Noëmi Lerch „Alaska“

Eisberge! Sie waren wirklich da, die langersehnten Gesellen der antarktischen Meere!
Der Mann muss vor Freude laut gerufen haben, als er nach Monaten auf See am Abend des 29. Dezembers 1911 endlich wieder Land entdeckte. Er hatte seine Familie in Basel zurückgelassen und ein behütetes Leben. Er hatte alles gegen die Eisberge getauscht. Der Vater sei ein Tyrann gewesen, heisst es im Vorwort, aber das sagte oder schrieb der Mann, der auszog für das Abenteuer, in seinem Tagebuch an keiner Stelle. Der Zug hält und ein Junge steigt ein. Er setzt sich mir gegenüber ins Abteil. In seinen Armen trägt er ein Kaninchen. Die Leute, die bereits sitzen, drehen ihre Köpfe. Der Junge legt das Kaninchen auf seinen Bauch und seine von der Kälte rot geworden Hände auf das Kaninchen. Das Kaninchen schnüffelt, seine Schnurbarthaare bewegen sich wie Antennen. Es klettert vom Bauch über die Brust hinauf und lässt dort die Schnurbarthaare über das Gesicht des Jungen tanzen. Die anderen Leute, die ebenfalls in den Zug eingestiegen sind, legen ihre Mäntel, Mützen, Halstücher und Handschuhe ab. Erst da bemerken sie den Jungen mit dem Kaninchen, drehen ihre Köpfe. Ein Flüstern geht um, ein Starren, ein Kopfschütteln. Der Junge hat nebst dem Kaninchen einen Rollkoffer bei sich. Seine Kleider sehen nicht aus wie für den Winter gemacht. Auf der Ebene vor dem Fenster liegt Nebel. Die Grashalme unter dem Nebel müssen Kämme tragen aus Eis, wenn man darüber geht, brechen sie. Durch den Nebel kommt die Sonne. Ein Mann summt das Lied vom Aschenputtel, als es mit seinem Pferd über die Wiese galoppiert. Schneestaub fliegt auf. Der Junge, das Kaninchen und ich schauen zusammen aus dem Fenster. Als der Junge aussteigt, lese ich weiter in meinem Buch. Ich will nicht aufschauen, ich will mich nicht verabschieden. Ein Kind fragt seinen Vater, ob es denn wahr sei, dass alle Menschen aus Sternenstaub bestehen.

An Neujahr hüte ich Schafe. Es sind die Schafe einer Freundin, die vor dem Feuerwerk in die Berge geflüchtet ist. Die Schafe sind im Stall, der Schäfer, seine Hunde und sein Esel sind ausgestorben. Draussen herrscht eine moderige Kälte. Vom Feuerwerk wird die Luft staubig, hat die Freundin gesagt, die Bändel an ihrem Rucksack festgezurrt. Das hielte sie im Kopf nicht aus. Ich sitze im Stall, im Heuhaufen. Vor dem Fenster leuchtet Neujahrsfeuerwerk. Hier ist alles weit weg, nur das Kauen der Tiere ist nah und die Wärme ihrer Körper. Nach Mitternacht liege ich auf der Bank neben dem alten Specksteinofen, die Füsse am heissen Stein, der Nasenspitz und die Hände kalt. Verschiedene Männer gehen am Fenster vorüber, aber die Fenster sind beschlagen. Ich lese weiter in meinem Buch, von jenem Mann, der verschollen ist in der Antarktis, am Anfang des letzten Jahrhunderts. Es gibt eine Frau, die schrieb über einen Mann, der ist verschollen am Khan Tengri. Die Expedition war viel zu spät für diese Jahreszeit. Der Mann wollte sich von seinen Erfrierungen selber befreien. Auf dem Heimweg auf seinem Pferd erlag der Mann der Kälte. Die Frau schrieb über den Mann und die Kälte. Sie erlag weder dem einen noch dem anderen. Sie stürzte vom Fahrrad und kein Schnee war da, sie aufzufangen.

Ein Kind fragt seinen Vater, was der Unterschied ist zwischen dem Nordpol und dem Südpol. Er sagt, am Nordpol gibt es kein Land. Ein Kind fragt seinen Vater, wem gehört der Nordpol. Er sagt, niemandem. Aber am Nordpol gibt es Eisbären und Robben. Ich schaue nicht auf, obwohl es Morgen geworden und ein Kind mit seinem Vater am Haus vorbei gegangen ist. Ein Mann schreibt am 1. Januar 1912 in sein Tagebuch. Im Süden unser Ziel, der antarktische Kontinent, versteckt hinter unendlich viel Eis. Der Süden erglänzte hell, golden und weiss. Verheissungsvoll schien die Gegend, doch kalt und einsam. In einem Jahr werde ich dieses Eisland besser kennen. Wie werden Ruhe, Kälte und Einsamkeit auf mich wirken? Ich frage den Mann, ob er mich mitgenommen hätte, als Frau. Ich hätte mich als Mann verkleiden können. Beim Rasieren hätte er vielleicht meine zarten Hände gespürt, aber alle Zartheit wäre durch mein junges Alter erklärbar gewesen. Der Mann sagt, das sei zu kompliziert, die Geschichte so zu erzählen. Es sei sowieso schon alles kompliziert genug. Das Land der Hoffnung, also der siebte Kontinent, könne nicht mehr warten, er wolle endlich besichtigt, betreten werden. Und als Erster ankommen, das sei wichtig für die Verewigung. Ich sage, woher weisst du denn, Himmel nochmal, dass all die Männer, die du mitgenommen hast, tatsächlich Männer waren? Es gab eine, ihre Freunde nannten sie – Alaska! Eisberge, schau! Ruft der Mann und zeigt aus dem Fenster. Und da sehe ich sie auch. Die langersehnten Gesellen der antarktischen Meere.

Noëmi Lerch, 1987 geboren in Baden, studierte am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel und an der Universität Lausanne. Sie war Redakteurin beim Schweizer Magazin für Reisekultur Transhelvetica. Seit 2014 arbeitet sie zusammen mit der Cellistin Sara Käser im Duo Käser & Lerch. 2015 erschien ihr erstes Buch »Die Pürin« im verlag die brotsuppe. Noëmi Lerch lebt in Aquila, im Tessin. Ihr zweiter Roman «Grit» erschien 2017. Noemi Lerch liest in der Lesereihe «Wortklang – Klangwort» zusammen mit dem Musikerduo STORIES im Theater 111 in St. Gallen.

Enzo Pelli «Stalla in rovina»

Faticose storte pietre tolte
dalle frane ai tempi della fame
per farne perfetti muri squadrati:
nei prati erosi dai rovi
brillano come nuovi. Abbaglio
del sole di luglio.
(2010)

Stallruine
Mühsame unförmige Steine
von den Geröllfeldern angeschleppt
zu Zeiten des großen Hungers,
um daraus perfekte
rechteckige Mauern zu machen:
auf den mit Dornstauden bedeckten
Wiesen schimmern sie heute wie neu.
Und es blendet die Julisonne.

*

Scavatrice gialla
La scavatrice gialla a colpi di dente
solleva sassi e terra senza sforzo
senza rimorso. Stasera dell’orto
non resterà niente.
(2009)

Gelber Bagger
Der gelbe Bagger mit seinen schwarzen Zähnen
hebt ohne Mühe Steine und Erdreich aus –
und bedauert es nicht. Heute Abend
wird vom Garten nichts übrig bleiben.

*

Vigneto a Pura
Una casa un vigneto
un uomo in grembiule: mio padre.
Tempo passato – mi fermo stupito
sotto lo stesso cielo
a guardare.
(2009)

Weingarten in Pura
Ein Haus, ein Weingarten,
ein Mann mit einer Schürze: mein Vater.
Vergangene Zeiten – erstaunt
bleibe ich stehen
unter dem gleichen Himmel
und schaue.

drei Gedichte aus «Momenti irripetuti», Lugano, alla Chiara Fonte, 2014. Traduzione tedesca di (übersetzt von) Christoph Ferber.

Enzo Pelli è nato a Lugano nel 1948. Autore televisivo e artista-calligrafo, ha pubblicato presso alla Chiara Fonte di Lugano le raccolte di poesie «Momenti irripetuti» (2014) e «Solo una nube che passa» (2017).

Enzo Pelli (Lugano 1948), SRG-Mitarbeiter und Kalligraph, hat bei alla Chiara Fonte, Lugano, zwei Sammlungen von Gedichten veröffentlicht: «Momenti irripetuti» (2014) e «Solo una nube che passa» (2017).

Webseite des Künstlers

Joachim Zelter „Gegen die Gewissheiten“

Überlegungen zu einigen Aspekten der literarischen Moderne aus Sicht eines Schriftstellers

Warum schreibt ein Autor wie er schreibt. Oder warum schreibt er etwas nicht, das er durchaus schreiben könnte, aber trotzdem nicht schreiben kann oder partout nicht schreiben will? Warum lässt der Autor beispielsweise eine Figur nicht durch den Wald nach Hause gehen, um dort eine andere Figur zu treffen, so dass aus diesem Treffen eine Liebeshandlung entstehen könnte? Oder warum scheut sich ein Autor vor einem guten Ende? Oder vor einem eindeutigen Anfang? Oder vor einnehmenden Figuren, welche die Welt exemplarisch erleiden, durchschreiten, erleben, verbessern oder überwinden?
Oftmals sind es nur halbbewusste Triebkräfte und Maßstäbe, die einen Autor dazu bringen etwas in einer bestimmten Art zu schreiben – oder auch nicht zu schreiben. Zum Beispiel tun sich nicht wenige Autoren mit linearen Handlungen schwer. Oder mit mitreißenden Figuren, die eine Handlung vorantreiben oder aus der äußere Handlungen oder ganze Handlungswelten hervorgehen. Handlungen und Figuren – dies scheinen, zumindest heute, Selbstverständlichkeiten, ja Unabdingbarkeiten. Dennoch gibt es bei nicht wenigen Autoren ein Unbehagen, eine stumme Reserve gerade gegenüber derartigen Forderungen. Diese Reserve ist – so meine These – ein Überbleibsel der literarischen Moderne, in einer Welt, die sich zunehmend von den Er- rungenschaften der literarischen Moderne entfernt hat, die mit der Moderne auch zunehmend das Bewusstsein und Beschreibungsinstrumentarium ihrer selbst verloren hat.

