng über den Kopf: „Du musst noch erwachsen werden, deswegen darfst du nicht deine gesamte Zeit hier verbrauchen.“

Aber Mufeng hatte das Gefühl, dass die Zukunft völlig unbedeutend war angesichts dieses wunderbaren Moments.

Für Herrn Kater kaufte Mufeng ein Rückenkissen gefüllt mit Pfingstrosenblüten. Für einen reisenden Gentleman war das doch ein ausgesprochen nützliches Geschenk. Herr Kater war so gerührt, dass er anfing zu niesen.

Dann fiel Mufengs Blick auf einen Stand mit kleinen lila Klappschirmen aus Hibiskusblüten. Sie musste zwei davon haben, einen für sich und einen für Großmutter. So würden sie nicht nass werden, falls es regnete. Aber als sie mit ihrer Kreditkarte bezahlen wollte, hielt Großmutter sie zurück: „Du brauchst nicht zwei davon zu kaufen. An den Ort, wo ich hingehe, kannst du nicht mitkommen.“

Mufeng wurde von einer plötzlichen Ahnung ergriffen. Sie merkte, wie der Zug immer schneller und schneller wurde. An beiden Seiten des Weges wurden schon die Stände weggeräumt. Im nächsten Augenblick waren die beiden Schirme in ihrer Hand zu zwei ganz normalen Hibiskusblüten geworden.
Der kleine Elefant, auf dem Großmutter gesessen hatte, näherte sich ihnen. Mit seinem Rüssel hob er Großmutter leicht auf seinen Rücken. Deswegen konnte Großmutter Mufengs Worte nicht mehr hören: „Warum darf ich nicht mitkommen, warum?“

Der Elefant blies Mufeng mit seinem Rüssel warme Luft in den Nacken: „Für alle Dinge gibt es die richtige Jahreszeit. Wir werden gemeinsam mit diesem Sommer aufbrechen, aber du wirst noch viele Sommer haben.“

Mufeng erinnerte sich, dass die Tomaten über einen Ort gesprochen hatten, der „Ende des Sommers“ heißt. In der Tat war der Sommer zu Ende. Mufeng fragte: „Aber nächstes Jahr im Sommer kommt ihr doch wieder zurück, nicht wahr?“
Der kleine Elefant meinte mit warmer Stimme: „Wir kommen nicht mehr zurück. Für dich wird es nächstes Jahr einen weiteren Sommer geben. Du wirst wieder die schönen Blumen und Früchte sehen, und du wirst wieder rote Elefanten am Himmel sehen. Aber das werden nicht wir sein.“

Erschrocken begriff Mufeng, dass das hieß, dass Großmutter ebenfalls nicht mehr zurück kommen würde.

Der kleine Elefant tröstete sie: „Aber du kannst dir auch vorstellen, dass die großen Elefanten am Himmel wir sind.“

Mufeng schüttelte energisch den Kopf. Niemals würde sie sich vorstellen, dass ein anderer Mensch Großmutter wäre, oder eine andere weiße Katze Herr Kater. Nie wieder würde es einen so wunderbaren Sommer geben! „Bitte bleibt stehen, bleibt stehen!“ Mufeng lief dem kleinen Elefanten hinterher und schimpfte verärgert: „Warum können wir nicht für immer in diesem Sommer bleiben?“
Der kleine Elefant schüttelte seine großen Ohren: „Wenn es so wäre, dann würden die Kinder auf der Welt nie erwachsen, und die Äpfel würden nicht rot, die Kastanien würden nie reifen, und du und deine Mitschüler, ihr würdet nie in die vierte Klasse kommen. Würde dir so eine Welt etwa gefallen?“

Noch während er sprach, trabten die Elefanten immer schneller. Mufeng lief ihnen keuchend hinterher. Aus vollem Halse schrie sie: „Stehenbleiben!“

Sie schrie so laut, dass sie selbst darüber erschrak. Da blieb der kleine Elefant wirklich stehen, und der große Elefant, der hinter ihm ging, prallte leicht auf ihn. Schließlich stand der ganze Zug still. Die Früchte kullerten nicht mehr weiter, die Blumen tanzten nicht mehr, die Tiere und Menschen hörten auf zu singen. Alle blieben stehen, in diesem Augenblick.

Mufeng hatte das Gefühl, dass ihr Kopf aufgehört hatte zu denken. Sie überlegte fieberhaft, was sie sagen wollte.

Der große Elefant kam durch die Menge hindurch auf sie zu und hielt seinen großen Rüssel wie ein wütendes Fragezeichen in die Luft.

Mufeng reckte ihre goldene Kreditkarte hoch in die Luft: „Ich habe noch viel Zeit, und ich möchte diese Zeit Großmutter und Herrn Kater schenken! Ich weiß, dass ich nicht nur an mich selbst denken darf. Ich darf mir nicht wünschen, dass die Kinder auf der Welt nicht erwachsen werden, nur um diesen Sommer aufzuhalten. Aber wäre es nicht möglich, dass ich nicht erwachsen werde? Dürfen Großmutter und Herr Kater dann bleiben?“

Der große Elefant blinzelte überrascht und gerührt zugleich.

Herr Kater klemmte sich den Spazierstock unter den Ellenbogen und griff nach dem Taschentuch in der Brusttasche seines weißen Fracks. Damit tupfte er sich versteckt die Augen.

Der große Elefant überlegte eine ganze Weile, dann antwortete er: „In dieser Sache gibt es keinen Präzedenzfall.“

Der kleine Elefant flüsterte Mufeng ins Ohr: „Dann kannst du ja mal einen Antrag stellen!“ „Glaubst du, sie werden ihn annehmen?“ fragte Mufeng aufgeregt.
„Das ist schon möglich“, meinte der große Elefant langsam.

Mufeng borgte sich von der Chrysantheme einen Stängel aus und von Herrn Kater sein Taschentuch. Dann tauchte sie den Chrysanthemenstängel in die Himbeertusche und schrieb ihren Antrag auf das Taschentuch. Der Elefant hob ihn mit seinem Rüssel hoch in die Luft. So war der Antrag also gestellt.

Der kleine Elefant streckte abermals seinen warmen Rüssel aus und umarmte Mufeng. Sie sah, wie er vor Rührung eine große Träne vergoss, und als die Träne auf den Boden fiel, verwandelte sie sich in einen Seufzer. Im nächsten Augenblick setzte sich der Zug wieder in Bewegung und alle Trupps darin schritten eilig dahin.

Die Tomaten rollten davon und schickten Mufeng ein letztes Lächeln.
Der Kater winkte ihr mit dem Pfingstrosen-Kissen zu, dabei funkelte sein Zylinder im Sonnenlicht.

Großmutter saß auf dem Rücken des kleinen Elefanten, die Tüten mit den Geschenken schaukelten im Rhythmus seiner Bewegungen hin und her. Aus immer größerer Entfernung lächelte sie Mufeng zu. Sie lächelte nur, ohne das kleinste bisschen Traurigkeit.

Dieses Mal schaffte es Mufeng nicht mehr, mit ihnen Schritt zu halten.

Schließlich begannen ihre Tränen zu fließen, so warm wie Großmutters Hände. Mufeng sah dem kleinen Elefanten nach, wie er Großmutter immer weiter fort trug, zu den rätselhaften schneebedeckten Bergen, irgendwohin an einen Ort, wo der weiße Schnee ins Dunkel der Nacht übergeht. Dabei zeichneten ihre Gestalten eine feuerrote Einbahnstraße über den Himmel.

Seltsam, eigentlich war der Sommer vorbei und es war schon merklich kühler. Aber auf einmal begann die goldene Kreditkarte in Mufengs Hand zu schmelzen. Sie klebte und duftete, denn sie war aus Zucker gemacht. Mufeng steckte ihre klebrigen Finger in den Mund. Aber noch bevor sie herausfinden konnte, wie sie schmeckten, erwachte sie aus ihrem Traum.

Die kleine Holztür ihres Zimmerchens war geschlossen. Die Lichter der Nacht schienen von draußen herein. Die Klimaanlage surrte. Mufeng stieß das Fenster auf. Draußen hatte es geregnet. Die feuchte Luft drang ins Schlafzimmer.

Der letzte Tag des Sommers war vorbei.

Einige Tage später entdeckte Mufeng ein Bild in Onkels Atelier. Darauf waren riesige rote Elefanten zu sehen, wie sie gerade über den Himmel hinter der großen Stadt wanderten. Die Farbe war noch nicht ganz trocken.

„Hast du sie auch gesehen?“ fragte Mufeng.

Onkel nahm den Pinsel von der Leinwand und hob den Kopf: „Du meinst die roten Sommerwolken?“

Nach dieser Frage sah Mufeng keine roten Elefanten mehr, sondern nur eine Reihe von großen roten Wolken, die sich am Himmel erhoben.

Als Mama Mufeng wieder abholte, steckte sie ihr eine weiße Blume ins Haar. Die Blume sah genauso aus wie das Windrad aus Sternjasmin, das Großmutter für sie gekauft hatte.

Dann begann wieder die Schule und Mufeng kam in die vierte Klasse, später in fünfte, und dann in die sechste. Irgendwann merkte sie, dass jener Antrag, den sie damals gestellt hatte, niemals angenommen worden war. Sie wuchs und wuchs. Hieß das etwa, dass Großmutter und Herr Kater nicht zurückkommen würden?

Vor dem Abitur erinnerte sich Mufeng daran, dass es da noch eine andere wichtige Sache gab. Sie hatte doch einmal eine „Zeit-Kreditkarte“ bekommen, und der große Elefant hatte zu ihr gesagt: „Merk dir, dass jede Minute, die du heute hier ausgibst, von deiner Zeit abgezogen wird, sobald du erwachsen bist.“ Falls ihre Zeit gerade während der Abschlussprüfung zu Ende wäre, dann wäre das schon ein unglaubliches Pech.

Zum Glück geschah nichts dergleichen.

Nach der Schule begann Mufeng zu arbeiten, aber sie war nie in Eile. Was sie zu erledigen hatte, tat sie in aller Ruhe. Denn sie wusste, egal wie sehr sie sich auch beeilen würde, es gab immer noch viel Zeit die „automatisch abgezogen“ wird.
Manchmal versank sie am Fotokopiergerät in ihre Gedanken, wenn das Licht unter der Scheibe hin und herwanderte. Dann erinnerte sie sich an die schneebedeckten Berge und an das alte hallende Lied. In jenen Augenblicken hatte sie das Gefühl, dass Großmutter ganz nahe bei ihr war. Im Handumdrehen war eine halbe Stunde vergangen. War es vielleicht genau das, was mit „automatisch abgezogen“ gemeint war?

Ihre Arbeitskollegen meinten es nur gut mit ihr, wenn sie ihr rieten, nicht so viel Zeit zu verplempern. Es war wohl das Beste, jede Minute in Geld oder Erfolg zu verwandeln. Sie hatten immer das Gefühl, dass Mufeng viel zu verschwenderisch umging mit ihrer Zeit. So konnte sie ewig einer Blume zulächeln oder stundenlang eine Wolke betrachten.

Dann dachte sie an jenes alte Lied und an die roten Elefanten, die nie mehr zurück kommen würden. Vielleicht genoss sie aber auch nur die Stille, oder den Duft der Früchte, oder die Blumen, die sich langsam öffneten, oder sie verlor sich in der einsamen Magie der Wolken … Sie sah den Dingen der Welt dabei zu, wie sie auf der Einbahnstraße der Elefanten dahin ziehen, und diesem Augenblick, der vergeht und nie zurück kommt.