Nach Mario Andreotti (Die Struktur der modernen Literatur) besteht das große Missverständnis gegenwärtiger Literaturdiskurse in der Gleichsetzung von zeitgenössisch und modern. Ein Roman sei modern, weil er soeben erschienen sei oder sich moderner Themen annimmt, zum Beispiel dem Internet, der Globalisierung, dem Grundeinkommen für alle oder einer jugendlichen Subkultur. Nach Andreotti ist diese Gleichsetzung irreführend, da moderne Themen nicht notwendigerweise gleichbedeutend sind mit der literarischen Moderne als Erzählweise in der Literatur. Ein Großteil unserer Gegenwartsliteratur, so Andreotti, ist alles andere als modern, sondern vielmehr in ihrer Struktur traditionell, konventionell, wenn nicht gar vormodern – auf dem Stand des bürgerlichen Romans des frühen 19. Jahrhunderts

Die Frage ob modern – oder nicht modern lässt sich anhand von zwei zeitgenössischen Grund- forderungen an literarische Texte demonstrieren, die gerade die literarische Moderne immer wieder in Frage gestellt hat: (1) Die Frage der Handlung und (2) die Frage von festen, eindeutigen, runden Figuren, die im Zentrum dieser Handlung stehen, ja, aus denen diese Handlungen hervorgehen. Handlung unterstellt eine Form von Kausalität. In der Poetik des Aristoteles heißt Handlung Mythos, die Zusammensetzung der Geschehnisse. Auch Edward Morgan Forster betont in seiner Definition von Handlung (plot) dessen Kausalität. „The king died and then the queen died.” Dies ist eine Geschichte. „The king died, and then the queen died of grief.” Dies ist eine kausale Ordnung, also eine Handlung. Nun ist Kausalität nichts Beliebiges, sondern beinhaltet fundamentale Anschauungen über die Wirklichkeit. Schon das Wort Kausalität impliziert eine ganze Weltanschauung: der Mechanik, der Physik, der Naturwissenschaften, der Wissenschaft allgemein. Eine Plot-Struktur geht also weit über ein einzelnes literarisches Werk hinaus. Sie beinhaltet eine Weltanschauung, und es sind gerade derartige Weltschauungen, welche die literarische Moderne immer wieder in Frage gestellt hat: sei es nun das Gebot linearer Handlungen oder der Glaube an die Erzählbarkeit der Welt oder die Vorstellung von Sprache als Abbild außesprachlicher Wirklichkeit. Hinzu kommt die Skepsis der Moderne gegenüber althergebrachten Subjektvorstellungen: zum Beispiel die Hauptfigur als Identifikationsfigur, als Sinn- und Erlebniszentrum der äußeren Welt, als Inbegriff einer bürgerlichen Charakterideologie, in der Tüchtigkeit, Selbstverantwortung und Eigenständigkeit eine Rolle spielen. Die klassische literarische Moderne demonstriert demgegenüber die Entpersönlichung ihrer Figuren, ihre psychologische Widersprüchlichkeit und Uneinheitlichkeit, ihre Fragmentarität, ihr Getrenntsein, ihre Auflösungser- scheinen, ihre gesellschaftliche Degradierung und Funktionalisierung. „Das Ich ist unrettbar“, schrieb kein Literat, sondern der Physiker Ernst Mach im ausgehenden 19. Jahrhundert. Der Satz wurde zu einem Leitsatz der Wiener Moderne. Und nicht nur das Ich, sondern auch die Vorstellung einer objektiven, linear erzählbaren Welt wird für die Moderne zu einer unrettbaren, allenfalls noch subjektiv haltbaren Größe. „Wir haben kein anderes Gesetz als die Wahrheit, wie jeder sie empfindet.“ Wie jeder sie empfindet – so der entscheidende Zusatz von Herrmann Bahr in Die Moderne. Althergebrachte Gewissheiten weichen in der Moderne einer tiefen Skepsis gegenüber dem Wirklichkeitsgehalt von Sprache und der Darstellbarkeit von Wirklichkeit (Hofmannsthal) sowie einem Unbehagen gegenüber monistischen Wirklichkeits- und Wahrheitsmodellen überhaupt. „Die Wahrheit“, schreibt der Philosoph Hans Vaihinger in seiner Philosophie des Als-Ob, „ist nur der zweckmäßigste Irrtum.“ Statt Wahrheit und Wirklichkeit tritt die fröhliche Bejahung des Fiktiven in den Vordergrund, nicht nur die Fiktionalität der Kunst, sondern die des Lebens überhaupt. In den Worten Oscar Wildes: „I treated art as the supreme reality and life as a mere mode of fiction.

Um das bisher Gesagte (aus der Erfahrung eines heutigen Autors) an einem konkreten Beispiel zu verdeutlichen. Im Jahr 2006 erschien mein Roman „Schule der Arbeitslosen“. Der Roman spielt in einer nicht allzu fernen Zukunft in einem Internierungslager für Langzeitarbeitslose. Dies wird nicht anhand fester, abgerundeter Figuren erzählt, etwa anhand einer rechtschaffenden Familie, die ein Einfamilienhaus abbezahlen muss und schulpflichtige (vielleicht sogar noch herzkranke) Kinder hat und deren Familienoberhaupt nun in die Abgründe der Arbeitslosigkeit fällt. Die Versuchung lag nahe, das Thema in dieser Art anzugehen, über ein Ensemble fester Figuren, mit denen man sich identifiziert und mit denen man mitleiden kann. Stattdessen ent- wickelt der Roman das Thema Arbeitslosigkeit weniger psychologisch denn vielmehr gestisch und soziologisch als strukturelle Gewalt (sprachliche Gewalt, diskursive Gewalt, normative Gewalt) herrschender ideologischer Systeme über entpersonalisierte Individuen, die zu fast keiner Sprache oder Gegenwehr mehr fähig sind, die sich allenfalls stammelnd oder in kleinen Gesten zur Wehr setzen können gegenüber einer allmächtigen gesellschaftlichen Grund- und Kollektivhaltung: nämlich der Obsession von Arbeit als Sinnzentrum unserer Zeit.
Man könne sich zu wenig mit den Figuren identifizieren. Man könne mit ihnen nicht warm werden. So der erste Einwand gegen den Roman. Und: Der Roman habe zu wenig Handlung. Er zeige auch keine wirklichen Lösungen. So der zweite Einwand. In diesen Einwänden vereinigen sich in nuce die gängigen Erwartungshaltungen gegenüber der zeitgenössischen Literatur: Handlung, Figuren, Botschaften und Lösungen – genau das, was von der klassischen Moderne (von Kafka bis Döblin, von Beckett bis Pinter, von Ionesco bis Camus) immer wieder in Frage gestellt wurde. Man kann die urskeptische Haltung der Moderne mit dem Satz von Camus resümieren: „Wenn die Welt klar wäre, gäbe es keine Kunst.“

In den letzten zwei Jahrzehnten ist uns die Moderne zunehmend abhanden gekommen. Sie wich in den achtziger Jahren der Postmoderne, der dann keine Nachpostmoderne oder Post- postmoderne mehr folgte als vielmehr eine diffuse Vormoderne, in der einerseits die Errungenschaften der Moderne verlorengegangen sind bzw. schlichtweg vergessen wurden, in der andererseits mit der größten Geläufigkeit sehr traditionelle, vormoderne, geradezu biedermeierliche Forderungen und Erwartungshaltungen an die Literatur herangetragen werden. Der Grundimpetus der Moderne, die allumfassende Skepsis, weicht zunehmend einer Haltung nicht mehr reflektierter Gewissheiten. Als hätte es die Moderne nie gegeben. Als wären Handlung, Figuren, Botschaften und Lösungen zu allen Zeiten gültige Konstanten der Literatur. So als gäbe es kei-nerlei Zusammenhang zwischen gegenwärtiger gesellschaftlicher Ich-Fixierung, Ich- Verantwortung, individueller Leistungs- und Erfolgsethik und der Forderung des Buchmarktes nach hinreißenden, heldenhaften oder zumindest unterhaltsamen literarischen Figuren.

Wenn ich gefragt werde, welche Autoren ich denn schätze oder welche Autoren mich literarisch beeinflussen, dann nenne ich Autoren wie Oscar Wilde, Harold Pinter, Franz Kafka und einige andere – alles übrigens Autoren der Moderne. Doch gibt es für den schreibenden Autor auch noch eine andere Kategorie von Büchern, nicht nur belletristische Einflussbücher, sondern auch literaturwissenschaftliche Bücher, die für mich eine große historische und theoretische Rückversicherung darstellen. Die Struktur der modernen Literatur von Mario Andreotti ist ein solches Buch. Es bietet gerade jenen Autoren eine Handhabe, die aus einer tiefsitzenden, stummen Reserve gegenüber den aktuellen Forderungen an die Literatur eben nicht so schreiben, wie sie sehr leicht schreiben könnten: in Kategorien eingängiger Handlungen, Figuren, Botschaften und Lösungen. Es ist ein Buch für alle Autoren, die sich darüber freuen, dass Literatur nicht ewig gültigen Gesetzen und Gewissheiten folgt, sondern dass diese Gewissheiten hinterfragbar und veränderbar sind – ein Grundprinzip der Moderne. Es ist ein Buch für alle Autoren, die sich heutzutage deplaciert und historisch überholt fühlen, die aber dennoch in einem stummen oder verstummten Wissen noch an den Errungenschaften der Moderne festhalten oder festzuhalten versuchen. Es ist ein Buch, das mir immer wieder geholfen hat, mir über eigene (oft auch nur halbbewusste) Maßstäbe des Schreibens klar zu werden. Manchmal wünschte ich, ein solches Buch würde nicht nur von Autoren, sondern vermehrt auch von Kritikern und Lektoren gelesen.

Veröffentlicht in: Literaturblatt Baden-Württemberg. Heft 6, 2010, 12-13.

Literatur:
Mario Andreotti, „Die Struktur der modernen Literatur“, vierte überarbeitete Auflage. Bern, 2009.
Joachim Zelter, „Schule der Arbeitslosen“, Tübingen, 2006.
Gotthart Wunberg, Hrsg. „Die Wiener Moderne: Literatur, Kunst und Musik zwischen 1890 und
1910“, Stuttgart, 1981.
Andreas Huyssen und Klaus R. Scherpe, Hrsg. „Postmoderne: Zeichen eines kulturellen Wan-
dels“, Hamburg, 1986.
Lothar Fietz, „Strukturalismus: Eine Einführung. Literaturwissenschaft im Grundstudium 15“, Tü-
bingen, 1982.
Lothar Fietz, „Funktionaler Strukturalismus: Grundlegung eines Modells zur Beschreibung von Text und Textfunktion“, Tübingen, 1976.