An eine Szene am Ende jenes Sommers konnte sich Mufeng noch ganz klar erinnern. Soeben hatte ihr der große Elefant mit seinem Rüssel die goldene Kreditkarte überreicht. Voller Erwartung drehte Mufeng die Karte in ihren Händen. Dabei fiel ihr Blick auf einen kleingedruckten Satz auf der Rückseite:
„Es lohnt sich immer, Zeit für die Zeit selbst zu verbrauchen.“

Sun Wei (1973), während den Zeiten der Kulturrevolution in China geboren, war vor ihrer Profession als Schriftstellerin Journalistin, Dokumentarfilmerin und Geschäftsführerin eines Betriebs. Sie veröffentlichte bereits 23 Bücher, die mit vielen Preisen ausgezeichnet wurden. Ihr Roman „The Map of Time“ wurde 2017 in China ein Verkaufsschlager. Ihre Novellen „Farewell“, „Ignition“ und „Second Son“ wurden ins Englische, Französische, Spanische, Bulgarische übersetzt. Sun Wei sticht in die vielen psychologischen und sozialen Probleme der chinesischen Stadtbewohner. Ihre Arbeiten spiegeln Einsamkeit, Stolz und das Gefühl der Entfremdung wider.

Lorenz Langenegger «Stoffe»

Stoffe finden ist die einfachste Sache der Welt. Sie liegen überall herum. Sie lächeln einem aus der Zeitung entgegen. Sie flimmern über Bildschirme. Stoffe wollen gefunden werden. Ich habe keine Ahnung, weshalb sich das Märchen von den Stoffen, die sich in den hintersten und letzten Winkel verstecken, so hartnäckig hält.

Natürlich ist es immer der Schriftsteller, der den Stoff finden muss. Stoffe finden keine Schriftsteller. Das liegt daran, dass sich Schriftsteller in der Öffentlichkeit gerne unauffällig benehmen, durch die Strassen gehen, wie normale Menschen, einkaufen, was alle kaufen, lesen, was alle lesen. Stellen Sie sich vor, Sie sind ein Stoff. Es bleibt Ihnen nichts anderes übrig, als sich so hübsch wie möglich zu präsentieren, damit ein vorbeigehender Schriftsteller auf Sie aufmerksam wird. Denn woher wollen Sie wissen, wer von den Vorbeigehenden ein Schriftsteller ist.

Stoffe finden ist kein Problem. Viel schwieriger ist der Umgang mit einem Stoff. Haben Sie einen Stoff für gut befunden und mit nach Hause genommen, bildet er sich schnell etwas darauf ein. Stoffe sind ganz schön eitel und alles andere als pflegeleicht. Der grösste Fehler, den Sie machen können, ist, dem Stoff alles zu geben, was er will. Gehen Sie von Anfang an intensiv auf den Stoff ein, verwandelt sich der gleiche Stoff, den sie eben noch in einem schmutzigen Hinterhof zwischen Abfalleimern gefunden haben, in ein grössenwahnsinniges Ungetüm, weil er sich für unersetzlich hält. Das Wesen des Stoffes neigt zum Grössenwahn. Das muss man leider sagen. Arbeiten Sie also nie mit nur einem Stoff. Nehmen Sie von verschiedenen Stoffen, so viel Sie brauchen, aber nie von einem einzigen so viel, dass Sie ohne ihn nicht mehr auskommen. Das spürt ein Stoff sofort. Und ist es erst so weit, macht er Ihnen die Arbeit zur Hölle. Er geht Ihnen nicht mehr aus dem Sinn. Er bestimmt Ihre Gedanken und Handlungen. Er führt Sie an Orte, wo Sie nie im Leben hin wollten.
Ein Schriftsteller darf die Kontrolle über seinen Stoff nicht verlieren, weil sich der Stoff ansonsten entfaltet, wie es ihm passt und nicht wie es der Schriftsteller vorgesehen hat. Und Stoffe sind keine guten Erzähler, das kann ich Ihnen versichern, dazu sie sind viel zu selbstsüchtig.

Mindestens ebenso wichtig, wie der richtige Umgang mit einem Stoff, ist es für den Schriftsteller, die richtigen Stoffe auszusuchen. Die Stoffe, die zu ihm passen. Was selbstverständlich und banal daherkommt, ist alles andere als eine einfache Angelegenheit. Seit Mitte des letzten Jahrhunderts lässt sich ein exponential ansteigendes Stoffwachstum beobachten. Von Schriftstellerverbänden anfangs begrüsst, werden schon seit einigen Jahren kritische Stimmen laut, die sich gegen den unkontrollierten Stoffwachstum erheben. Die Stoffe haben im ständigen Konkurrenzkampf mit ihresgleichen inzwischen derart geschickte Strategien der Tarnung und Täuschung entwickelt, dass selbst gestandene Schriftsteller nicht davor gefeit sind, daneben zu greifen und einen oberflächlichen Stoff, der sich nur geschickt genug verkleidet, für einen Jahrhundertstoff zu halten. Gerade jungen Schriftstellern sei es deshalb ans Herz gelegt, sich nicht von vermeintlich grossen Stoffen blenden zu lassen, sondern sich kleine, feine Stoffe auszusuchen, mit denen sie umgehen können.

Lorenz Langenegger lebt und schreibt in Zürich und Wien. Davor einige Semester Theater- und Politikwissenschaft an der Universität Bern. Mitglied der Autören. Verschiedene Arbeiten fürs Theater mit Uraufführungen in Zürich, Mannheim und Berlin. Bei Jung und Jung in Salzburg erscheint im Frühjahr 2009 der erste Roman «Hier im Regen». 2014 erschien «Bei 30 Grad im Schatten» und 2019 der Roman «Jahr ohne Winter.

Beitragsbild © Richard Obermayr

Kuno Roth «Im Rosten viel Neues»

Rotgoldene Streifen
über Hügelkuppen,
Seidenschal
im schwindenden Tag.

Sehr oben, sehr nah
die haarscharfe Sichel
des ganz geahnten Mondes.

Sie liegt im Himmel,
eine aufgeschnittene Porzellanschale
mit angedeuteter Eiskugel:

Mango!

 

Keine Zeit,
das Fallholz
des Winters
bleibt
unbeachtet
liegen.

 

Steig aus
brausenden Augenblicken
ein in stille Minuten.
Lass sie wachsen
zu Zeiträumen.

Räum Zeit auf,
schirm dich ab,
gib den Augen
Atem
Pause.

 

Alles log, o!

Neulich
im Blog:
Ana log digital.
Auch Mono log,
er betrog sich selber.
Kata log dagegen
wie gedruckt.
Nur das Dia log
vorbildlich.

 

Wen kümmert’s?

Ich kümmere mich um mich.
Du kümmerst dich um dich.
Er kümmert sich um sich.
Sie kümmert sich um sich.
Wir verkümmern.

 

Zu sagen
euch Ungeborenen
werde der Kirschbaum
auch noch blühen,
ist Hoffnung
oder Stimmungsmache.

 

Dasselbe

Singvögel pfeifen dasselbe
Lied vom Tannenzweig
wie von der Stromleitung.

Stellen nicht fest,
meinen nicht,
singen.

Nur Bühne
und Kulissen
ändern sich.

 

Kuno Roth würzt seine hintersinnigen, wohl dosierten Gedichte mit einer Prise Heiterkeit, einem Schuss Nachdenklichkeit und einem Körnchen Gesellschaftsskepsis. In seinen prägnanten Versen über Natur und Technik, Liebe und Verlust, Politik und Wirtschaft erweist er sich als versierter Stilist. Dieser Lyriker beherrscht die von ihm bevorzugte Form der Kurzgedichte. Mit Lakonie, Humor und Pointiertheit gelingt es ihm, selbst komplexe Lebensphänomene poetisch auf den Punkt zu bringen.
«Klima Vista» heisst der neue Gedichtband von Kuno Roth, der im September 2020 beim Verlag Prolyrica.ch erscheinen wird. (Hier ein Blick in die Vorschau)

Kuno Roth, Jahrgang 1957, lebt in Bern und Solothurn. Der ehemals promovierte Chemiker ist heute als Humanökologe, Umweltbildner sowie Schriftsteller tätig und arbeitet als Mentoring-Verantwortlicher bei Greenpeace International. Er schreibt vornehmlich Gedichte und Aphorismen sowie Glossen und Kolumnen.

Peter K. Wehrli «Im Kanon der Vergänglichkeiten»

 

Katalog der besonderen und der andern Dinge
29 Nummern aus dem „Katalog von Allem“

1. das Klima

der Grenzübertritt von Portugal nach China, der durch die triumphbogenpathetische „Porta do Cerco“ in Macao  führt, dorthin wo wirklich alles anders ist, sogar das Klima, das die Grenzpolizisten verbreiten, so anders, dass ich mir eingestehen muss: „Mehr als hier hat sich mir noch nie mit einem einzigen Schritt verändert“.

2. das Gedicht

die Liebe zur Stadt Macao, die der Dichter Austin Coates dadurch zeigte, dass er oben an der Avenida da Amizade seinen Füllfederhalter mit dem Wasser des Perlflusses füllte, damit sein Gedicht schrieb und sich dann doch darüber wunderte, dass niemand – ausser ihm – erkennen konnte, wie gut dieses Gedicht über Macao war und wie sehr er Macao liebte.

3. das Vergessen

die Antwort, mit der Anton Bruhin, als er tat, was er erklärtermassen nicht tun wollte, sein Tun begründete: «Ich habe vergessen, es nicht zu tun».

4. der Greis    

die Bestürzung, mit der Dagmar von ihrem Interview mit James Stewart zurückkam, und die deshalb anhielt, weil sie nicht den strahlenden Leinwandhelden gesprochen hatte, den wir alle vor unserem Auge haben, sondern einen gebrechlichen Alten, der nur, wo er sagte, was die Journalistin bereits über ihn wusste, zu erkennen zu geben vermochte, dass er James Stewart ist.

5. das Schlimmste

…wie er das Schlimmste und das Angenehmste beschreiben würde, das er sich vorstellen könne, diese Prüfungsfrage im Kurs „Kreatives Schreiben“, die Manfed sofort, als hätte er die Frage schon gekannt, mit dem Satz beantwortete, der in den Mitschülern Schauder und Beklemmung gleichzeitig auslöste: „Es krachte, als hätte der Mond die Sonne gerammt, und das Meer, die Meere schwappten über ihren Horizont“,

5a. und die eher verstört geflüsterte Nachfrage des Dozenten:“… und das Angenehmste ?“, auf die Manred nach sehr kurzer Besinnung brüsk entgegnete: „ … dass dies alles ein Traum gewesen ist“.

6. die Clowngesichter

die in Fetzen zerfledderten Clowngesichter auf den verwitterten Plakaten des ‘Circo Americano’, die mir klar machen, dass in der Schweiz die Anschläge von den Wänden entfernt werden sobald der Zirkus weitergezogen ist, dass sie in Brasilien aber erst dann nicht mehr sichtbar sind, wenn sie die Sonne ausgebleicht, der Regen verwaschen und der Wind zerzaust hat. 

7. die Sympathie

die Sympathie, die ich für den Detektiv Marlowe empfinde, und dies allein deshalb, weil ihn Osvaldo Soriano im Roman «Traurig, einsam und endgültig» in einem Anflug von ergreifender Selbsterkenntnis sagen lässt: «Ich habe mein Leben lang gefragt und habe darüber vergessen, wie man antwortet».

8. die Zeit

die Feststellung, dass man von Germain Nouveau nicht etwa deshalb nicht mehr spricht und die Grossartigkeit des Monsu Desiderio nicht etwa deshalb vergessen worden ist, weil das, was die beiden taten, zwecklos gewesen wäre, sondern ganz einfach nur deshalb, weil die Zeit das grossmaschigste aller Siebe ist, – und offenbar nur selten jemand das Herstellen von feinmaschigeren für sinnvoll hält.

9. die Speisekarte 

die Speisekarte im Restaurant „Ribouldingue“ (10, rue Saint Julien le Pauve, 75005 Paris), die mich irritiert, dann verstört und mich schliesslich anekelt weil da als Gerichte nur Innereien angepriesen werden: Nieren, Lebern, Milz, Hoden, Hirn, Lunge, Herz, Kutteln etc., und meine Vermutung, dass ich Pablo, der mich eingeladen hatte, nur dann werde vorspielen können, das bestellte Gericht schmecke mir, wenn diese Innereien auf dem Teller so angerichtet sind, dass nicht (und für niemanden )  wahrzunehmen ist, dass es Innereien sind

10. die Vergangenheit

das Gewimmer in der Sitzreihe hinter mir bei der Vorführung von Charlie Chaplins Film «Circus» im Kino in Vevey im Mai 1969, dieses sirenenartige Heulen, das sich anhörte, als schalle es über weite Ebenen und frisch vernarbte Grenzen in diesen Tag hinein, und das mir wohl nur deshalb noch jetzt in den Ohren hallt, weil mir ein Blick nach hinten verraten hatte, dass es niemand anders war, als der greise Charles Chaplin, der da vor seinem jugendlichen Abbild auf der Leinwand weinte, jammerte angesichts einer Vergangenheit, die nur die Tränen jenes Menschen weckt, dessen Zukunft schon vorbei ist.

11. die Augenmerk

Ernsts Trauer über den Verlust des Schwenks, die noch grösser ist als jene über den Verzicht auf Zooms in Fernsehsendungen, das Bedauern also, dass diese Bildbewegungen nicht mehr ausgeführt werden dürfen, weil sie – da Schauen Zeit braucht und Sehen nicht – jene Sekunden kosten, die der Zuschauer im Zeitalter des Zappens braucht für seinen Entschluss, ein anderes Programm anzuwählen,

11a. und die erst beim Wiederlesen deutlich gewordene Einsicht, dass diese Eintragung durch eine Schärfenverlagerung viel verbindlicher werden könnte, dadurch nämlich, dass der Augenmerk im Titel von ‘der Schwenk’ auf ‘das Zeitalter’ verlegt würde.

12. die Folgen

die lakonische Trockenheit im Satz: «Nur Tote sterben nie», mit dem der greise Greta Garbo-Verehrer im ‹Esquinade‹ meine Frage beantwortet hatte, wie weit sich seine Art der Verehrung mit dem Tod der Schauspielerin gewandelt habe, und meine kurz nur aufflackernden Gedanken an die möglicherweise schauerlichen Folgen seines Nachsatzes: «Bei Filmstars spielt es keine Rolle, ob sie lebendig sind oder tot.»

13. der Kapitalismus

die beim Überdenken der Interviewspielregeln aufkommende Vermutung, dass Andy Warhol einerseits die zermürbende Wiederholung vermeiden und andererseits dem Interviewer etwas Verblüffung verschaffen wollte, als er damals, in der Galerie Bischofberger, Bices Frage: «Do you like Capitalism?» mit «Ja» beantwortete, und auf die von jemand anderem kurz darauf gestellte Frage: «Do you like Communism?» ebenfalls ein «Ja» ins Mikrophon hauchte und dann, auf die Ausschliesslichkeit der einen Antwort gegenüber der andern aufmerksam gemacht, sagte: «Oh, ich habe bereits vergessen, dass ich die vorherige Frage mit ‹Ja› beantwortet hatte!».

14. die Demokratie

die fundamentale Einsicht in die Formen des menschlichen Zusammenlebens, die Rara in ihrem radikalen Leitsatz verriet, dem ich –aller Radikalität zum Trotz – meine Zustimmung schenke: „Wer für die Privatisierung von Wasser. Strom, Luft, Verkehr plädiert, hat nicht begriffen, was Demokratie ist!“

15. der Kassenzettel

meine Verlegenheit, die sogar Beklemmung war und mich zu überprüfen zwang, ob ich denn schon so gebrechlich und vergreist aussehe, dass die junge Verkäuferin im Sainsbury Grund hatte, mich zu fragen: „Sie sind sicher über achtzig ?“

15a. und die Erlösung vom Schock, den mein ungenaues Zuhören verursacht hatte, als ich zuhause dann auf dem Kassenzettel unter dem Namen des erstandenen Rotweines ‚Corbières’ den Aufdruck fand: „Die Verkäuferin bestätigt, dass der Kunde über achtzehn Jahre alt ist“.

16. der Zerfall

meine Weigerung anzuerkennen, dass die kindlichen Gesten in der Altersdemenz Zeichen des Zerfalls seien, weil Eugens Gesten von jener frischen wachen Kindlichkeit sind, die verraten, dass sich da einer – mit List und endlich mit Erfolg – in seine Kindheit zurückgelebt hat,

16a. und meine eben überprüfte Feststellung, dass ich noch nie jemandem begegnet bin, von dem ich das Umgekehrte sagen könnte, nämlich: er habe sich – mit List und endlich mit Erfolg – in sein Alter vorgelebt.

17. der Roman

sein Temperament, sein Wissen, seine Vorlieben, seine Klugheit, seinen Witz und seine Neigungen, die der Schriftsteller in jeden Roman und in jede Erzählung einspeist, und dies derart rigoros, dass zu sagen ist: „Einen besseren Freund als den Autor, den er liest, kann ein Leser nicht haben“.

18. das Bemühen

das erkennbare Bemühen, es beiden – Frauen und Männern – recht zu machen, das der Präsident der ASASTP an der Generalversammlung erkennen liess, als er seine Eröffnungsrede mit dem Begrüssungswort begann: «Liebe Mitgliederinnen und Mitglieder»

18a. und mein Eingeständnis, dass mir die Unstimmigkeit erst aufgefallen war, als ein Versammlungsteilnehmer den Redner mit dem Zuruf unterbrach: «Max, jetzt hast du uns aber vergessen»,

18b. und mein Nachdenken, das mir eigentümlicherweise wie ein Nachrechnen vorkam und mir nach einer Weile klar machte, dass der Rufer recht hatte, weil nämlich die Wörter ‹Glied› und also auch ‹Mitglied› sächlichen Geschlechts sind,

18c. und mein Zögern, das mich jetzt – Wochen später – beim Eintragen dieser Wahrnehmung in den «Katalog von Allem» befällt, weil ich diese Nummer 18 mit ‹das Bemühen‹ überschreibe, wo ich ebenso gut und ebenso genau ‹die Vergeblichkeit des Bemühens› hätte schreiben können.

19. der Irrtum

die schönen blauen Augen des greisen Hans Coray, welche die Journalistin der Zeitschrift «Schöner Wohnen» in ihrem Artikel über den Designer beschrieb, diese Augen, die ein Irrtum sind, der sich nicht durch eine Richtigstellung im Blatt beseitigen lässt, ein Irrtum, auf den mich Rara, Corays Gattin, aufmerksam macht, als sie sagt: «Er hat gar keine blauen Augen, er schaut nur wie jemand, der schöne blaue Augen hat».

20. die Kunst

der verängstigte Blick in den Spiegel mit der fragenden Ahnung, um wieviel gealtert mich mein Spiegelbild wohl zeigen würde, wenn der Spiegel tatsächlich vorginge,

20a. und mein Lächeln beim Eingeständnis, dass ich mir diese verwegene Frage sicher nie stellen würde, wenn mich Franz Kafkas Feststellung nicht so beeindruckt hätte, die Kunst sei ein Spiegel, der vorgeht wie eine Uhr.

21. das Casting

der im herrlich entspannten Zustand vor dem Einschlafen praktizierte Versuch, auszuwählen, wem ich eine Rolle im Traum dieser Nacht zuteilen wolle, 

21a. und die am Morgen beim Erwachen notwendige Feststellung, dass dieses Casting überraschenderweise perfekt funktioniert hat, – und zwar nicht aus esotherischen oder gar magischen Gründen, sondern nur deshalb, weil ich bei der Rollenbesetzung vor dem Schlaf an Susanne Wille und an Ady Berber gedacht hatte.

22. die Buschenschenke

der Empfang durch Peter Rosei und Christa in Radkersburg heute abend und das Beisammensitzen in der Buschenschenke (ein Wort, dessen Bedeutung ich – obschon sie mir erklärt worden ist – vergessen habe), die so intensiv waren, dass ich morgen früh wieder abreisen könnte im – andernorts sich erst nach längerem Aufenthalt einstellenden – schönen Gefühl, wirklich dort gewesen zu sein.

23. das Erstaunen

der alterslos alerte Kurt Guggenheim, als der er während den Dreharbeiten vor der Kamera stand, und der zum Greis gealterte, den ich nun im Filmbild vor mir sehe,

23a. und das von diesen unterschiedlichen Alterszuständen ein und desselben Augenblicks ausgelöste Erstaunen, dass mir meine möglicherweise havarierte Erinnerung einen andern, einen verjüngten Kurt Guggenheim zeigt; – der Sechsundachtzigjährige, der er ist, ist er nur im Film.

24. die Bedingung

das Glück, das du erstellen musst, wenn du glücklich werden willst, und die Bedingung dazu, die ist, dass du erst dann glücklich werden kannst, wenn du herausgefunden hast, was dich glücklich macht

25. der Glast

dieses jahrelang nicht mehr gebrauchte und deshalb fast schon vergessene Wort «Glast», an das mich das von Mittagshitze gesättigte Bild aus «High – Noon» erinnert, dieses Wort, das, obschon es das heisse Trockene signalisiert, mir jetzt doch die Tropen in den Körper und vor die Augen jagt, eine Vorstellung, die abzuwenden mir nicht gelingt; – sie bleibt.

26. der Federhalter

was ich fand, ohne es zu suchen: den Federhalter, mit dem ich vor 61 Jahren als Siebenjähriger bei Lehrer Redmann im Schulhaus Leimbach schreiben zu lernen begann, – nur seine Farbe Grün war in meiner Erinnerung längst erloschen,

26a. und was mich erstaunt, ist: nicht etwa der Fund und sein Nostalgiewert, sondern die Tatsache, dass er dort war, wo ich ihn vor sechs Jahrzehnten hingelegt hatte (in die rote Kartonschachtel) und dass er da war, obwohl ich ihn längst vergessen hatte und deshalb nicht verloren geglaubt haben konnte.

27. die Mühe

das blendend pralle Sonnenlicht über dem Eingang zum Friedhof der Freuden in Lissabon, dieses heisse Licht, durch das der alte Mann an Stöcken so zäh und gekrümmt vorwärtsschritt, als schleppe er nur mit Mühe seinen schwarzen Schatten am Boden hinter sich her.

28. die Poesie

das Entsetzen, das mich peinigt ob der heftig steigenden Zahl der Dinge, die ich bereits vergessen habe, und der Trost, dass ich wenigstens alle jene Dinge nicht vergessen kann, die mir Poesie geworden sind.

29. der Satz

der Satz, den mir nur die deutsche Sprache zu sagen erlaubt, und dem nichts und gar nichts mehr beigefügt werden muss, gar nichts mehr beigefügt werden kann, weil er der Satz von Allem ist: „Wenn der Anfang endlich zu Ende ist, kann der Schluss beginnen“:

Peter K. Wehrli, geboren 1939, Studium der Kunstgeschichte in Zürich und Paris. Reisen durch die Sahara und zur Piratenküste. Längere Aufenthalte in Südamerika. Redaktor beim Schweizer Fernsehen DRS. Tätigkeit als Herausgeber. Zahlreiche Veröffentlichungen, u.a. «Zelluloid-Paradies» (1978), «Eigentlich Xurumbambo» (1992), «Katalog von Allem» (1999). Eine stark erweiterte und neu organisierte Ausgabe erschien 2008 unter dem Titel «Katalog von Allem: Vom Anfang bis zum Neubeginn» im Ammann Verlag, Zürich.

Webseite des Autors

Christian Uetz «Von mir ist nur der Gedanke»

Ich habe kein Recht,
nicht Nietzsche zu sein, nicht
Kierkegaard, nicht Rilke. Auch ohne
Werke. Ich habe kein Recht, nicht wahnsinnig
zu sein, nicht zerspringend, nicht zerrissen. Auch
ohne Erfolg. Kein anderer ist schuld
am mich vom Anderen vom
Anderen abbringen lassen, wo
auch immer.

Von mir
ist nur der Gedanke, und der
ist nicht. Nicht da, nicht ich. Also bin ich nicht.
Nur du, und auch du nur mit allen gebrochen,
alle Zeit auf den toten Punkt gebracht, den schwarzloch
gerochenen. So sterngenau strahlt deines maßlos
ermordeten Morgens unvermoderbare
Mittagsverzückung aus den Lichtporen der
augenübersäten Nacht.