Joachim Zelter wurde in Freiburg im Breisgau geboren. Von 1990 bis 1997 arbeitete er als Dozent für englische und deutsche Literatur an den Universitäten Tübingen und Yale. Seit 1997 ist er freier Schriftsteller, Autor von Romanen, Theaterstücken und Hörspielen. Seine Romane wurden in mehrere Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet. Mit dem Roman „Der Ministerpräsident“ war er 2010 für den Deutschen Buchpreis nominiert. 2017 war er Hausacher Stadtschreiber (Gisela-Scherer-Stipendium).

Rezension auf literaturblatt.ch zu «Im Feld» von Joachim Zelter

Webauftritt des Autors

Michèle Minelli & Peter Höner „Aufs Land gezogen“

Dialoge

1 Aufs Land gezogen

Grauenhaft, dieses Wetter. Hochnebel, Regen, ein eisiger Wind. Und das schon den dritten Tag.
Stinklaune?
Ach, was. Stinklaune, Stinklaune. Mir fällt die Decke auf den Kopf.
Kino? – Wir könnten ins Kino gehen. Ins „Luna“ kann man immer, die zeigen nur gute Filme.
Ach ja?
Wir waren schon Ewigkeiten nicht mehr im Kino.
Kino. – Und nachher liegt Schnee, und die Strassen sind vereist.
Seit wann hast du Angst vor dem Winter?
Hab ich nicht. Trotzdem. Das geht nicht.
Warum nicht?
Sommerreifen.
Was, Sommerreifen?
Sommerreifen. Und dann kommen wir hier nicht mehr hoch.
Du wirst doch nicht, ich meine… Du fährst immer noch mit Sommerreifen? Bist du blöd, vor einem Monat habe ich dir gesagt, du sollst die Reifen wechseln…
Nun schrei hier nicht rum. Letzten Winter gab es nicht einen Tag, an dem wir Winterreifen gebraucht hätten.
Dann nehmen wir den Bus.
Nach dem Kino kannst du fast zwei Stunden warten, in einer Beiz neben dem Bahnhof, Soldaten und Besoffene, Rentner mit ihren Geschichten, die kaum auszuhalten sind, Ausländer …
Du solltest dich einmal hören…
Was sollte ich?
Ja, du solltest dir einmal zuhören müssen, was für einen Stuss du daher schwafelst. Hock dich an einen Stammtisch, im Frohsinn, in der Traube, im Hecht. Vom Wetter zu den Ausländern! Da bist du zumindest in Gesellschaft.
Du weisst genau, dass wir mit Sommerreifen… Das Risiko ist einfach zu gross. Und: Einen ganzen Abend unter Leuten ohne ein Bier, ein Glas Wein, ohne einen Schnaps, das hält man doch gar nicht aus.
Man?
Und dann stehen wir da kurz vor Mitternacht an der Abzweige und haben noch einmal eine halbe Stunde, bis wir zu Hause sind. Ich meine, damit wird das ganze Elend ja geradezu auf die Spitze getrieben. Im Kino friert man, weil es schlecht besucht ist, und sie an Heizung sparen, oder man sitzt neben jemanden, der ohne Schirm durch den Regen gelaufen ist. Und dann immer diese Pause, entweder soll ich ein Eis fressen oder ihren billigen Wein trinken, das hat doch keine Atmosphäre, auf jeden Fall, nachdem sie diesen schrecklichen Neubau gleich nebenan hochgezogen haben. Und immer kennt man jemanden, mit dem man reden sollte. Ich will doch nicht reden müssen, wenn ich nichts zu sagen habe. Übers Wetter? Über den Film? Sicher nicht. Dass sie nichts verstehen, merkt man ja schon an ihren Reaktionen, wo und warum die Leute immer lachen, das möchte ich auch gerne einmal wissen. Ich meine, dieses ländliche Publikum. Die lachen doch immer an den falschen Stellen. Wenn überhaupt. Wo sie nichts verstehen, über Dinge, von denen sie keine Ahnung haben. Dafür umso lauter. Als müsste ihr Lachen Verstärkung einfordern. Es gibt eben keine Filme über Traktoren, Düngemittel und Zuckerrüben. Gibt es nicht. Und die Stadt. Wie, wo oder was? Was ist eine Stadt? Einmal im Jahr Konstanz und einmal Winterthur. Bertheli habe ich gefragt, wann sie das letzte Mal in Zürich war? Zürich? Hat sie gefragt? Was soll ich denn in Zürich? – Haben wir eigentlich noch Schokolade?
Schokolade? Hast du vergessen, dass wir einen Garten haben?
Ich kann doch nicht, immer nur Quitten… Roh gelten sie sowieso für ungeniessbar. – Was ist jetzt? Gehen wir jetzt ins Kino, oder willst du hier versauern?
In ein Auto ohne Winterreifen? Ohne mich, da setz‘ ich mich nicht rein. – Überhaupt hast du das Wasser abgestellt, die Leitungen geleert, sind die Dachfenster zu? Das letzte Mal hat es voll in meine alte Schallplattensammlung geregnet. Ist der Sonnenschirm im Haus, die Gartenstühle? Die neuen Tulpenzwiebeln sind auch noch nicht im Boden. Und hast du nun endlich meinen Löwenzahnstecher gefunden. Ein Glück gibt es dieses Jahr keine Nüsse…
Kino, Sommerreifen, Wintergemüse! Vergiss es. Los komm! Annis Rinder sind wieder einmal durch den Hag in unseren Garten gebrochen.

2 Besuch

Wie schön ihr es hier habt! So ein prächtiger Garten! Und dann diese Aussicht!
Naja, das Restaurant ist öfter geschlossen als offen.
Wie meinst du?
Das Restaurant. Die Aussicht. Sie ist nur an knapp drei Tagen die Woche geöffnet.
Aber ihr ernährt euch doch ohnehin aus dem eigenen Garten? Also wenn ich einen solchen Garten hätte – schau nur, das Werk lobt seinen Schöpfer!
Ist das ein Zitat?
Wie du willst. – Ich habe noch nie so dralle Tomaten gesehen. Und das im November. Ein Wunder.
Ah, die Tomaten. Das war ein Kampf, sag ich dir, zuerst die Rinder, die durch den Zaun brechen, und dann die Braunfäule…
Oh, und diese Feigen! Da nehme ich mir gleich zwei, gell, ich darf mich doch bedienen? Feigen, das ist ja das reinste Paradies hier!
… hat fast alles befallen.
Was seh ich da: Letzte Himbeeren! In dieser Jahreszeit!
Ja. Himbeeren im November.
Das wäre doch ein wunderhübscher Buchtitel? Himbeeren im November. – Hier oben schreibt sich bestimmt ganz herrlich. All die kleinen Plätzchen…
Die gejätet werden müssen.
… die ihr habt. Die hat alle Peter gemacht, ja? Die Trockenmäuerchen, die lauschigen Eckchen, die poetischen Nischen?
Äh, nein, ich werkle da…
Ein Multitalent!
… wacker mit.
Wo man hinblickt, ist Idylle. So, so schön, dass du es so schön hier hast, Michèle, macht mich ganz froh. Du schreibst bestimmt in einem Mordstempo an deinem nächsten Roman, das kann ich gut verstehen, bei dieser Lage, dieser Stimmung, da kommt man unweigerlich in den Flow, das flutscht doch nur so hier, sieh nur, dort drüben das Abendrot, nein, wie schön aber auch, einfach nur schön, sag ich.
Hm, schön schon, ja.
Wann bist du fertig?
Womit? Dem Abräumen im…
Deinem Roman, womit denn sonst?
… Garten?
Garten? Einen Gartenroman! Wie schön, wann feierst du Vernissage, wann kann ich es lesen?
Lesen? Ich weiss nicht.
Wie, du weißt nicht? Wie heisst es denn, das neue Werk?
Hm. Lass mich überlegen.
So schön hier!
Vielleicht nenne ich es….
Gell, ich darf doch noch einmal, die schmecken alle so köstlich!
… Himbeeren im November.

3 Sonntag früh im Bett

Komm, machen wir das Fenster auf.
Hmm?
Hörst du den Regen?
Wmkissen?
Küssen?
Wo ist mein Kissen?
Warte, ich werde dein Kissen sein. So. Liegst du gut?
Hmm.
Hörst du wie er prasselt?
Ichhrnero.
Hm?
Ich höre nur Nero.
Ach der. Lass doch den Stier.
Sinddkatzndrn?
Hm?
Sind die Katzen drin?
Hm, hab sie vorhin gesehen, als ich aufs Klo ging. Alle drei.
Wmstduheute?
Hm?
Was machst du heute?
Heute?
Schreibst du?
Jetzt liege ich erst noch ein bisschen.
Schrbnleben.
Hm?
Wir wollten doch fürs Schreiben leben?
Ja, schon, aber… Hörst du, wie schön der Regen prasselt?

Michèle Minelli, geb. 1968 in Zürich, freischaffende Schriftstellerin, lebt und arbeitet auf dem Iselisberg. Verschiedene Auszeichnungen und Stipendien. Zuletzt erschienen „Die Verlorene“, ein historischer Roman über das Leben der Thurgauerin Frieda Keller, Aufbau Verlag 2015. 2017 erscheint die Publikation „Schreiblexikon, das:“, für das Minelli zusammen mit Peter Höner als Herausgeber zeichnet. Zuletzt erschien bei Salis der Roman «Der Garten der anderen.

Webseite der Autorin

Peter Höner, aus Winterthur, geboren 1947 in Eupen/Belgien, freischaffender Schriftsteller, Schauspieler und Regisseur, lebt und arbeitet auf dem Iselisberg im Kanton Thurgau. 2017 erschien im Limmat Verlag der fünfte und letzte Kriminalroman «Kenia Leak» mit den beiden Ermittlern Mettler und Tetu. Der Schelmenroman «Der seltsame Ausflug des Salvador Patrick Fischer in die analoge Welt» soll 2019 erscheinen.

Webseite des Autors

Karsten Redmann „Der Korpus“

Es war einer dieser Sonntage, ein verregneter zudem, an dem sie allein in ihrem geräumigen und mit schweren Teppichen ausgelegten Esszimmer sass, die Tageszeitung mit den Todesanzeigen vor sich auf dem Tisch ausgebreitet, als plötzlich das Telefon klingelte. Im ersten Moment zuckte sie zusammen, denn wenige Tage zuvor hatte ein Tross von Elektrikern eine neue Telefonanlage in ihrer Villa eingebaut; ein Gerät auf jeder Etage – so, wie sie es wollte. Und nein, ein Mobiltelefon kam nicht in Frage … Die Elektriker hatten sie belustigt angesehen, wissende Blicke ausgetauscht und sich an ihre Arbeit gemacht. Umständlich klappte sie die Zeitung zusammen, und stand, sich auf ihren schwarzen Gehstock stützend, langsam auf. Am Telefon verabredete sie eine Zeit: 15 Uhr. «Vorher», sagte sie der Frau am Telefon, müsse sie sich ein wenig hinlegen, sie brauche ihren Mittagsschlaf. «Und kommen Sie bitte pünktlich», ergänzte sie, «nicht, dass ich den ganzen Tag auf sie warten muss – ich bin zwar alt, aber nicht so alt, als dass ich Unmengen von Zeit zu vergeuden hätte.» Die Frau am Telefon zeigte Verständnis für das Gesagte, und versprach, auf alle Fälle pünktlich zu sein, schliesslich wolle sie ja unbedingt dieses Regal haben, es gefalle ihr ausserordentlich gut und sie wisse schon genau, wo es in ihrer Wohnung Platz fände. «Ach, wissen Sie», sagte die Alte, «das ist ja allein ihre Sache und geht mich überhaupt nichts an. Ausserdem ist es mir einerlei, ob Sie das Regal für sich nutzen oder weiterverkaufen. Ich selbst kann es nicht mehr brauchen … und noch eins: Hätten Sie vielleicht Interesse an alten Büchern? Mein verstorbener Mann hat früher sehr viel Zeit mit diesen alten Dingern verbracht, vielleicht sogar mehr als mit mir … In der Garage habe ich kistenweise Bücher stehen. Die können Sie gerne alle mitnehmen. Sofern Sie Interesse an Literatur haben?» «Aber ja doch», sagte die Frau, «grosses Interesse sogar. Ich studiere im fünften Semester Germanistik, Kunstgeschichte und …» «Ja, ja», kürzte die Alte ab, «Punkt drei also!», legte auf, schleppte sich die Treppe nach oben und schlief bis kurz vor zwei, denn vor dem verabredeten Termin wollte sie sich noch ein wenig frisch machen. Die verbleibende Zeit nutzte sie unter anderem, um den Namen eines alten Schulfreundes – Willi Sebald, ja, sie erinnerte sich noch gut an ihn, sass immer in der ersten Reihe rechts, ein Einser-Schüler, später dann Zahnarzt mit gut gehender Praxis – mit einem schwarzen Filzstift aus ihrem Adressbuch zu streichen. Bei ihrer morgendlichen Zeitungslektüre hatte sie die kostspielige Todesanzeige mit vorangestelltem Rilke-Gedicht entdeckt, oben rechts in der Ecke. Nicht zu übersehen. Fünf Minuten nach drei klingelte es an der Tür. Die alte Frau öffnete, grüsste, und wies die junge Frau umgehend an, ihr zu folgen. «Da vorne», sagte sie und zeigte im Hof auf zwei Tore einer Doppelgarage. Sie betätigte eine Fernbedienung und eines der Garagentore öffnete sich. Der jungen Frau war deutlich anzusehen, dass die Grösse der Garage sie schier sprachlos machte – aber auch die vielen teuren Gegenständen, die sich in ihr befanden: ein Aston Martin neben einem Bentley, eine kleine aufgebockte Yacht neben einer chromblitzenden Harley Davidson, viele alte Kunstgegenstände, unzählige Vitrinen voller Vasen und teurem Geschirr; vor allem aber erstaunte sie der Anblick eines ganz besonderen Gegenstandes, der, von einer durchsichtigen Plastikfolie bedeckt, längsseits an der weiss gestrichenen Wand stand. «Entschuldigung», sagte sie stockend, «aber ist das hier wirklich das, für das ich es halte?» Die Alte lächelte, hob ein Stück der Folie nach oben und sagte: «Ja, ja. Das ist meiner. Den habe ich mir vor zwei Jahren von einem Tischler anfertigen lassen. Ein schönes Stück! Finden sie nicht auch?» … Die junge Frau betrachtete peinlich berührt den hölzernen Korpus, der annähernd die gleiche Farbe hatte wie das noch zu erstehende Bücherregal, drückte der Alten das abgezählte Geldbündel in die Hand und schleppte das Regal in grosser Eile und ohne sich umzuschauen zu ihrem Wagen, einem alten Kastenwagen mit viel Stauraum. An die alten Bücher dachte sie da schon nicht mehr und auch später nicht. Das alte Regal fand in ihrem Keller Platz, denn in der Wohnung wollte sie es nicht mehr haben: zu sehr erinnerte es sie an die gebrechliche Frau in ihrem schwarzen Kostüm und an die strahlend weiss gestrichene Garage mit dem darin wartenden Sarg.

Karsten Redmann, geboren 1973 in Neunkirchen (Saar), lebt und arbeitet als freier Schriftsteller in St. Gallen (CH). Zahlreiche Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften, Anthologien und Zeitungen. Stipendium Bremer Romanwerkstatt 2010. Stipendium Bremer Prosawerkstatt 2012. Text des Monats beim Schreibwettbewerb des Literaturhauses Zürich, Juli 2015. Shortlist zum erostepost-Literaturpreis 2016. Nominierung für den storyapp-Preis 2017.

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Rede zu der Eröffnung der 40. Solothurner Literaturtage Judith Keller

Sehr geehrte Anwesende, die heute Abend hier zusammen gekommen sind zur Feier des vierzigjährigen Jubiläums der Solothurner Literaturtage. Ich wurde gefragt, wie sich das Schreiben, das Erzählen für mich, heute, im Jahr 2018 anfühle, was das Erzählen für mich bedeute. Darüber musste ich lange nachdenken und muss es noch weiterhin tun.
Ich bin der Meinung, dass wir, wie zu jeder anderen Zeit schon, auch im Jahr 2018 erzählt werden, und zwar nicht besonders gut. Doch nachdem ich das gesagt habe, bin ich schon nicht mehr sicher, ob es noch stimmt, was ich gesagt habe, es kommt mir bereits veraltet vor. Darum beginne ich noch einmal. Ich bin der Meinung, dass wir, und sicher geschah auch das schon lange zuvor, aber mir scheint, es ist mehr geworden, im Jahr 2018 weniger erzählt als errechnet werden, und auch das nicht besonders gut. Denn wir finden uns zwar als Resultat einer Rechnung wieder, aber wir sind darin nicht aufgegangen. Wir gehen nicht auf. Es ist darum eine Sprache vonnöten, und ich finde, eine literarische, um diese Rechnung, die nicht aufgeht und deren Resultat wir sind, ins Erzählen zu übersetzen.

Welche Rechnungen erzählen die Resultate? Stimmen die Rechnungen? Oder stimmen sie nicht, weil es darin an Stimmen fehlt?

Erst durch das Suchen nach den Bedingungen, die zu den Resultaten führten, kann in den Blick geraten, womit nicht gerechnet wurde. Und dies finde ich eine Aufgabe der Literatur: Erzählen, womit nicht gerechnet wurde. Erzählen, womit nicht gerechnet werden kann. Erzählen, was sich unter den Wörtern regt. Ich brauche meine ganze Fantasie dafür, mir vorzustellen, was das ist.

Aber was wäre das für ein Erzählen, das so etwas kann?

Was gibt es? ist die Frage dieses Erzählens, so glaube ich, und es ist sich nicht sicher, was es gibt. Aber es erzählt, dass es mehr gibt, als es erzählen kann. Es wäre ein Erzählen, das zuhört und sicher ist, dass es mehr gibt, als es hört. Ich glaube, dass Schreiben eine Form eines solchen Zuhörens ist.

Zum Beispiel höre ich die Schwäne in der Schwanenbucht in der Nähe vom Bellevue in Zürich. Ich weiss nichts von ihnen, aber ich schaue ihnen oft zu.

In diesem Moment kommen sie zur Bucht. Wer ist hier „sie“? Ich nenne sie Peli und Vera, es sind zwei in diesem Moment erschöpfte Frauen und sie haben an diesem Tag schon viel erlebt. Sie kommen zur Bucht, in der die süchtigen Schwäne unruhig die Nacht verbracht haben auf dem Kies oder auf den flachen und erhobenen Steinen nah am See. Unzählbare Schwanschaften drängen sich aneinander. Federn und Kot sind überall verstreut, verrenkte Hälse liegen auf Federkörpern, schwarze Schwanenfüsse suchen Halt. Ein gedämpftes Schnattern rollt durch die Menge, an einigen Stellen ist es dichter, an anderen ganz ruhig, doch dort, wo es ruhig ist, bewegen sich die Schnäbel ohne Ton. Blauweiss leuchten die Federn aus der grauen Dämmerung heraus. Irgendwo scheint es sie immer zu zwicken, ein plötzliches Zucken geht durch die Gefieder, sie graben mit den Schnäbeln nach und fischen etwas aus sich heraus, das niemand sieht. Sie haben Konflikte, innerliche Knöpfe, vielleicht haben sie einen Mangel, sagt Peli oder sagt Vera und sie setzen sich auf ein paar Ufersteine und schauen den Schwänen zu. Sie haben heute viel erlebt und der Text ist noch nicht zu Ende. Wir sind immer noch da, sagt Vera dann. Ich kann mir nicht vorstellen, was jetzt noch kommen soll, sagt Peli. Man kann sich immer nur wenig vorstellen, sagt Vera. Aber warte nur, im Nachhinein ergibt alles Sinn.

Warte nur, im Nachhinein ergibt alles Sinn, sagte mir kürzlich ein Freund, als etwas nicht eintraf, wie ich es wollte. Das ist die Hoffnung des Erzählens, dass am Schluss alles in einem Sinn mündet, und dennoch muss es ohne diese Hoffnung auskommen, dieser Hoffnung gegenüber misstrauisch sein, denn erzählen ist Sinn stiften, wo es keinen gibt. Die Schwäne helfen mir, wenn ich sie lange genug anschaue, wieder nichts mehr über sie zu wissen, die Hoffnung auf Sinn gleichzeitig aufzugeben und doch zu hegen. Sie helfen mir auch, nicht zu viel zu erfinden. Denn ich glaube, ich muss mich an das halten, was da ist. Denn auch wenn ich erfinde, schützt es mich nicht davor, die Welt so zu erfinden, wie sie schon ist. Und trotzdem bin ich sicher, dass die Welt neu erfunden werden muss – und zwar mit dem, was ist.