Ich trinke dich in mich
zurück. Ich sauf dich Tag und Nacht.
Und wiederum seufzst du mich in dich
hinaus. Du bist ja draußen in mir drin. Ich bin ja völlig
außer mir aus dir. Das macht ja den ununterscheidbaren
Unterschied zu meiner unverlassbaren Unentscheidbarkeit,
dass ich dich Lichttrunkene noch nicht, nicht und nicht mehr hell
sehe. Doch Himmel unserer höllischen Gottgleichheit, du uns in Funken
Getunkte, die du nicht bist, bist das
Werde, der du bist. Ich bin nicht
so. Du allein gibst mir das Unrecht, so
zu sein, wie ich bin. Und
so bin ich nicht.
Wenn es ist,
ist es immer, und es ist
nicht. Wenn du bist, bist du überall, und
du bist nicht. In dem Ich bin bist du, indem
ich bin nicht da. Und immer schlägst du unser
Du Nichtsein nieder. Da bin ich wieder, und kann mich
zum Büßen noch einmal entblößen. Bringt es das?
Nicht wirklich. Wirklich nichts als das ist
wirklich, worin wir allein uns begegnen,
im Unwirklichen von allem. Bringt
dich das näher?
Vollkommen.

Wo ich nicht
bin, bist du, wenn
ich weg will. Womit zeigst
du dich nicht? Mit der Zeit,
mit der abständigsten, durch
die abgestrittenste Lust, die
allmählich abseitigste, ab
schaumgeborenste.

 

secession Verlag

Der 1963 in Egnach am Bodensee geborene Christian Uetz ist studierter Philosoph, und er glaubt an keine Wahrheit ausserhalb der Sprache. Ob im Gedicht oder in der Prosa: Sein Tanz an ihren Rändern ist immer auch ein Seiltanz über den Abgründen der Existenz. Und er gilt als Virtuose, wenn es um die Intensität der Sprache geht. Auswendig und in einem rasenden Tempo rezitiert er seine Texte bei Auftritten, dass einem Hören und Verstehen vergeht. Das ist gewollt. Einzig die Wortkraft zählt und die Suggestivkraft der Sätze,ckaum deren Inhalt. In seinem Gedichtband «Engel der Illusion» formuliert Uetz spielerisch und doch souverän Gedichte um gewichtige Themen: um die Präsenz des Anderen im Selbst, um Anwesenheit und Abwesenheit, um Negativität und Transzendenz. Mit seinen bildgewaltigen, selbstverlorenen und dabei tief nachdenklichen Gedichten sucht Christian Uetz in der Sprache nach der verborgenen Präsenz dieser Engel der Illusion, um ihr Scheinen erfahrbar zu machen. Was seine Texte so hervorbringen, sind Ekstasen der Begierde und die Trunkenheit der Vernunft. Es ist der Wahnsinn des Tages. Ihr Fluchtpunkt bleibt dabei stets eine mitreissende Affirmation des Lebens und der Sinnlichkeit, ein Lob der Sprache als derjenigen Kraft, welche die Illusion als Wahrheit, das Jenseits als Teil des Diesseits erkennbar macht.

Beitragsfoto © Internationales Literaturfestival Leukerbad

Nina Jäckle «Setzkastentexte»

1
Man geht das Zimmer ab, man geht es mit
den Augen ab, im Bett liegend, und es ist
sehr früh am Morgen, und man sucht nach
ersten Schatten, nach ersten Umrissen,
nach ersten Farben. Man wartet auf
Geräusche, auf die Rufe der Kinder
vielleicht oder auf den Schlag der
Glocken. Man wartet auf Stimmen im
Treppenhaus, es ist noch früh, denkt man,
einer ist zu hören, der sich räuspert, um
die ersten Worte zu sprechen an diesem
Tag. Man verlässt das Bett und man kennt
die Ecken des Zimmers, die Kanten der
Möbel, man findet sich zurecht in dem
Halbdunkel, man findet in das Bad, man
findet sich zurecht, auch ohne Licht, auch
ohne Blick in den Spiegel.

2
Oft sind die Alten auf dem Platz. Sie
sitzen auf den Bänken und beobachten sich
gegenseitig. Manchmal flucht eine,
manchmal erzählt einer, manchmal lacht
eine, und obwohl dies miteinander
geschieht, gibt es keinen Zusammenhang
zwischen ihnen. Man kann sich nicht
vorstellen, dass sie es gut miteinander
meinen, man weiß nicht, weshalb man es
sich nicht vorstellen kann. Vielleicht, so
denkt man, weil sich die Menschen ähnlich
werden im Alter, weil sie sich gegenseitig
zu sehr an sich selbst erinnern, ist
Wohlwollen nicht möglich. Sie bewohnen
dasselbe Haus, sie gehen durch dieselben
Gänge, sie essen gleichzeitig, sie leben
in gleichen Zimmern, mit jeweils einem
Fenster. Manchmal sitzt ein alter Mann auf
der Bank und sieht zu, wie ein anderer
alter Mann über den Platz geht. Man kann
beobachten, wie sich der eine über den
anderen wundert, sich ärgert oder
ängstigt. Sie haben eine gemeinsame
Geschwindigkeit, in der sie gehen, in der
sie sprechen. Sie verstehen die Welt
außerhalb des Hauses auf eine gemeinsame
Weise. Man kann sich jedoch nicht
vorstellen, dass sie darüber sprechen, wie
sie nun und im Vergleich zu früher in
einer anderen Geschwindigkeit leben, die
sich nicht mehr an die Geschwindigkeit
außerhalb des Hauses anpassen lässt. Kaum
eine der alten Damen verlässt ohne
Handtasche das Haus. Die Handtaschen, so
denkt man es sich, sind fast leer. Ein
zusammengelegtes Stofftaschentuch, eine
Geldbörse, ein Kamm. Abends sehen die
alten Damen aus den Fenstern ihrer Zimmer.
Das tun sie nicht, um nach draußen zu
sehen, das tun sie, um sich zu
vergewissern, im Haus zu sein.

3
In einem Wagen sieht man ein Kind liegen.
Das Kind sieht seine Hand, es sieht seinen
Fuß, es sieht seine Mutter an. Es lacht,
sein Blick erstarrt, es sieht in die
Ferne. Man zählt einige der Dinge auf, die
das Kind lernen wird. Das gezielte
Einsetzen der Hände, das Sehen von Farben,
das Halten des Kopfes, das Erinnern.

4
In der Wohnung ist es still, nichts als
die Fliege ist zu hören. Es ist still,
weil sich niemand bewegt, weil niemand
sonst in den Räumen ist und etwas sagt.
Man kann sich nicht vorstellen, die Fliege
zu erschlagen, sie ist zu groß, als dass
man sie einfach erschlagen könnte. Man
lässt die Fliege also gegen die
Fensterscheibe fliegen. Immer wieder hört
man den Aufprall, man öffnet das Fenster
nicht. Diese Geräusche, der Flügelschlag,
der Aufprall, das Summen in der Ecke des
Fensters, all diese von der Fliege
ausgehenden Geräusche sind in dieser
Stille der einzige Beweis dafür, dass
wirklich Zeit vergeht.

5
Nachmittags spielen die Kinder im Hof. Sie
rufen sich Namen zu, sie jubeln und
kreischen, der Hof vervielfacht ihre Rufe,
ihren Streit, ihr Lachen. Auf dem Boden
des Hofes sind Kreidezeichnungen zu sehen.
Autos, Monster, Bäume oder aber Helden,
die man nicht kennt. Nachts ist der Hof
nichts weiter als der Abstand zwischen den
sich gegenüberstehenden Häusern.

6
Man geht das Zimmer ab, man geht es mit
den Augen ab, im Bett liegend und es ist
spät am Abend und man hört Schritte im
Treppenhaus, eine Begrüßung hört man, kurz
bevor die Tür zu einer anderen Wohnung ins
Schloss fällt. Man geht das Zimmer ab, man
geht es mit den Augen ab und man sucht
nach letzten Schatten, nach letzten
Umrissen, nach letzten Farben des Tages.

(Zeichnung Renata Jäckle)

Nina Jäckle1966 in Schwenningen geboren, wuchs in Stuttgart auf, besuchte Sprachschulen in der französischen Schweiz und in Paris, wollte eigentlich Übersetzerin werden, beschloss aber mit 25 Jahren lieber selbst zu schreiben, erst Hörspiele, dann Erzählungen, dann Romane. Ihre ersten Bücher erschienen im Berlin Verlag: «Es gibt solche», «Noll», «Gleich nebenan» und «Sevilla». Bei Klöpfer & Meyer erschienen 2010 mit großem Erfolg ihre Erzählung «Nai oder was wie so ist», 2011 ihr Roman «Zielinski» und 2014 der Roman «Der lange Atem». Nina Jäckle erhielt zahlreiche literarische Auszeichnungen, beispielsweise den Karlsruher Hörspielpreis, das große Stipendium des Landes Baden-Württemberg, das Heinrich-Heine-Stipendium, das Arbeitsstipendium des Deutschen Literaturfonds. Sie erhielt im Dezember 2014 den Tukan-Preis der Stadt München, 2015 den Italo-Svevo-Preis für ihr Gesamtwerk und den Evangelischen Buchpreis für ihren Roman «Der lange Atem». Nina Jäckle war Stipendiatin der Villa Massimo in Rom 2016/17.

Rezension von «Stillhalten» auf literaturblatt.ch

Rezension von «Warten» auf literaturblatt.ch

Rezension von «Der lange Atem» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Michael Schroeder

Michael Kleeberg «Abschied von einem Apfelbaum»

Sein Stamm ist auf dem ersten Meter zweimal in sich verdreht, als hätten zwei gewaltige Hände ihn in seiner Jugend ausgewrungen wie ein nasses Handtuch. Seine Rinde ist backsteinbraun, rostbraun geschuppt, erinnert an Echsenhaut, an Krokodilleder. Auf der Sonnenseite des schräg aufstrebenden Stamms breitet sich ein goldengrüner, feinst gefiederter Moosteppich aus, bei dessen Berührung man das Gefühl hat, die Mähne eines Pferdes zu streicheln. Die Unterseite des Stamms wirkt schiefergrau, erst beim längeren Hinsehen macht man einen leichten Mauveschimmer aus. Je höher es hinaufgeht, je dünner die Äste werden, desto weniger Schuppenrinde ist zu sehen, desto glatter wird die Oberfläche des Holzes, ein hellgeschecktes Grau mit dem in der Sonne gelblich leuchtenden Grünspan von Flechten.

Auf Kniehöhe hat auch der Stamm ein erstes Knie, bis zu dem er recht gerade aus der Erde wächst. In der Kniekehle imitieren zwei starke in den Stamm eingelassene Stränge Sehnen. Oberhalb der an einer Kniescheibe erinnernden Ausbuchtung neigt sich der Winkel auf sechzig Grad, und die Wuchsrichtung dreht sich um ein Achtel. Ein zweiter Knick auf Hüfthöhe verschiebt die Wuchsrichtung wieder um 30 Grad zurück. Auf zweieinhalb Metern Höhe gabelt sich der Stamm, zwei Meter von seinem Ausgangspunkt entfernt, in drei Hauptäste.

Der stärkste Ast strebt in der Kurve einer Kettenlinie nach oben – zwei weitere Äste gehen von ihm ab, einer davon fast vier Meter weit waagrecht ausgreifend –, um sich in der Krone in zwei weidenartig überhängende Kuppeläste zu gabeln. Der zweite Hauptast wächst, sich verjüngend, flacher hinauf, verzweigt sich an seinem Scheitelpunkt, von wo aus das Gewicht der Zweige sie in einer Art Kreuzrippengewölbe nach unten biegt. Der Dritte beschreibt einen kommunistischen Gruß: Nach einem knappen Meter waagerechten Wachstums zwingt ein angewinkelter Ellbogen ihn in die Senkrechte, drei Meter weit. Die Krone des Baums hat auf einer Höhe von vielleicht sechs Metern einen Durchmesser von wenigstens acht. Geformt ist er wie ein riesiger Sonnenschirm auf schiefem Fuß. In der Erntezeit hängen manche Zweige voller Früchte fast bis zum Boden hinab, ebenso im Januar, wenn nasser Schnee auf ihnen lastet und der Stamm schwarz schimmert wie das Fell eines Rappen.
Am Bizeps des einen Hauptastes ist ein steinerner Nistkasten aufgehängt, den ein Blaumeisenpaar zum Überwintern und im Frühjahr zum Nestbau nutzt. Außer den Meisen finden sich regelmäßig Amseln, Spottdrosseln, Kleiber, Zaunkönige im Baum, seltener Spatzen. Im Winter werden die Meisenknödel täglich auch von einem kopfüber an ihre Unterseite gekrallten Buntspecht aufgesucht, ab und an klingt das schrille Gekecker eines großen, blaubraun leuchtenden, nesträuberischen Eichelhähers aus der Krone, das Hunderte von Metern entfernt im Wald wieder aufgenommen und weitergetragen wird. Seit einigen Jahren sieht man zur Blütezeit immer weniger Bienen im Baum, während die Zahl der Hummeln konstant zu bleiben scheint. Zur Fruchtzeit zieht es die Wespen ins Geäst, manchmal hört man wie ein weit entferntes Moped das sonore Gebrumm der Hornissen, von dem sich einem die Nackenhärchen aufstellen, bevor man noch die erschreckend langen Körper rund um den Stamm auf und ab kreisen sieht.

Im Oktober trägt er mittelgroße Äpfel, deren Grundfarbe gelb ist, manchmal gesprenkelt wie von Sommersprossen, viele von ihnen mit errötenden oder sogar feuerroten Wangen, einige mit wie aufgebatikten grünen Flecken. Vierzig Kilo davon ernten wir in jedem Herbst, der Teleskop-Käscher muss in ganzer Länge ausgezogen werden, um die obersten, wie Glühbirnen leuchtenden aus der Krone zu greifen. In Wäschekörben bringen wir sie dann zu der in einem Hinterhof in Weißensee verborgenen Mosterei Neubert, wo neben verwilderten Gärtchen und rostigen Zäunen die große grünlackierte Presse brummt, über deren Rand die Äpfel direkt in das schäumende Gebrodel gekippt werden.

Gegen Ende März eröffnen die beiden Sauerkirschbäume, deren wie Chilischoten geformte Früchte im August zu Tausenden auf den Platten zerplatzen und rote Schlieren und Schmierspuren hinterlassen, die an die Überbleibsel eines Unfalls oder Massakers erinnern, mit ihrer blassgelben, seltsam unkörperlichen, pusteblumenhaften Blüte, den Frühlingsreigen. Sie hält sich nicht lange, ist schon schlaff und welk, wenn der Mirabellenbaum Anfang April sein christosches Zauberkunststück vollführt und seine noch winterlich kahlen Äste plötzlich mit einer vibrierenden weißen Schmetterlingswolke umhüllt, die jeden Tag weißer und dichter wird, so dass man selbst an grauen Tagen, am Stamm stehend und in die Krone hinaufblickend, die Augen zusammenkneift vor soviel flirrender Helligkeit. Die unvermeidlichen Regengüsse setzen dem Traum nach kaum zwei Wochen ein etwas schäbiges Ende in Form eines Konfettiregens. Immerhin bleiben als Hoffnungsboten die grünen, noch eingerollten Blätter. Es folgt, ebenso kurzatmig, so schön wie steril, das Erblühen der im Schatten des Hauses violett schimmernden Zierkirsche. Der Baum, rotbräunlich gefärbt, verströmt, wenn die Knospen sich öffnen, ein zartrosa Licht, das nach einer Woche schon schwächer wird und erlischt, um die Bühne freizugeben für die Pflaumenbäume. Währenddessen blenden die Forsythien die Augen wie strahlende, vom Himmel in den Garten gefallene Sonnen. Aber erst wenn sie von oben her ihre Blätter zu treiben beginnen und das bonnardsche Mimosengelb sich in den folgenden Wochen in Absinthgrün verwandelt, erst in den allerletzten Apriltagen, ermutigt von einer warmen

Woche, manchmal noch später, wie aus alter, in den Genen liegender Erfahrung manches Jahr erst nach den Eisheiligen, zeitgleich mit der Mauser der geduldigen Hainbuche, die seit November ihr pergamentenes, rohrzuckerbraunes, welkes Laub festhält, um dann innerhalb von zwei Tagen, vom Wipfel bis zum Boden, alle toten Blätter abzuschütteln und ebenfalls vom Wipfel her die lanzettspitzen Knospen innerhalb weiterer zweier Tage zu stark gemasertem, flaumiggrünem Frühlingslaub auszurollen, erst dann kommt die Stunde des Apfelbaums.

Er hat sich vorbereitet, langsam, geduldig. Anders als die Pflaumenbäume, die erst ihr Blütenfeuerwerk versprühen, um dann zu grünen, die rasch ihr Pulver verschossen haben, beginnt er mit einem grünen Schimmer der Kelchblätter, der einen Anflug von Frühling in die Winterschwärze des Baums setzt, und aus dem das dunkle, stark durchblutete Rosa der Knospenköpfe verheißungsvoll blinkt. Auch jetzt noch lässt er sich Zeit, eine Woche, um sich zu entfalten, eine Woche, um im Entfalten die rosige Außenseite des Blütenblattes nach unten und außer Sicht zu drehen und die schneeweißen Innenseiten zu präsentieren.

Die Fünf ist die Ordnungszahl der Apfelblüte, fünf Blütenblätter bilden einen Kranz, in dessen Zwischenräumen weitere fünf rosige Nebenblüten knospen. Haben sie sich alle geöffnet, wiegen sich mokkatassengroße Blütengebinde auf den Enden der Zweige, das Rosa ist fast ganz verschwunden, scheinbar verblasst in der Anstrengung des Wachsens und Sich- Öffnens, und nur noch hier und da eher zu ahnen als zu sehen, mehr eine Erinnerung auf der eigenen Netzhaut als eine tatsächliche Farbe. Meist sind es auf den Innenseiten der Blütenblätter nur hingehauchte Gouache-Flecken entlang der Längsmaserung des kapillarenfeinen Aderwerks.

Diese Blütenblätter sind nicht ganz glatt, sondern ein wenig verknittert wie die ungebügelten Ärmel eines Seidenhemds. Im Entfalten umschließen sie zunächst die Mitte noch schalenartig, biegen sich dann jedoch immer weiter nach außen, um in einer fast obszönen Geste der Entblößung Staubgefäße und Stempel nicht nur zugänglicher zu machen, sondern sie gleichsam nach oben zu pressen, fast so, als ob eine Frau ihre Schamlippen auseinanderzöge, um ihrem neugierigen Liebhaber mittels ein wenig Drucks aus dem Beckenboden ihre Klitoris zu offenbaren.

Im Innern der Blüte rankt sich feinstes Kabelwerk, hellgrün, das sich dann zu einem Strauß aus herzförmigen, blassgelben Staubgefäßen und höher aufragenden Stempeln bündelt und öffnet, meist fünf an der Zahl. Die Stiele und Kelchblätter unter den Blüten sind flaumig behaart wie Jungmädchenarme, so dass es fast wie Nebel um die Stiele spielt.

Der Eindruck des zur Gänze blühenden Baums hat etwas von der Ausschüttung eines Füllhorns, von Überschwang, von Mit-vollen-Händen-Herschenken. Es ist eine bäuerliche, keine distinguierte Pracht, keine Spur von Maß oder Etikette, keine bürgerliche Reserve, kein haushaltender Wille zum Sparen, keine taktische Beschränkung. Es ist das Glück eines jungen Mädchens vom Lande, das sich von Natur aus schön weiß, sich zu festlichem Anlass zu putzen, etwas anachronistisches, eine alte Weise.
Seine äußersten Zweige berühren dann fast die höchsten des Fliederbuschs, und es wirkt als werde durch den Kontakt, den manchmal ein Windstoß hervorruft, das Kommando zum Erblühen von dem weißleuchtenden Obstbaum an die noch dunkel verschlossenen Knospen des Strauches weitergeleitet, der dann sozusagen den Staffelstab übernimmt und das hellere Violett des Blüteninneren, ihren Duft freigebend, offenbart, wenn von der Pracht des Apfelbaums nur noch weißer Hochzeitsreis auf dem Rasen übriggeblieben ist und er selbst eine bräunlich-gelbliche Färbung annimmt wie ein angeschnittener Apfel, der zu lange an der Luft gelegen hat, denn nur noch Staubgefäße und Stempel stehen wie miniaturisierte Springbrunnen auf den leeren Blütenständen, unter denen das Laub mächtig wächst.
Wenn man unter ihm sitzt, scheint das vielstimmige Vogelgezwitscher aus ihm zu kommen, scheint der Baum zu singen, als sei er eine Art Orgel: Die tieferen Töne entströmen dem Stamm, die höchsten dem feinen Gezweig der Krone. Das gequetscht Quietschende der Grasmücken und Finken, die gepfiffenen Koloraturen der Amseltriller, dazwischen rhythmisches Morsen.
An einem windigen, warmen 30. April studiere ich seine Bewegungen: Ein leises, würdiges Wiegen der weit ausgreifenden Äste, Pendelschläge der dünneren Zweige. Die Blüten schütteln sich, das Laub vibriert, als überliefe es eine Gänsehaut, oszilliert im Sonnenlicht. Konzentriert man den Blick auf Einzelheiten, sieht man das Elektronenrasen der Insekten, bei dem man Standort und Geschwindigkeit nie genau unterscheiden kann, so dass der Eindruck eines Flimmerns der vom Baum überwölbten Luft entsteht. Bei Sturm schüttelt er sich wie ein Tier, dem der Wind durchs Fell oder die Mähne zaust.
Im Frühling erinnert die Blüte an die duftig auf schaumigen Mittelmeerwellen tanzenden Blumengirlanden auf Noel-Nicolas Coypels „Entführung der Europa“: Sahnebaisers des Rokoko.
Im Sommer gleicht das Licht- und Schattengeflocke unter seinem Laubdach einer elektrischen Cloisonné-Malerei, deren Zellen in unregelmäßigen Abständen aufblinken. Wässert man an heißen Spätnachmittagen den Boden rund um den Stamm, hat man das Gefühl, ein Tier zu tränken, das gierig und dankbar die Flüssigkeit aufnimmt. Im November ruft der Baum die Erinnerung an einen bretonischen Calvaire irgendwo im Norden des Finisterre zwischen Morlaix und Brest herauf: nasser schwarzer Granit, der Inbegriff von Trostlosigkeit. Zu Weihnachten, wenn die reifbedeckten Zweige in der Morgensonne zuckrig glitzern, geht etwas Heimeliges, Trautes von ihm aus, und bei seinem Anblick sage ich mir Brechts GedichtDie Vögel warten im Winter vor dem Fenster her: „Ich bin die Amsel. Kinder, ich bin am Ende …“

In den Abschiedsschmerz, der ein Vorausahnen der Tatsache ist, dass man die Präsenz des Selbstverständlichen doch erst richtig schätzen kann, wenn sie nur noch in der Erinnerung existiert, aber in der täglichen Gegenwart ein Loch, ein Fehlen sein wird, mischt sich eine Prise von Neid, den der Ruhe- und Rastlose immer gegenüber dem Sesshaften empfindet, der all das, was man anderswo sucht, schon längst zu besitzen scheint, ohne Aufhebens, ganz beiläufig, oder wie der Weise sagt: ohne je seinen Garten verlassen zu haben. Wie alt er sein mag? So alt wie das Haus, fünfzig Jahre? Oder noch älter? Was alles um ihn herum vorgegangen ist, während er stoisch und ahnungslos mit nichts als Wachsen und Früchtetragen beschäftigt war! Keine zwanzig Meter von ihm teilte die Mauer dreißig Jahre lang Berlin von seinem Umland. Zwanzig Meter weiter, und seine Äpfel wären in zwei Staaten gefallen. Aber das hätte die Grenzpolizei der DDR nicht toleriert, die im Mauerstreifen jeden Baumwuchs mit Pflanzengiften unterband. Bei starkem Westwind, berichten die Nachbarn, sind ihnen davon die Geranien eingegangen, dem Baum hat es nichts angehabt. Geschichte ficht einen Baum nicht an, sofern er ihr nicht im Wege steht.