Judith Keller wurde 1985 in Lachen am Zürichsee geboren und lebt heute in Zürich. Sie hat Literarisches Schreiben in Leipzig und Biel sowie Deutsch als Fremdsprache in Berlin und Bogotá studiert. Nach Veröffentlichungen in zahlreichen Zeitschriften und Anthologien erschien 2015 ihre Erzählung „Wo ist das letzte Haus?“ bei Matthes & Seitz als E-Book und wurde mit dem „New German Fiction“ Preis ausgezeichnet. 2018 erschien bei Der gesunde Menschenversand «Die Fragwürdigen».

Mara Meier „Die roten Sandalen“

Licht schimmert unter der Tür durch. Die Stimmen dahinter sind so leise, dass Nina nicht verstehen kann, was geredet wird. Die Grossmutter spricht mit Tante Lisa. Die meinen, ich schlafe und geben sich Mühe, mich nicht zu wecken, sagt sich Nina.

Am nächsten Morgen kommt Tante Lisa ins Zimmer und zieht Nina die Bettdecke weg. Auf, du kleiner Faulpelz! ruft sie. Die Sonne scheint, komm, wir gehen in den Zoo!

Nina zieht das rote Kleid an, das die Mutter für sie genäht hat. Es ist ihr zu kurz, aber Tante Lisa sagt, es stehe ihr gut. Das Kleid war in dem Koffer, den die Tante für sie gepackt hatte, und mit dem sie einen Tag vor den Herbstferien auf einmal vor der Tür zu Ninas Schulzimmer stand. Sie sind dann mit dem Zug zur Grossmutter gefahren, Nina und Tante Lisa, eine Überraschung, hat die Tante gesagt. Darum hatte sie Ninas Koffer schon gepackt, mit dem roten Kleid darin. Aber die Sandalen hatte sie vergessen. Am nächsten Tag hat sie ihr welche gekauft, glänzend rote, damit sie zum Kleid passen, das die Mutter genäht hat.

Komm schon, ruft Tante Lisa und zieht Nina vom Küchentisch weg, bevor sie ihre Milch ausgetrunken hat. Tante Lisa rennt mit Nina zum Bus. Im Zoo kauft die Tante für Nina einen roten Plüschfrosch, und auf dem Heimweg einen roten Luftballon für Nina. Rot ist Ninas Lieblingsfarbe.

Die Mutter mag Rot auch sehr gern. Doch Blau gefällt ihr noch besser, das weiss Nina. Die Mutter schreibt immer mit blauer Tinte. Königsblau, sagt sie dazu. Nina denkt, dass vielleicht eine Postkarte von der Mutter im Briefkasten liegt, wenn sie vom Zoo nach Hause kommt. Mit dem Meer drauf, oder mit Bergen. Doch sie mag die Grossmutter nicht danach fragen. Die Grossmutter sieht nicht aus, als könnte man sie irgend etwas fragen. Und Tante Lisa ist schon weg.

Einmal war Nina mit Tante Lisa im Park. Sie haben die Enten im Teich mit trockenem Brot gefüttert, und Nina hat gesagt, dass sie mit der Mutter immer die Schwäne am Fluss füttern gehe. Und dann hat sie die Tante gefragt, wo die Mutter sei, wann sie wiederkomme. Tante Lisa hat ihr erklärt, dass die Mutter in die Ferien gefahren sei, das könne Nina doch sicher begreifen, sie sei ja schon ein grosses Mädchen. Eine Mutter brauche auch einmal Erholung.

Nina hat genickt und gedacht, dass Mutter in letzter Zeit immer müde war und gar nicht mehr fröhlich. Nicht wie im Frühling, als sie das rote Kleid für sie genäht und dazu gesungen hat.

Aber warum hatte die Mutter keine Zeit mehr, ihr zu sagen, dass sie fortgeht, keine Zeit, ihr noch einen Kuss zu geben? Sie hat sich nicht getraut, die Tante zu fragen. Vielleicht ist Mutters Zug ganz plötzlich gefahren, oder sie musste schnell zum Flughafen, um den Flieger nicht zu verpassen.

Die Grossmutter hat Fischstäbchen mit Salzkartoffeln und Spinat gekocht. Sie schaut zu, wie Nina isst. Nina zerdrückt die Kartoffeln mit der Gabel zu Brei. Den Spinat isst sie ganz schnell, damit die Grossmutter mit ihr zufrieden ist. Dann muss Nina in den Hinterhof, mit den anderen Kindern spielen. Nina kennt die Kinder nicht, und die spielen nicht mit ihr. Nina geht um den Hof herum und zählt ihre Schritte. Als sie bei dreihundert zweiundfünfzig ist, stellt ihr der grosse, dicke Junge ein Bein, und Nina fällt hin und schürft sich das linke Knie auf.

Die Grossmutter legt ganz schnell das Telefon auf, als Nina in die Wohnung kommt. Sie führt Nina ins Badezimmer. Nina muss sich auf dem Badewannenrand setzen, während die Grossmutter eine rote Schachtel mit Erste-Hilfe-Sachen aus dem Schrank nimmt. Die Grossmutter reibt mit einem Wattebausch eine braune Flüssigkeit auf Ninas Knie. Nina beisst die Zähne zusammen. Dann kommt ein Heftpflaster auf die Schürfung. Die Grossmutter räumt die rote Schachtel in den Schrank.

Als Tante Lisa zurückkommt, schaut sie die Grossmutter fragend an. Die schüttelt ein klein wenig den Kopf. Wahrscheinlich meinen sie, dass ich das nicht sehe, denkt Nina. Sie glauben, dass ich nicht höre, dass sie abends leise miteinander reden. Sie wissen nicht, dass ich das Licht sehe, welches nachts unter der Tür durchschimmert.

Beim Frühstück sagt die Grossmutter, dass Ninas Schulferien bald um sind. Nina denkt darüber nach, ob die Mutter dann endlich zurück ist, wenn sie wieder zur Schule muss, aber sie traut sich nicht, die Grossmutter zu fragen. Die Grossmutter sieht nicht aus, als ob man sie irgend etwas fragen könnte.

Die Grossmutter schickt Nina schon am Morgen in den Hof zum Spielen. Der grosse, dicke Junge ist nicht da. Nina geht rings um den Hof herum und zählt ihre Schritte, immer wieder ringsherum. Wenn sie bis siebenhundert siebenundsiebzig kommt mit Zählen, wird die Mutter heute anrufen. Oder es wird eine Postkarte von ihr im Briefkasten liegen, mit königsblauer Tinte geschrieben, mit dem Meer drauf, oder mit Bergen.

Das aufgeschürfte Knie mit dem dicken Pflaster stört Nina beim Gehen, und so ist sie erst bei vierhundert siebenundzwanzig, als die Grossmutter zum Mittagessen ruft. Es gibt Spiralnudeln mit Hackfleisch und Apfelmus dazu. Die Grossmutter sagt, dass Ninas Mutter das besonders gerne gegessen habe, als sie ein kleines Mädchen war. Dann muss sie plötzlich ins Bad und kommt lange nicht wieder. Nina hört Wasser rauschen. Sie schmuggelt das Hackfleisch von ihrem Teller zurück in die Auflaufform, die noch auf dem Tisch steht. Die Grossmutter sagt nichts, als sie zurückkommt.

Unterdessen hat sich der Himmel verdunkelt; es hat zu regnen begonnen. Im fahlen Licht wirkt das Esszimmer grau. Die Grossmutter sieht müde aus. Sie will einen Mittagsschlaf halten. Nina soll in ihrem Zimmer lesen oder auch ein wenig schlafen.

Nina legt sich aufs Bett. Der Regen trommelt gegen das Fenster. Der rote Ballon, den die Tante nach dem Besuch im Zoo für Nina gekauft hat, hat schon fast alle Luft verloren. Schlapp hängt er neben dem roten Kleid an der Kastentür. Die Sandalen stehen am Boden, der rote Lack ist zerkratzt. Kein Wunder bei all den Runden, die Nina mit diesen Sandalen schon gedreht hat, immer um den Hof herum, laut ihre Schritte zählend.

Nina schläft ein. Als sie erwacht, ist es Abend geworden. Ein wenig Licht schimmert unter der Tür durch. Die Stimmen dahinter sind so leise, dass Nina nicht verstehen kann, was geredet wird. Sie setzt sich auf, zieht die roten Sandalen an und geht zur Tür. Sie macht die Tür auf. Die Erwachsenen verstummen. Was ist los, sagt Nina. Ich will endlich wissen, was los ist.

Mara Meier, 1959 in Zürich geboren, Kindheit und Jugend in der Ostschweiz, wanderte als junge Frau nach Chile aus und arbeitete dort zehn Jahre als Botanikerin und in Kulturprojekten der indigenen Mapuche. Der Name ihres Blogs «kintun» stammt aus der Sprache der Mapuche und bedeutet «(an)sehen / suchen». Seit ihrer Rückkehr in die Schweiz ist sie beruflich in Bibliotheken tätig, beschäftigt sich dabei hauptsächlich mit Alten Drucken (15.-18. Jh.). Mara Meier zeichnet Pflanzen und Landschaften, gestaltet Figuren, schreibt Sachtexte, Glossen und Kurzgeschichten. 2018 Gewinnerin des OpenNet Schreibwettbewerb der Solothurner Literaturtage.

Verena Uetz «Persönliche Betreuung zugesichert»

Alle Jahre wieder im späteren Frühling, ja nicht zu früh, denn das hätte ihm geschadet, trug Gerlinde sorgfältig, beinahe zärtlich, ihren Gartenzwerg ins Freie. Das „Freie“ war ein Stücklein Steingarten vor dem Haus, angrenzend an den Fussweg zum Bahnhof. Nebst Pflanzen die dereinst üppig duften, blühen und sich sanft im Winde wiegen würden, bevölkerte Gerlinde ihr Gärtchen mit Antiquitäten. Ein kleines Steinpferd und der Torso einer Keramikskulptur standen zwischen den Steinen.