Wenn die Menschen und die Naturgewalten ihn lassen, müsste er länger leben als ich. Eigentlich ist er es, der sich von mir verabschieden müsste.

Michael Kleeberg, geboren 1959 in Stuttgart, lebt als Schriftsteller und Übersetzer (u.a. Marcel Proust, John Dos Passos, Graham Greene, Paul Bowles) in Berlin. Sein Werk (u.a. «Ein Garten im Norden», «Vaterjahre») wurde in mehr als ein Dutzend Sprachen übersetzt. Zuletzt erhielt er den Friedrich-Hölderlin-Preis (2015), den Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung (2016) und hatte die Frankfurter Poetikdozentur 2017 inne.

Schriftstellergespräch zwischen Michael Kleeberg und Catalin Dorian Florescu: Bericht auf literaturblatt.ch

Ulrich Woelk «Planetenschreiber 1: Merkur»

Ich bin mir nicht sicher, ob es wirklich eine gute Idee war, Planetenschreiber des Merkur zu werden. Ich wusste kaum etwas über diesen ziemlich abgelegenen Ort des Sonnensystems und hätte auch höflich abwinken können. Aber ich dachte, dass es vielleicht ganz gut wäre, ein halbes Jahr mit festen Bezügen auf der hiesigen Orbitalstation zuzubringen, um mit meinem Roman voranzukommen. Keine Ablenkung, nur die Konzentration auf das Wesentliche. Schreibtisch mit Aussicht auf das Universum. Und der Blick aus dem Panoramafenster meiner Planetenschreiberwohnung ist wirklich beeindruckend. Die Sonne schwebt riesengroß über der Sichel des Merkur. Aber spätestens nach einer Woche kennt man das natürlich und hat sich dran gewöhnt.

Die Station ist klein. Es gibt ein Café und zwei, drei Läden für die alltäglichen Dinge. Einmal in der Woche kommt ein Service-Techniker vorbei und sieht nach dem Rechten. Und jeden Monat dockt ein Versorgungsschiff von der Erde an und bringt alles Notwendige für die Besatzung und die Siedler unten auf dem Planeten. Bei denen hätte ich mich als Planetenschreiber auch einquartieren können, aber sie leben am Boden eines Kraters am nördlichen Merkurpol, der ganzjährig im Schatten liegt. Logisch – im Sonnenlicht herrschen schlappe zwei- bis vierhundert Grad oder noch mehr. Da zieht man sich lieber in den Schatten zurück, auch wenn es dort mit minus zweihundert Grad ziemlich frisch ist.

Ja, so ist das – auf dem Merkur ist es unerträglich heiß, es sei denn, es ist unerträglich kalt. Die Probleme habe ich hier oben nicht. Die Station ist immer bestens temperiert, da kann ich mich nicht beschweren. Nimmt man das beeindruckende Sonne-Merkur-Panorama hinzu, auf das ich von meinem Schreibtisch aus schaue, sollte es mit der Arbeit an meinem Roman also eigentlich gut vorangehen. Aber irgendwie bringe ich nichts Gescheites zu Papier, um diese uralte Redewendung zu benutzen.

Irgendetwas lähmt mich, und allmählich habe ich die Befürchtung, es könnte der Merkur selbst sein. Auf ihm zieht sich alles unsäglich in die Länge. Ein Merkurtag dauert, wie ich inzwischen herausgefunden habe, knapp 176 Erdentage. Klar, dass man da zu nichts kommt. Man denkt immer, ich habe ja noch genug Zeit bis zum Abend, also mache ich erstmal was anderes oder gar nichts. Und eigentlich gibt es in der Station ja auch mehr oder weniger nichts zu tun. Man muss nicht putzen oder lüften oder den Rasen mähen. Und man kann auch nicht vor die Tür gehen, um mal eben frische Luft zu schnappen. Ich denke immer, das mit dem Schreiben kommt schon noch. Du musst dich erstmal akklimatisieren. Und genaugenommen werden von einem Planetenschreiber ja auch keine Wunderdinge erwartet. Der Posten ist hauptsächlich eine Art Belohnung dafür, dass wir Autoren das Fähnchen der Literatur im Universum wacker hochhalten. Gelegentlich ein kleines Stimmungsbild – ein Bericht, wie es in den Preisstatuten heißt –, das reicht schon. Und ab und an soll man sich bei öffentlichen Anlässen blicken lassen. Aber da die Anzahl solcher Anlässe auf dem Merkur sehr überschaubar ist, fällt dieser zweite Punkt kaum ins Gewicht.

Um aber doch ein kleines bisschen am sozialen Merkurleben teilzunehmen, bin ich gestern mit dem Servicetechniker runter auf die Planetenoberfläche geflogen. Ich hatte die Idee, Kontakt mit der Forschungsstation aufzunehmen, die es dort unten seit den fünfziger Jahren gibt. Ich habe nicht die geringste Ahnung, was die Wissenschaftler da eigentlich machen und rauszufinden hoffen. Aber ich brauche Stoff für meinen ersten Bericht, da angesichts des Schneckentempos, mit dem die Sonne über den Merkurhimmel kriecht, mit astronomischen Beobachtungen oder kosmischen Naturbeschreibungen nicht allzu viele Seiten zu füllen sind.

Der Flug hinunter zur Planetenoberfläche war auch wirklich lohnenswert. Der Servicetechniker war nämlich, wie sich herausstellte, ein begeisterter und versierter Hobbypilot und ließ es sich nicht nehmen, mit mir eine Runde über die Nordhemisphäre zu drehen, um mir ein paar der spektakulärsten Landschaftsformationen aus der Nähe zu zeigen. Er ist ein überzeugter Merkurianer, der schon seit zwanzig Jahren hier lebt. Er erklärte mir mit lokalpatriotischem Stolz, dass sämtliche Krater des Merkur nach Künstlern, Musikern, Malern und Schriftstellern benannt seien, ob ich das schon gewusst hätte? Hatte ich nicht. Und ich wunderte mich darüber: ein Planet voller Kulturschaffender – wer hätte das gedacht! Das bedeutete ja sogar, dass ich als Schriftsteller im Prinzip die Chance hatte, zum Namensgeber für einen Merkurkrater zu werden – zumal als amtierender Planetenschreiber! Allerdings mussten die Taufpaten für die Krater seit fünfzig Jahren tot und künstlerisch einhellig anerkannt sein. Ich war mir nicht sicher, ob mir das je gelingen würde. Zu sterben war dabei nicht das Problem, aber vielleicht die künstlerische Reputation, dachte ich und hatte sofort Gewissensbisse, weil ich mit meinem Roman nicht vorankam.

Wir drehten eine Runde über Tschechow, Ibsen, Rilke und Hemmingway. Das waren ziemlich gewaltige Krater von knapp hundert bis zweihundert Kilometern Durchmesser. Die kleineren hatten nicht so prominente Namensgeber. Jedenfalls hatte ich noch nie etwas von dem chinesischen Maler Qi Baishi, der maltesischen Bildhauerin Maria de Dominici oder dem isländischen Dichter Snorri Sturluson gehört. Die hatten Krater im Zehn-Kilometer-Format ergattert. Es gab aber auch solche mit weniger als einem Kilometer Durchmesser oder auch nur hundert oder zehn Metern. Das beruhigte mich etwas. Für so einen Mikrokrater, dachte ich, würde es bei mir ja vielleicht doch reichen.

Zurück zum nördlichen Pol flogen wir zuerst entlang einer enormen Abbruchkante mit einem Höhenunterschied von zwei Kilometern und danach über Caloris Planitia, einer riesigen kreisrunden, von Gebirgswällen umgebenen Ebene. Dahinter begannen die etwas gemäßigteren nördlichen Breiten mit ihren Permaschattengebieten, in denen man herumlaufen kann, ohne dass es ist, als würde man auf glühenden Kohlen wandeln. Dort hatte man die Forschungsstation, die ich besuchen wollte, unter einem großen Dach aus Glaswaben errichtet. Sie lag am Rand von Merkur-City, einer kleineren Ansammlung ganz ähnlicher Habitate, die ein Hotel, Wohnhäuser und Geschäfte, eine Kirche und den Sitz irgendwelcher Lithium- und Rubidiumexportfirmen beherbergten. Der Ort stand hartnäckig in dem Ruf, die langweiligste Planetenmetropole des Sonnensystems zu sein.

Die Wissenschaftler freuten sich über meinen Besuch. Wahrscheinlich hofften sie, dass ich als Planetenschreiber ihre Arbeit gebührend würdigen würde. Sie hatten nämlich gerade, wie sie mir mit diesem typischen kindlichen Wissenschaftlerstolz mitteilten, eine sensationelle Entdeckung gemacht! Sie führten mich in ihr zentrales Labor, das allerdings einen etwas in die Jahre gekommenen, technisch rückständigen Eindruck machte. Man spürte, dass der Merkur als Forschungsstandort nicht gerade der Nabel der wissenschaftlichen Welt war. Allerdings hatte die Entdeckung, die mir die Forscher präsentierten, mit moderner Technik auch nicht besonders viel zu tun. Sie öffneten einen gekühlten Tresor, holten eine Spezialflasche mit einer klaren Flüssigkeit heraus und stellten sie ehrfürchtig auf den Tisch. Ich würde nie darauf kommen, was das sei, meinten sie.
„Wasser?“, überlegte ich. Das enttäuschte sie. Wahrscheinlich hatten sie angenommen, ich würde als Schriftsteller zuerst an irgendeine hochprozentige Innovation denken. Es war aber wirklich Wasser, wie sie schließlich einräumten, doch ist Wasser für Wissenschaftler natürlich nicht gleich Wasser. Dieses hier, meinten sie und machten eine längere Spannungspause, um mir Zeit zu geben, mich auf die nun kommende Sensation einzustellen, dieses hier sei das älteste Wasser des Sonnensystems!
So, so, dachte ich. Und nachdem sie ihre Bombe nun hatten platzen lassen, verrieten sie mir auch die zugehörigen Details: Sie hatten den Merkurboden systematisch angebohrt und in der Tiefe mit Ultraschallsonden nach Eis gesucht. In einem kleinen Permaschattenkrater mit dem seltsamen Namen Lady Gaga waren sie schließlich fündig geworden. Fünfzehn Meter unter der Oberfläche stießen sie auf einen Eisflöz und entnahmen ihm eine Probe. Deren chemische Analyse ergab für den Flöz ein Alter von sagenhaften vier Milliarden Jahren. Damit schlugen sie vergleichbare Eisablagerungen auf dem Mond oder Enceladus um ein paar hundert Millionen Jahre.
Dieses Wasser, gerieten meine Gastgeber ins Schwärmen, stammte aus der absoluten Frühzeit des Sonnensystems, gleichsam aus seiner Embryonalphase, als noch Abermilliarden von Staub-, Fels-, und Eisbrocken um die Sonne schwirrten und durch permanente Kollisionen zu den heutigen Planeten verklumpten.
Und nachdem sie mir das alles erklärt hatten, öffneten sie die Flasche und gossen mir ein Glas von dem uralten Wasser ein. Das vermutlich älteste Getränk, das ich vordem zu mir genommen hatte, war ein ziemlich schwerer Château-Mao, Jahrgang ’84, gewesen, den mein Großvater zu seinem Hundertsten entkorkt hatte. Ich überlegte eine Sekunde, ob vier Milliarden Jahre altes Wasser überhaupt noch genießbar war, aber die Wissenschaftler machten nicht den Eindruck, als wollten sie mich vergiften. Ich trank also artig das Glas aus und nickte. Das Wasser hatte geschmeckt wie – Wasser. Erstaunlich, dachte ich, woran Wissenschaftler so ihre Freude haben.