„Ach Gerlinde, du hast mir doch schon so manchen Stein in den Garten geworfen, dass ich dir endlich auch einmal etwas schenken möchte“, hatte eine ihrer Freundinnen letzten Sommer gesagt und ihr, sorgfältig in Seidenpapier eingewickelt, einen wunderschönen Gartenzwerg gebracht.
„Er heisst Salomon“, hatte sie schmunzelnd hinzugefügt. „Ich habe ihn in Griechenland gekauft. Mir war sofort klar, dass er in deinen Steingarten gehört.“

Gerlinde kannte viele Leute. Ihr früherer Beruf als Postbotin hatte das mit sich gebracht. Aber auch ihr Wesen. Leutselig, extravertiert, unkompliziert wären passende Bezeichnungen für die umtriebige Mittsechzigerin gewesen. Aber leider auch manchmal etwas zu vertrauensselig und gutgläubig.
Oft war sie unterwegs, um Hilfe jeder Art zu leisten. Sie kochte, kaufte ein für ältere Menschen, schnitt sogar Fingernägel oder verfasste Briefe. Oder sie liess sich begeistern für eine Nistkastenreinigung mit dem ornithologischen Verein.

Von Zeit zu Zeit schloss Gerlinde ihr kleines Haus für ein paar Tage, um auf Wanderungen oder Bergtouren aufzubrechen.
„Das bringt mich oft an meine Grenzen. Aber gerade das ist es, was ich daran so liebe“, pflegte sie zu sagen. Und auch:
„Ich bin halt ein Naturkind.“

Inzwischen hockte Zwerg Salomon einsam zwischen den Steinen, bis Gerlindes Tochter Nadine auf die Idee kam, ihm eine Partnerin zuzugesellen.
„So ist das doch viel besser und schöner. Die Beiden können sich unterhalten und Beobachtungen über die Menschen anstellen, die zum Bahnhof eilen.“

Die traute Zwergenidille dauerte genau zwei Tage, danach waren die Beiden unauffindbar. Gerlinde verstand die Welt nicht mehr. So etwas Unbegreifliches hatte gar keinen Platz in ihrem Welt-und Menschenbild. Sofort wollte sie mit der Suche beginnen. Aber wie und wo? Sie hängte handgeschriebene Zettel auf an manchen Orten im Dorf und war höchst erstaunt und erfreut über deren wundersame Wirkung. Salomon und seine Freundin kamen über Nacht zurück.

Kurz darauf ging es nach dem Schneeballprinzip: nach und nach bevölkerte sich ihr Gärtlein mit ganzen Zwerg-Sippschaften, über deren Herkunft niemand Genaueres wusste. Sie schienen sich wohl zu fühlen und vermehrten sich. Gerlinde war nicht die einzige, die sich darüber freute. Aus ihrem Küchenfenster beobachtete sie gerührt manche Fussgänger, die beglückt oder auch kopfschüttelnd für einen Augenblick stehen blieben.

Dann kam der Tag, an dem die Sache plötzlich eine Eigendynamik annahm und richtig kommerziell wurde.

An diesem nebligen Morgen, es war schon Frühherbst und Gerlinde wollte etwas länger liegen bleiben, schellte das Telefon zu ungewohnt früher Stunde.
„Guten Tag, Gerlinde. Ich bins, Franziska. Wir kennen uns von der Bergwanderung vom vorletzten Sommer. Weißt du noch? Bitte verzeih, dass ich so früh anrufe, aber ich bin in Verlegenheit und vielleicht kannst du mir aus der Patsche helfen.“
„Natürlich gerne, wenn dein Anliegen nicht allzu ausgefallen ist.“
„Doch, leider ist es das und ich traue mich kaum, darüber zu sprechen.“
Nach längerem Drumherum rückte Franziska endlich mit ihrem Anliegen heraus.
„Dürfte ich dir nicht meinen Gartenzwerg in die Ferien geben? Ich verreise für drei Monate. Da stünde er dann so einsam vor dem Haus, dass ich fürchte, er könnte gestohlen werden. Auch wäre er bei dir nicht so allein. Weißt du, seit mein Hund vor zwei Jahren gestorben ist, hängt mein Herz halt an ihm und wenn ich zurück bin hole ich ihn sofort wieder ab. Was sind deine Preise? Ich bezahle gerne auch etwas mehr.“
Gerlinde, schlagfertig und humorvoll erwiderte:
„Natürlich, gerne. Wie heisst er denn und was kriegt er zu essen? Etwa gar eine spezielle Diät?“
„Er heisst Adalbert, das musst du natürlich wissen.“

Das also war die Geburtsstunde von Gerlindes kleinem Nebenerwerb. Am Rand des Steingärtleins, gut sichtbar für die Fussgänger auf dem Weg zum Bahnhof, war seit kurzem eine kleine Holztafel angebracht, deren Inhalt viel heimliches Schmunzeln auslöste und immer weitere neue Kunden brachte. Darauf stand zu lesen:

Ferienheim für Gartenzwerge
Persönliche Betreuung zugesichert
Moderate Preise

Gerlinde hatte nun einen kleinen Kummer. Ob sie wohl die neuen Einnahmen von der Steuer absetzen durfte?

 

Die Beichte     

Müde und mit schmerzenden Füssen von den Strapazen eines langen Stadttages setzte ich mich in die dritte Bankreihe der kleinen Quartierkirche. Es dämmerte früh an diesem Novembertag und schon von weitem waren mir die flackernden Kerzen links und rechts der weit geöffneten Tür aufgefallen, hatten mich angelockt. Ich hatte keine Pause geplant, doch es war Orgelmusik nach daussen gedrungen und hatte mich unwiderstehlich ins Innere gezogen. Da war noch etwas anderes, Mächtigeres gewesen: Weihrauch, Duft aus ferner Kinderzeit. Warm, vertraut, geheimnisvoll.

Dieser Duft hatte mit Leichtigkeit Jahrzehnte übersprungen und klar und deutlich hörte ich  wieder Mutters Stimme, die mir am freien Mittwochnachmittag schon von weitem zugerufen hatte:

„Gut, dass du schon daheim bist. Dein Obermini hat angerufen. Du sollst um halb zwei Uhr in der Kirche sein. Es sei wichtig.“

„Dass ich jetzt nicht mit meinen Freundinnen aufs Eis kann, stört mich nicht, meine alten Schlittschuhe sind mir eh zu klein und drücken mir die Zehen ab.“

Ein Jahr zuvor war ich den Ministranten beigetreten. An der Weihnachtsfeier in unserer Kirchgemeinde war der Wunsch dabei zu sein, erwacht.

Eingekleidet in ein langes weisses Gewand, vorne am Altar stehen oder knien, dem Priester im richtigen Moment bringen, was er gerade benötigt, in die geheimnisvolle Sakristei eintreten und, vor allem, das Weihrauchgefäss schwenken dürfen. Das alles war überaus verlockend gewesen. Doch den Ausschlag gegeben hatte der Weihrauch, dieser unbeschreibliche Duft mit seiner wohligen Wärme und Geborgenheit. Deshalb gehörte ich seit dem Frühling zu den Minis, einer Gruppe von Kindern, die sich auch ausserhalb der Gottesdienste zu allerlei Freizeitaktivitäten trafen, Unterricht erhielten und lernten, was während des Gottesdienstes  zu tun war. Wann stehen, wann knieen, wann kommen und wann gehen. Dabei vom Kirchenvolk geschätzt und geliebt zu werden.

Mutter war stolz auf mich.

Seither betrachte ich mit besonderem Interesse die Weihrauchgefässe, diese kunstvoll gearbeiteten Schmuckstücke, wann und wo immer ich sie erblicke.

Seither?

Es gab auch Aufgaben für uns Minis, die in aller Stille getan werden mussten. Zum Beispiel abwechslungsweise am freien Nachmittag in der spärlich besuchten Kirche die unzähligen Kerzenständer auf dem Altar und zu Füssen der Heiligen vom Wachs befreien und neue Kerzen einsetzen. Diese Aufgabe gefiel mir besonders gut, denn der Weihrauch, der noch seit der Elf-Uhr-Messe über unseren Köpfen waberte, beglückte mich auf unerklärliche Weise. Ich holte die schweren schön dekorierten und leise duftenden Kerzen aus dem Schrank in der Sakristei und begann sie zu verteilen. Manchmal musste ich eine kleine Leiter zu Hilfe nehmen, wenn die Heiligen auf ihren Gipspodesten für die kleine Person, die ich damals war, zu hoch oben standen. Ich staunte, wie viele dieser Statuen an den unterschiedlichtsten Orten im grossen Kirchenraum verteilt waren, und bald wurde ich mit ihnen vertraut wie mit Freunden, mit denen ich mich unterhalten konnte. Anfangs nur zögerlich, doch bald bildete ich mir ein, Antworten zu erhalten, und ich begann  Fragen zu stellen und mein Herz zu öffnen. Die Stunden in der meist leeren Kirche wurden mir unentbehrlich.

Nicht immer war ich allein. Der Priester war nach kurzem freundlichem Gruß in meine Richtung in seinem Beichtstuhl verschwunden und bereit, den wartenden Gläubigen die Beichte abzunehmen. Aus dem Unterricht wusste ich darüber Bescheid und fühlte mich nicht gestört. Ich beobachtete  Menschen, die erregt flüsterten, sich Tränen abwischten und leise, wie sie gekommen waren, wieder verschwanden. Ich verstand ihre Worte nicht, sollte ich auch nicht, spürte aber meist eine gewisse beklommene Atmosphäre und war froh, wieder allein zu sein wenn die Letzten gegangen waren.

Ein Mann mittleren Alters kam öfter. Er dämpfte seine Stimme nicht, schrie sogar manchmal und fluchte, so dass ich mich ängstlich hinter einen der Heiligen flüchtete, mir die Ohren zuhielt und mich bemühte, seine Worte nicht zu verstehen. Denn das wäre Sünde gewesen. Was konnte ich aber dafür, dass ich Dienst hatte, er immer lauter redete, so dass ich schliesslich einzelne Wortfetzen verstand und damit seine düstere Geschichte zu ahnen begann. Worte wie: „nicht zurückhalten“ „immer wieder“ schälten sich heraus. Der Mann faszinierte und verängstige mich zugleich, doch mit der Zeit begann ich absichtlich zu lauschen und konnte nicht mehr aufhören damit. Was ich da hörte, senkte sich als eine Last auf mich, die schwerer und drückender wurde, je öfter ich seiner Beichte zuhörte. Ich war seiner Geschichte verfallen, steckte in der Falle, durfte ich doch mit niemandem über mein Geheimnis sprechen. Auch nicht mit meinen vertrauten Gipsheiligen, die sicher verschwiegen gewesen wären.