Auf dem Rückweg zum Landeplatz des Shuttles kam mir Pastor Hsien von den Solaren Unitariern entgegen. Offenbar hatte sich mein Ausflug nach Merkur-City inzwischen herumgesprochen. Hier passiert so wenig, dass sogar ein Schriftsteller Aufmerksamkeit erregt. Pastor Hsien sprach mich an und lud mich ein, am Wochenende zu einem Gottesdienst zu kommen. Mir war nicht wohl dabei, und ich gab zu, nicht allzu viel über die Solaren Unitarier und überhaupt über die verschiedenen Glaubensströmungen im Sonnensystem zu wissen.
Pastor Hsien nickte nachsichtig, er war ein sanftmütiger, freundlicher Mann – ganz alte chinesische Schule. Die Solaren Unitarier, erklärte er mir, kämpften gegen den religiösen Geozentrismus der meisten anderen Konfessionen und Religionen. Es wäre doch purer Zufall, meinte er, dass Jesus auf der Erde erschienen sei. Würde er heutzutage sein Erlösungswerk verrichten, könnte er dies im gesamten Sonnensystem tun. Die bescheidenen Verhältnisse hier auf dem Merkur würden ja viel besser zu dem ärmlichen Stall passen, in dem Jesus einst geboren worden sei, als die Paläste auf dem Mars oder die Ballonbordelle der Venus. Und schon gar nicht könne Gott gewollt haben, dass sich das gesamte Sonnensystem bei den christlichen Festtagen nach dem Rhythmus der Erde zu richten habe. Da ein Merkurjahr nur 88 Erdentage dauerte, könnte man hier also rund alle drei Monate Weihnachten feiern, was Pastor Hsien sehr schön fand. Der Gedanke wurde von den Vertretern der römisch-katholischen Kurie und den meisten protestantischen Strömungen aber regelmäßig als lächerlich abgetan, und das ärgerte Pastor Hsien. Bei Ostern wiederum stellte sich das Problem völlig anders dar. Das irdische Ostern fand stets am Wochenende nach dem ersten Frühlingsvollmond statt. Nun hatten aber weder Merkur noch Venus einen Mond, der Mars hingegen zwei, und bei den äußeren Planeten waren nicht diese selbst, sondern die Monde bewohnt, was die Situation für eine astronomische Berechnung des Osterdatums gleichsam auf den Kopf stellte. Und als wäre das alles nicht schon kompliziert genug (ich verstand es wirklich nicht), gab es ja noch die vielen bewohnten Kleinplaneten im Asteroiden- und dem fernen Kuipergürtel, die man bei der Suche nach ihrer religiösen Identität doch auch nicht allein lassen durfte, fand Pastor Hsien.
Es gab für ihn und die Solaren Unitarier also alle Hände voll zu tun, und ich versprach ihm, mal bei einem Gottesdienst vorbeizuschauen. Besonders beliebt, hatte ich gehört, waren seine gelegentlichen Orbitalgottesdienste, die er freischwebend in einer Umlaufbahn abhielt, um darauf aufmerksam zu machen, dass es in letzter Konsequenz ja nicht nur darum ging, die Planeten in ein religiöses Gesamtsystem zu integrieren, sondern auch den Weltraum, ja das Universum als Ganzes. Das war Pastor Hsiens Mission.

Zurück auf der Orbitalstation nahm ich erstmal ein langes Sonnenbad. Der Ausflug auf die Merkuroberfläche hatte mir gefallen, aber auf Dauer, das hatte ich auch gespürt, wäre ein Leben im Permaschatten dort unten nichts für mich. Vielleicht würden die Pläne für einen im Orbit stationierten Reflektor ja einmal umgesetzt und Merkur-City durch diesen wie von einer künstlichen Sonne beleuchtet. Die merkurianischen Parlamentsabgeordneten auf Europa forderten das immer mal wieder, aber ich konnte mir kaum vorstellen, dass die Mittel dafür von der ewig zerstrittenen Planetaren Union jemals bewilligt werden würden. Die Sache war einfach zu teuer und Merkur-City zu unbedeutend.

Ein paar Tage später dockte das Versorgungsschiff von der Erde an. Ich hatte es schon längere Zeit im Teleskop wie einen heller werdenden Stern auf die Station zukommen sehen und freute mich auf die Abwechslung. Es würde zwei oder drei Tage dauern, die gesamte Ladung zu löschen und auf die Planetenoberfläche zu transportieren. Die Besatzung würde das Café beleben, und vielleicht, so dachte ich, ergab sich ab und an ein nettes Gespräch bei einem Bier. Insbesondere stellte sich heraus, dass das Schiff eine Co-Pilotin hatte. Sie war Mitte dreißig und sah ziemlich gut aus, wie ich fand. Natürlich hatte ich keine Ahnung, ob sich Pilotinnen für Planetenschreiber interessieren, aber es sprach ja nichts dagegen, mein Glück bei ihr zu versuchen. Ich stellte mich ihr vor, sie hieß Sequoia. Dass es so etwas wie Planetenschreiber gab, hatte sie noch nie gehört, aber sie fand es ganz interessant.
„Und was schreiben Sie so?“, erkundigte sie sich.
„Hauptsächlich arbeite ich an einem Roman“, behauptete ich, obwohl ich in meinen ersten paar Wochen als Merkurschreiber mit diesem Projekt noch nicht eine einzige Seite weitergekommen war. „Aber eben auch über den Merkur. Was hier so läuft, meine ich, Frachtlieferungen zum Beispiel. Ist doch interessant. Und demnächst mache ich bei einem Orbitalgottesdienst mit. Ach ja, und neulich haben Wissenschaftler auf dem Merkur die ältesten Wasservorkommen des Sonnensystems entdeckt. Also wie Sie sehen, ist hier ne Menge los. Da kommt man aus dem Schreiben gar nicht raus.“
„Und der Roman, worum geht’s da?“
„Nichts Besonderes. Also ich meine, worum kann’s schon gehen heutzutage? Das Leben und so. Alles in allem bin ich da noch mehr in der Findungsphase. Ein Thema muss reifen. Und wenn man es dann hat, dann läuft es auf einmal wie am Schnürchen … Sie kommen sicher viel rum, nehme ich an.“
„Ja, schon“, sagte sie und erzählte mir, dass sie eine Zeit lang sogar auf der berühmten Neptunroute geflogen war, die aber auf Dauer nicht so spektakulär wäre, wie sich das die meisten wohl vorstellten. Klar, es gäbe da schon eine Menge zu sehen, den Asteroidengürtel, die Ringe des Saturns, den einen oder anderen Kometen, aber man sei eben auch Ewigkeiten unterwegs, und zwischen den einzelnen Highlights tue sich nun mal nicht viel. Und dann war man bei Frachtflügen ja auch immer nur kurz vor Ort und musste wegen des Kostendrucks nach dem Löschen der Ladung gleich wieder weiter.
„Das reicht dann gerade mal so eben für eine Stippvisite bei den Kryogeysiren auf Triton“, meinte sie, „und wenn man Pech hat, sind die ausgerechnet dann inaktiv und man verpasst einen Ausbruch.“
Den würde sie bei mir nicht verpassen, dachte ich spontan, aber ich war mir nicht sicher, ob ich bei ihr Chancen hatte und versuchen sollte, mit ihr anzubändeln. Je nachdem, was man von einer Beziehung erwartet, kann das Herumziehen ja Fluch und Segen sein. Ich hielt es aber für möglich, dass sie die Ungebundenheit mochte, sonst wäre sie vielleicht nicht Frachtpilotin geworden. Wir Kinder des Sonnensystems haben wegen der großen Entfernungen einen Lebensstil wiederbelebt, den es auf der Erde schon lange nicht mehr gibt: den des Vagabunden. Jedenfalls sah ich mich so, und vielleicht war sie es ja auch.
Ich hatte die Idee, sie mit den einzigen literarischen Arbeiten zu beeindrucken, die mir in meiner Zeit als Merkurschreiber bisher geglückt waren.
„Ich habe übrigens ein paar Merkurgedichte geschrieben“, sagte ich.
„Merkurgedichte?“
„Limericks, genauer gesagt. Ich bin an sich kein Lyriker, aber Limericks liegen mir. Die flutschen mir immer flott aus der Feder. Und der Merkur hat mich inspiriert. Wussten Sie, dass es dort unten entweder unerträglich heiß ist oder unerträglich kalt?“
Sie nickte neugierig, und ich ließ mich nicht lange bitten: „Erster Merkurlimerick:

War mal ein Mann in der flirrenden Wüste,
der wegen der irren Hitze düste,
auf den Merkur,
doch empfand er da nur,
die heftigsten Rückkehrgelüste.“

Sie lachte, was mich ermutigte, fortzufahren: „Zweiter Merkurlimerick:

Dachte ein Mann in der Arktis,
Ich bekomme hier, was ein Infarkt ist,
Auf dem Merkur werde ich älter,
doch war es da noch viel kälter,
so dass sein Raumschiff wieder am Nordpol geparkt ist.“

„Da kommt der Merkur ja nicht gerade gut weg“, meinte sie.
„Stimmt schon“, gab ich zu. „Dabei mag ich ihn inzwischen ganz gern.“
„Und? Gibt’s dazu auch einen Limerick.“
Ich hatte auf die Frage gehofft, zögerte aber einen Moment. Der Limerick war ein wenig heikel, doch dann nickte ich und fuhr fort: „Dritter Merkurlimerick:

Sehr kalt ist es im Permaschatten,
Doch gibt’s ja gute Wärmematten.
So kommt‘s, dass auch auf dem Merkur
Mit Blick auf die Sterne pur,
Die Pärchen sich gern begatten.“

„Na, dann …“, sagte sie.

Im Feldstecher ist ihr Frachtschiff nur noch ein kleiner heller Punkt. Ihre nächste Station ist der Mars. Da will sie zwei Wochen Urlaub machen und auf dem Olympus Mons rumkraxeln. Ich habe sie nicht gefragt, mit wem. Ich muss hier ja sowieso die Stellung halten. Ich fliege jetzt regelmäßig zur Oberfläche hinunter und spiele mit Pastor Hsien Schach. Er ist ein ausgefuchster Stratege, und ich verliere immer.
Sein Orbitalgottesdienst war ein echtes Erlebnis. Bei einem gleißenden Sonnenaufgang schwebten wir in unseren Raumanzügen über dem Merkur, und durch die Helmlautsprecher spielte Pastor Hsien nach seiner Predigt den Anfang von „Also sprach Zarathustra“. Er hat ein Händchen für dramatische Inszenierungen und besitzt sogar, wie man daran sieht, religiösen Humor. Aber ob ich Mitglied bei den Solaren Unitariern werden möchte, hat er mich noch nicht gefragt. Er ahnt wohl, dass ich bei aller Sympathie soweit nicht gehen würde.

Gestern habe ich bemerkt, dass die Sonne größer geworden ist. Es geschieht so wenig hier oben, dass es mir aufgefallen ist. Es kommt daher, habe ich mir erklären lassen, dass der Abstand zwischen Merkur und Sonne bei einem Umlauf stark schwankt. Ich notiere das, weil ich das Protokollieren solcher Merkurbesonderheiten inzwischen als meine Aufgabe ansehe. Manchmal, wenn auch nicht mehr sehr oft, denke ich noch an meinen Roman, den ich hier eigentlich hatte schreiben wollen. In der römischen Mythologie ist Merkur der Götterbote, und ich hatte irgendwie gehofft, auch mir würde hier eine wichtige Botschaft einfallen – es musste ja nicht gleich eine göttliche sein. Inzwischen finde ich es nicht mehr tragisch, dass ich diese Botschaft noch nicht gefunden habe und wohl auch nicht finden werde. Es ist auch so ganz schön, Planetenschreiber zu sein. Und in drei Wochen, was in Merkurzeit bedeutet: heute Abend, kommt das nächste Frachtschiff.