Dieses Erlebnis ging nicht spurlos an mir vorbei. Ich wurde immer stiller, bleicher und bald richtig krank. Die Haare fielen mir büschelweise aus und ich wurde schwach, konnte kaum noch stehen und gehen. Keines der mütterlich-kummervoll zubereiteten Süppchen schmeckte mir und ich fror erbärmlich. Mutter holte Ärzte, einen nach dem andern, die mir alle nicht helfen konnten. Ich verlor Gewicht. Natürlich wusste ich selber genau was mir fehlte, musste aber die schreckliche Geschichte für mich behalten. Ein Teufelskreis hatte begonnen und sich über zwei lange Jahre hingezogen.

All das war mir an jenem Novemberabend, durch den Duft des Weihrauchs, so klar wieder vor Augen gekommen, als ob es gestern gewesen wäre.

In meiner Oase der Besinnlichkeit und des Innehaltens, war es plötzlich laut geworden. Es hatten  Vorbereitungen einer Gruppe von Musikanten begonnen, die ein Musical einübten für den Weihnachtsabend. Noch etwas chaotisch, doch es blieb ihnen ja noch viel Zeit bis zur Aufführung. Die vertrauten Melodien hatten meine  Blockflöte von damals hervor gezaubert, und ich merkte belustigt, wie meine Finger begannen, die imaginären Löcher abzudecken und die Melodien mitzuspielen.

Mit der Stille war es endgültig vorbei, aber Irgendwann, erinnerte ich mich, hielt das kranke Kind dem Druck nicht länger Stand, und ich weihte meine Mutter ein. Entsetzen stand ihr ins Gesicht geschrieben, doch schliesslich gab sie mir den erlösenden Rat:

„Du musst zur Beichte gehen, so rasch als möglich.“

Ein väterlicher Seelsorger nahm mir die Beichte ab. Lange hatte er zugehört, ohne mich zu unterbrechen.

Verena Uetz-Manser ist Musikpädagogin, Familienfrau und Grossmutter. Als Tochter von Gretel Manser-Kupp, Kinderbuchautorin, begann sie schon früh gerne zu schrieben, erst spät auch Gedichte. Verena Uetz-Manser ist Mitglied von femscript.ch und als solche nimmt sie teil am Schreibtisch Winterthur. Veröffentlicht wurde in einer Publikation aus dem Kameru-Verlag: ‹dreiundsechzig›, sporadisch auch in Zeitschriften.

Ulrike Ulrich «Ist sie nicht»

Sie ist die alte Frau, die gegen den Tisch stösst, die den Tisch neben der Theke anstösst, auf dem schon das Tablett mit zwei Tassen und zwei Croissants steht, das Tablett, das sie eben erst vorsichtig abgestellt hat. Sie ist die alte Frau und der Kaffee, der überschwappt, auf das Tablett, über die Croissants.
Sie ist der Moment, das Überschwappen, das nicht zu verhindern war, und der alte Mann, der zusammen gesunken hinter dem Tisch auf der Bank sitzt und zusieht, wie sich das Croissant mit Kaffee vollsaugt. Sie ist das Croissant, das weich wird, und der wacklige Tisch, das Tablett voller Kaffee. Sie ist der Mann, der nicht weiterweiss. Und die alte Frau, die sich umschaut, die Hilfe sucht.
Sie ist die junge blonde Frau, die Servietten bringt, der alten Dame Servietten reicht, die junge Frau mit den einheitlich hellen Haaren, die jedem und jeder sagen muss, dass es den Kaffee heute gratis gibt, wenn man eine Tasse kauft, eine Tasse für 14 Franken. Und der Mann um die 40 ist sie, der keine Tasse will, keinen zusätzlichen Schuss Kaffee und auch keinen Lebkuchengeschmack, nur ein Glas Wasser.
Sie ist der Mann um die 40, der sich umdreht und dann mit seinem Tablett in der Mitte steht, keinen Platz findet, der Mann, dessen Weste zu eng ist, auch das Hemd. Sie ist das Hemd und die enge Weste und der Knopf, der abspringen will, der so aussieht, als wolle er abspringen.
Und sie ist der rothaarige Mann mit der grünen Brille, der aufsteht, einen Platz freimacht, aber auch die Unordnung, die er auf dem Tisch hinterlässt, der Stapel Zeitungen, den der Mann mit der engen Weste nicht entfernen kann, solange er das Tablett trägt.
Sie ist der Moment, als er das Tablett auf den Zeitungen abstellt, sich setzt und aufatmet, ohne dass der Knopf abspringt. Sie ist das Buch, das er sich holt, ein Reiseführer, seine Sehnsucht nach Sizilien ist sie und auch das Buch, das auf dem Nebentisch liegt. Sie ist das Buch und das Bild von der Frau auf dem Buch und der Titel des Buchs ist sie auch. Sie ist die Studentin, die am Tisch nebenan einen Text übersetzt, in den Computer tippt. Und die Freundin, die ihr dabei hilft, ihr gut zuredet. Aber am meisten ist sie die alte Frau am Tisch neben der Theke, die den Kaffee mit den Servietten weggewischt hat, auf deren Tablett die vollgesogenen Servietten liegen und deren Mann vor sich hinkaut.
Und der ältere Mann im eleganten Mantel ist sie, der erst einen Tisch sucht, bevor er sich den Kaffee holt, der da steht in dem eleganten Mantel mit seinem eleganten Gesicht und dem eine Frau einen Platz an ihrem Zweiertisch anbietet. Sie ist diese Frau mit der beigen Wollmütze und den tiefen Falten, die auf den Stuhl gegenüber zeigt, mit einem verlegenen Blick. Und die sich in sich zurück zieht, als der Mann sich lächelnd bedankt, für die Freundlichkeit, und es dann aber doch vorzieht zu warten, bis die beiden Studentinnen aufgestanden sind, die gerade Computer und Bücher einpacken.
Sie ist diese Frau mit der beigen Wollmütze, die einen Schritt getan hat, und der Mann, der versucht so freundlich wie möglich das Angebot abzulehnen. Sie ist der Mann, der den eleganten Mantel über die Stuhllehne legt und dann zur Theke geht, aber noch mehr ist sie die Frau, die aufsteht, noch immer mit Wollmütze, und sich ein Buch holt, die mit einem Buch zurückkehrt, darin liest, als der Mann mit einem Tablett zurückkehrt, auf dem ein Espresso steht.
Sie ist die blonde Frau, die an allen vorbei auf die Personaltür zugeht, schnell, und mit Tränen in den Augen. Und sie ist die Frau am Tisch mit der Kaffeepfütze, die jetzt ein Buch über die Physik der Wunder liest, während ihr Mann eines über Topfpflanzen durchblättert.
Sie ist die Frau, die ihren Namen mehrmals sagen muss, weil sie ihren Kaffee mitnehmen will und weil die Frau mit der rosa Blüte im Haar, die hinter der Theke Bestellungen aufnimmt, den Namen auf den Pappbecher schreiben will, aber den Namen nicht versteht, sie ist die Frau mit der rosa Blüte oben auf dem Kopf, die den Namen nicht versteht und nicht schreiben kann, und die Frau, die einen schwierigen Namen hat, den man nicht kennt, hier in dieser Stadt und in diesem Café, das zur Buchhandlung gehört, in dem man die Bücher mit an den Tisch nehmen darf, und den Kaffee mit hinaus, wenn man einen Namen hat. Sie ist auch der Name, der unverständliche Name, den man mehrmals sagen muss. Und sie ist die Frau, die sagt, dass doch der Name egal sei, die den Namen nicht nochmals wiederholen will, einfach mit dem Kaffee das Gebäude verlassen, und die zierliche Frau mit der rosa Blume, die sich entschuldigt, und die blonde Frau, die wieder aus dem Personalraum zurückkehrt, mit einem angestrengten Gesicht.
Sie ist die elegante Frau mit bordeauxrotem Hut, die an den Tisch des eleganten Herrn, neben der Frau mit der beigen Wollmütze, tritt, und ungarisch spricht, und die Frau mit der Wollmütze, die aufschaut, als der Mann seinen Mantel nimmt und sich freundlich verabschiedet. Sie ist das Bild auf der Zeitung, die der Mann liegen gelassen hat.
Sie ist die Frau mit der rosa Blume, die dem Paar mit der Kaffeepfütze erzählt, wie anstrengend das ist, an so einem Samstag zu arbeiten, von morgens bis Ladenschluss, und der alte Mann, dessen Kinn so aussieht, als würde er immer kauen, als würde er nichts so trainieren wie diesen Muskel. Sie ist die Musik aus dem Lautsprecher und der Schnee vor dem Fenster, sie ist das Kind, das unter den Tisch eines Mannes mit Computer kriecht, am Kabel zieht, sie ist die leichte Bewegung des Computers und die blonde Frau, die wieder Tassen anpreist.
Und die Frau mit der beigen Wollmütze ist sie, die aufsteht und das Buch zurückbringt, das von Legenden handelt. Sie ist der Kaffeegeruch und der Moment, als die Frau mit der Blume das Kaffeepfützentablett abräumt, sie ist die Hand, die sie der blonden Frau auf die Schulter legt. Und sie ist der vergessene Schal drei Tische weiter.

Ulrike Ulrich, geboren 1968 in Düsseldorf, lebt und arbeitet seit 2004 als Schriftstellerin in Zürich. 2010 erschien im Luftschlacht Verlag ihr Debütroman «fern bleiben», dem im März 2013 der zweite Roman „Hinter den Augen“ folgte. 2015 erschien ebendort ihr erster Erzählband «Draussen um diese Zeit».