Ulrich Woelk, geboren 1960, studierte Physik und Philosophie in Tübingen. Sein erster Roman, „Freigang“, erschien 1990 und wurde mit dem Aspekte-Literaturpreis ausgezeichnet. Woelk lebt als freier Schriftsteller und Dramatiker in Berlin. Seine Romane und Erzählungen sind unter anderem ins Englische, Französische, Chinesische und Polnische übersetzt. Mit seinem Roman «Der Sommer meiner Mutter» steht Ulrich Woelk auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2019.
«Planetenschreiber 1: Merkur» ist im Berliner Hybriden-Verlag als Künstleredition in einer sehr kleinen Auflage mit Zeichnungen von Hartmut Andryczuk erschienen. Wenn Sie neugierig sind, können Sie sich auf der Seite des Hybriden-Verlags umsehen. www.hybriden-verlag.de

Ulrich Woelk ist mit dem diesjährigen Alfred-Döblin-Preis ausgezeichnet worden.

literaturblatt.ch über «Der Sommer meiner Mutter» (2019)

literaturblatt.ch über «Nacht der Engel» (2017)

Autorenprotrait © Bettina Keller

Romana Ganzoni «Die Taufe»

An meine erste Taufe erinnere ich mich nicht. 1967, Scuol, Unterengadin. Sommer. Ich war wenige Monate alt, ein pausbäckiges Dutzendkind mit rabenschwarzen Augen. Von wem sind denn die? Auf den Fotos bettet mich meine schöne Mutter auf ihren Arm, sie trägt ein graues Deux-pièce, das man in den 60iger Jahren chic nannte, und auch meine Patin Miggi hält mich, die Halbschwester meines Vaters, die in der Familie als schön galt, in Wahrheit war sie recht gewöhnlich und dazu bösartig, aber sie war blond. In der Familie war nur sie blond. Neben Miggi steht mein Pate; er heisst Heinrich, genannt Bum-Bum, er ist Metzger, schnittlauchlang, dünne Arme, dünne Beine, mit Teigbauch, als hätte er einen dieser Sitzbälle, die später aufkamen, verschluckt, ein gutmütiger Pate, der viele Schnäpse verträgt und in der Nacht unter den falschen Fenstern singt.

Meine Taufe war, ausser dass ich in die Gemeinschaft der Gläubigen aufgenommen wurde, ein Skandal. Denn es war eine katholische Taufe, meine Mutter hatte das verlangt, aus Angst vor der Hölle, mein Vater hatte zugestimmt, mein Grossvater war auch gekommen, der alte Katholikenhasser mit dem edlen Profil. Mein Vater und mein Grossvater lachen nicht auf den Fotos. Und ich auch nicht. Ich weiss gar nicht, ob pausbäckige Kinder lachen können, die Backen, die allen als süss gelten, damit sie sie unter einem Vorwand zwicken können, belasten doch diesen kleinen Mund ungemein. Aber nicht die Nase, noch heute weiss ich, wie der reformierte Bart meines Grossvaters, den ich später Neni nannte, roch. Er roch streng. Ich liebte den Grossvater mehr als alle anderen. Ich sagte in der Primarschule: Wenn ich sterbe, holt mich der Neni ab. Das glaube ich auch heute noch.

Die zweite Taufe erlebte ich 2014 in Klagenfurt. Das ist eine Provinzstadt in Österreich. Schon wieder Sommer. Die zweite Taufe nach der ersten Taufe, die mich einst aufgenommen hatte in die Gemeinschaft der Gläubigen – fälschlicherweise sind damit die Christen gemeint. In Wahrheit wurde ich in die geschriebene und gesprochene Sprache aufgenommen, die niedergelegt ist im Alten Testament, ein ewiger Bund, dort liegt das Wort und dampft, es ist voller Zorn, voller Wucht und Kraft, es ist rücksichtslos und hart. Wo kommt es her? Von weit, du Anfängerin! – War ja nur eine Frage.

Ich war mit der ersten Taufe offiziell in die Gemeinschaft der Gläubigen aufgenommen worden, und ich wollte die Gläubigste sein von allen. Das Alte Testament nahm mich ins Wort auf, damit ich meinen Glauben ausdrücken konnte, das Evangelium nahm mich in seinen Schlepptau, und, siehe da, es erzählte die beste Geschichte von allen. Ich las und hörte zu. Ich glaubte alles, fragte mich aber, obwohl man das nicht darf: Wer erzählt hier? Wer schrieb auf? Der Meistererzähler, der Erzählmeister? Ja, ganz recht, Gott erzählt, sagte einer. Gott erzählt? Gott schreibt? Nein, nein, Gott schreibt nicht, er hat keine Hände, er diktiert nur. Aha. Das hiesse, alle Erzähler äffen ihn nach, es dürfte keine Geschichten geben. Selbst erzählen, falls das überhaupt geht, und schreiben wäre ein Verstoss. Oder aber: Gott erzählt uns alle Geschichten, wir schreiben sie nur auf? Dann blieben wir unschuldig.

Und was ist mit den schlechten Geschichten? Kommen die vom Teufel? Ja, die kommen vom Teufel oder von seiner vorwitzigen Grossmutter, sie ist die Gefährliche, weil sie so gefällig tut. Die schlechten Geschichten sind ein Hohn auf den Meistererzähler, sie äffen den Erzählmeister nach, man sollte die Ohren verschliessen, sie nie zu Ende hören oder lesen und niemals weiterempfehlen. Sind denn die schlechten Geschichten die bösen Geschichten oder was bedeutet schlecht? Schlecht bedeutet schlecht erzählt, nichts weiter. Schlecht erzählen ist des Teufels Grossmutter.

Die zweite Taufe, die in Klagenfurt am Wörthersee, war die Aufnahme in die Gemeinschaft derer, die alles aufschreiben – mit Lizenz von oben. Nennen wir die, die alles aufschreiben, die Schreiber und Schreiberinnen; es ist eine Kaste, nicht ganz oben angesiedelt und auch nicht ganz unten. Eine graue Mittelschicht aus Halbverhungerten.

Ich reiste nach Klagenfurt, weil ich in die Provinzstadt nach Österreich eingeladen worden war, im Restaurantwagen nach Salzburg ass ich drei Gänge, weil ich bald zu den Halbverhungerten gehören würde. In Klagenfurt stieg ich aus dem Zug und stand herum, ich wartete auf einen, der mich aufnehmen würde in die Gemeinschaft derer, die zum lebenslänglichen Diktat antreten wollen, die alles aufschreiben, die Geschichten erzählen, und dabei hoffen, sie seien nicht auf die vorwitzige Grossmutter des Teufels hereingefallen.

Ich wartete, aber es kam keiner, und als ich schon davon ausging, dass keiner komme, kam einer, er hiess Burkhard, er stammte aus Deutschland, das war klar, denn er sprach Deutsch und deutlich, in perfekter Intonation. Er dirigierte mich vom Bahnhof auf den Domplatz und sagte: Lesen Sie vor, was Sie geschrieben haben! Ich las vor, was dastand, und als die Geschichte zu Ende war, schaute Burkhard aus Deutschland mich böse an und sagte: Next please! Sein Wort dampfte, weil er mich Scheisse fand. Und der Gestank seines Wortes war so mächtig, dass ich auch zu stinken begann, deshalb begab ich mich gleich nach der Nichtaufnahme in die Gemeinschaft der Schreibenden in mein Hotel Zum goldenen Brunnen, um ein Bad zu nehmen, aber da ich den Hotelprodukten nicht traute, ging ich etwas benommen, aber sehr badewillig in die Kramergasse, wo ein Wunder geschah.

Adam kam auf mich zu. Er sagte, er sehe, dass ich seine Produkte brauche, er lotste mich in seinen Laden, aber ich wäre auch freiwillig mitgegangen. Als er sagte, er heisse Adam und wolle mich beraten, wusste ich, jetzt wird alles gut. Bevor ich etwas sagen konnte, hatte Adam mir die neuste Handcrème der Wundermarke Kedem angeschmiert, die er als galaktisch anpries, in Wahrheit war der Geruch aufdringlich, oberkünstlich und unangenehm, ich begriff, dass ich so richtig angeschmiert war, denn mir kam Burkhard in den Sinn, der mir die Lizenz verweigert hatte, obwohl ich die Gläubigste von allen war.

Hatte er das etwa gemerkt? War alles nur eine Prüfung? Versteckte Kamera? Hatte er Adam geschickt, um zu schauen, wie ich auf ein zweites künstliches Angeschmiertsein reagieren würde? Ich dachte nach.

Adam fragte, ob ich eine Antifaltenbehandlung wünsche. Er schaute mir tief in die Augen. Nein, danke. Adam hüpfte im Geschäft herum, die Handcrème hielt er für verkauft, statt 25 Euro 19 für die Dame. Okay. Ich sagte, ich wolle baden. Einen Augenblick und tadaaa, sagte Adam. Und schon stand dieser Tiegel mit dem goldenen Deckel Salt Scrub Peach & Honey vor mir. Um Gottes Willen, nein! Da las ich: Made in Israel.

Salt Scrub aus dem Heiligen Land. Das konnte kein Zufall sein, und auch nicht, dass es saftige 60 Euro kostete. Qualität kostet, biblische ist unbezahlbar. Adam winkte ab, wir schauen dann noch mit Preis, sagte Adam, ein Ungare, der out of the Blue sagte, es sei schwierig mit den Israelis, oioioi, sehr schwierig, geschäftlich, sagte er. Ich wollte etwas sagen und so ein bisschen in Richtung Ungarn verbinden, da stand bereits das zweite israelische Top-Produkt vor mir: Body Butter Kiwi. 60 Euro. Adam machte aus 145 Euro deren 90 und strahlte.

Ich bezahlte und hastete ins Hotel, wo ich mir ein Bad einlaufen liess. Ich legte mich ins lauwarme Wasser. Nach einer geschätzten Viertelstunde stand ich auf, ohne das Wasser abzulassen, und rieb mich mit dem Pfirsich-Honig-Meersalz ein, ich griff in die Dose und verteilte das teure Mousse grosszügig auf meinem Körper. Peeling, das muss sein, zwei Mal pro Monat, hatte Adam gesagt. Ich zog das durch mit der Schälkur. Ich rieb die ganze Dose ein, ein halbes Kilogramm. Aus Israel, dem Heiligen Land, für weniger als 60 Euro. Ich war rot wie ein Hummer. Hummer sind schöne Tiere, ich esse sie nicht.

Ich setzte mich ins Bad und tauchte unter. Ich tauchte auf und tauchte nochmals unter, ich hielt die Luft an, bis es eng wurde, dann tauchte ich wieder auf, um sehr schnell, mit halb gefüllter Lunge, wieder unterzutauchen. Ich tauchte auf und sagte: Ich taufe dich, Romana, im Namen von Ingeborg Bachmann, die dich höchstpersönlich aufnimmt in die Gemeinschaft der Schreibenden, auf keinen weiteren Namen, vergiss das mit dem Pseudonym, das ist affig, ich taufe dich, weil Ingeborg Bachmann dich für würdig befunden hat, einzutreten in die Welt der Schreibenden, als du heute Morgen ihre Gedichte lasest und weintest. Sie hat dich erkannt als grosse Gläubige. Ich ermächtige dich, Romana, das zu sagen und Geschichten zu schreiben, bis du tot umfällst. Du sollst das nicht nur tun, du musst das tun, ich befehle es dir.

Ich glaubte mir, stand auf, duschte, wusch mir die Haare mit dem Billigprodukt, das das Hotel mir überlassen hatte, und stieg aus der Wanne. Nun schmierte ich mich ein mit der Kiwibutter With Dead Sea Minerals and Shea Butter (Paraben-Free) von Kedem aus dem Heiligen Land, ich schmierte meine Seele, ich ölte mich und versiegelte meinen Leib.

Romana Ganzoni wurde 1967 in Scuol, Unterengadin, geboren, wo sie auch aufwuchs. Geschichts- und Germanistikstudium an der Universität Zürich, Aufenthalt in London. Nach zwanzig Jahren Tätigkeit als Gymnasiallehrerin widmet sie sich heute ganz dem Schreiben und lebt als freie Autorin in Celerina, Oberengadin. Seit 2013 Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften. 2014 Teilnahme am Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt. Förderpreis des Kantons Graubünden. Seit 2015 Kolumnen in der Schweiz am Sonntag und im Kultur­Blog der Engadiner Post. «Granada Grischun» in der Reihe Edition Blau, Rotpunktverlag ist ihre erste Buchveröffentlichung.

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Beitragsbild © Laura Giannini