Webseite der Autorin

Zora del Buono „Death valley coffee shock“

Als ich Rodriguez an der Polizeistation 70 Miles Junction ablieferte, war er schon fünf Stunden tot. Fünf Stunden sind eine lange Zeit bei der Hitze, und deshalb war ich erleichtert, als ich ihn dem Sheriff übergeben konnte. Sie haben einen Kühlraum für solche Fälle. Vielleicht klingt das jetzt ein wenig gleichgültig, aber so ist es nicht gemeint. Rodriguez war mir in den vier Tagen unseres Zusammenseins sehr nah gekommen, ich möchte sagen, wir waren Freunde. Dass ich ihn so schnell verlieren musste, bedauere ich. Und seinen toten Körper durch die Wüste zu chauffieren war grauenvoll, ich bin sicher, ich werde noch in Jahren nachts erwachen und ihn auf dem Beifahrersitz sehen, den Kopf an die Scheibe gelehnt, die kurzen Beine seltsam gestreckt, diesen kleinen Mann mit den langen Haaren, die so kräftig und glänzend waren, dass jede Echthaarperückenfirma ihm einen horrenden Preis dafür geboten hätte. Ich hatte ihm den Hut aufgelassen und auch die Brille nicht abgesetzt, weil er sie im Wachzustand stets trug, eine grün verspiegelte Pilotenbrille, ich weiss nicht, wie er das aushalten konnte, immer dieser Blick auf die Welt durch froschgrünes Glas. Das Kissen mit den Kaffeebohnen hatte ich zwischen die Scheibe und seinen Kopf geschoben, aber es war weggerutscht, so hatte ich es ihm in den Schoss gelegt und seine Hände darauf zusammengefaltet, nicht damit es aussah, als bete er, sondern damit seine Arme nicht herunterbaumelten während der Fahrt, an die in der Hitze schnell einsetzende Totenstarre hatte ich nicht gedacht vor lauter Aufregung.

Rodriguez und ich sind im selben Jahr geboren, 1961. Das stellten wir in der Bar in Veracruz, in der wir uns kennengelernt hatten, schnell fest. Man fühlt sich Menschen des selben Jahrgangs ja auf eigentümliche Weise nah, sogar dann, wenn man aus unterschiedlichen kulturellen Räumen kommt, so wie wir. Rodriguez war Mexikaner, ich bin Schweizer. Ich bin einer von jenen Männern mittleren Alters, die man in der Zürcher Altstadt in den Kneipen herumsitzen und vor den Kneipen herumstehen sieht. Einer von denen, die Zeit im Überfluss haben. Wir sehen einander alle ähnlich, leicht ergraut, die dünner werdenden Haare im Nacken etwas zu lang, die Jeans etwas zu ausgebeult, viele von uns sind Fotografen oder Schreiber oder Künstler oder Handwerker, Instrumentenbauer zum Beispiel. Fast alle rauchen wir. Solche wie mich gab es schon immer; als ich ein Kind war, sahen sie auch so aus, glaube ich mich zu erinnern, sie waren mir nie unangenehm.

T. hatte mich nach monatelangem Hin und Her mit einer SMS endgültig abserviert, der Satz lautete: Ich liebe dich nicht, wie du mich liebst; ich will eine Pause. Das mit den Pausen kennt man ja, das wird nichts mehr. Deshalb war ich nach Mexiko geflogen. Und hatte Rodriguez in der Bar kennengelernt. Ihm ging es an jenem Abend blendend, ganz im Gegensatz zu mir. Er hatte Pläne, bahnbrechende Pläne, und er teilte sie mir umgehend mit. Er wolle in die Vereinigten Staaten reisen, er habe nämlich eine Geschäftsidee. Männer wie ich haben oft Geschäftsideen, in Zürichs Kneipen stehen wir gerne am Tresen, trinken Rotwein und erzählen einander davon. Ich bin also ein grosser Freund von Geschäftsideen. Rodriguez, so erfuhr ich, besass eine bescheidene Kaffeeplantage in den Bergen hinter Veracruz, er war einer jener fünfundzwanzig Millionen Kleinbauern, die die Welt mit Kaffeebohnen versorgen, handgepflückt. Er wolle sich, so sagte er, mit seinen Bohnen von den anderen Bauern abheben, er strebe nach Höherem. Um den Marktpreis – el precio del mercado – eines Produktes anzuheben, müsse es sich von anderen durch eine gezielte Werbemassnahme unterscheiden. Und die fände er in Amerika, im Valle de la muerte, dem Tal des Todes. Ich war beeindruckt. Er wolle sich umschauen, ob er einen abgeschiedenen Platz finde, wo er seine frisch geernteten und gewaschenen Bohnen zum Trocknen auslegen könne. Dann könne er den Kaffee so nennen: Coffea arabica – Valle de la muerte. Die Idee sei ein Knaller, das müsse ich doch zugeben. Es gebe ja auch diesen schottischen Whisky, der über den Äquator geschifft werden müsse, bevor er verkauft werden dürfe. Der sei weltberühmt! Ich war wirklich beeindruckt. Und ich hatte nichts zu tun. Also begleitete ich Rodriguez auf seiner Fahrt nach Norden, drei Tage waren wir quer durch Mexiko unterwegs, ich schlief in mittelmässigen Hotels, Rodriguez auf dem Hotelparkplatz im Auto zusammengekauert, er meinte, er wolle die Kaffeebohnen nicht unbeaufsichtigt lassen. Sein Mazda war in einem beklagenswerten Zustand, zudem roch es darin eigentümlich. Die feuchten Bohnen, erklärte Rodriguez, er habe sie in Kissen und Decken eingenäht, der Grenze wegen. Er wisse nicht genau, ob Kaffeeimport legal sei, er fürchte aber eher nicht. Ich machte mir keine Sorgen, man hat ja in den Wochen, nachdem man verlassen worden ist, sowieso das Gefühl, das Leben sei am Ende angelangt. Es sind irgendwie grossartige Wochen, ich habe sie schon mehrmals durchlebt. Bei Lichte besehen war bislang immer ich derjenige, der verlassen worden ist. Und nie war ich so wagemutig wie in den aufgewühlten Zeiten danach.

Wir kamen problemlos über die Grenze. Ich wedelte mit meinem roten Pass, der Immigration Officer wurde sofort freundlich, murmelte etwas von einem Schweizer Urgrossvater, Amstutz oder so, vielleicht sprach er auch von Amsteg. Rodriguez nahm sogar für einen Moment seine Brille ab. Er hatte goldenglänzende Augen, einen liebenswürdigen Blick. Ich glaube, wir sahen vertrauenserweckend aus. Vielleicht war der Beamte auch nur müde. Auf alle Fälle ging alles sehr schnell, Grenzzaun und illegale Immigranten hin oder her. Von Douglas aus dauerte es weitere neun Stunden, bis wir unser Ziel erreicht hatten: das Death Valley.

Natürlich kannten wir die Geschichten von jenen Leuten, die vom Highway abfahren, um auf Sandpisten durch die Gegend zu holpern und dann verloren zu gehen. Man liest immer wieder davon, Gerippe, die Jahre später aufgefunden werden, Zeichen menschlichen Lebens, Wasserflaschen hinter Kakteen, ein kaputtes Handy, ein zerfledderter Personalausweis, all diese Sachen. Aber, das war ja gerade der Witz an Rodriguez’ Plan: Wir mussten eine möglichst abgelegene Stelle finden, an der er sein zukünftiges Geschäft aufbauen – oder besser gesagt: auslegen – konnte. Wir übernachteten im Amargosa Opera House, ein im Laufe der Jahrzehnte schäbig gewordenes Kulthotel am Eingang des Tals. Die Zeiten der Theateraufführungen unter der Regie einer exzentrischen Besitzerin waren längst vorbei, ausser uns war nur noch ein holländisches Paar zu Gast, sie stritten ausdauernd. Wir wollten früh schlafen, blieben aber an der Bar hängen. Nach ein paar Schnäpsen schlug ich im Scherz vor, wir sollten unsere Testamente schreiben, man wisse ja nie, Klapperschlangen und so. Rodriguez ging erstaunlicherweise sofort darauf ein, rief laut nach Stift und Papier. Echt jetzt?, fragte ich. Klar, sagte Rodriguez. Ich verzog mich an den Tisch mit der Eckbank, dachte kurz nach und setzte T. als Alleinerbin ein. Das war natürlich reine Boshaftigkeit, sie würde zwar rund zwölftausend Franken erben, hätte allerdings auch ungeheuer viel Aufwand mit den zahllosen Kleinigkeiten, die es nach einem Todesfall zu erledigen gab, zumal bei einem unordentlichen Menschen wie mir. Gleichzeitig wäre sie gerührt und würde ihr Leben lang von einem schlechten Gewissen geplagt. Zudem müsste sie sich meine Fotoalben anschauen und würde mich lieben für immer. T. war die perfekte Wahl. Bei Rodriguez dauerte das Schreiben kaum länger. Beide steckten wir die kleingefalteten Testamente in unsere Brieftaschen. Dann ging ich ins Bett und er ins Auto.

Ich kann die Geschichte hier abkürzen. Wir fanden am nächsten Tag nach langer Suche tatsächlich einen geeigneten Platz, weit abgelegen, nicht sandig, nicht steinig, nicht hügelig. Ein flaches Stück Land, im Hintergrund waren kahle Berge zu sehen. Rodriguez stürzte aus dem Auto, breitete Tücher auf dem Boden aus und riss zitternd vor Aufregung seine Kissen und Decken auf. Die Kaffeebohnen, die herauskullerten, sahen anders aus, als ich es erwartet hatte. Blass, gräulich, unspektakulär. Sie waren trocken, aber eben noch nicht sonnengetrocknet. Und die Sonne schien gnadenlos, die Hitze war wirklich grotesk. Wie lange die hier liegen müssten, fragte ich etwas bang, doch Rodriguez schwieg. Er kauerte am Boden, verteilte die Bohnen über die Tücher und streichelte sie liebevoll mit den Händen, manchmal zupfte er ein Resthäutchen ab. Vielleicht war es dieses versonnene Liebkosen, das mich derart rührte, dass ich keine spöttische Bemerkung machte; der Mann liebte seine Bohnen wirklich. Ich setzte mich in den Schatten des Autos und schaute Rodriguez nur zu, beobachtete seine rauhen Bauernhände, die plötzlich unfassbar zart zu sein schienen. Es war still, sehr still. Sämtliche Geräusche fehlten. Einmal blickte er auf und hob glückstrahlend beide Daumen. Sein Business – bisiness, wie er immer sagte – würde funktionieren.

Dann fiel er um. Rodriguez kippte einfach zur Seite. Sein Kopf stürzte auf den ausgetrockneten Boden, vom langen Haar umringt, die Brille hing ein wenig schief. Es kann kein lautes Geräusch gewesen sein, aber mir war, als ob ein Donnergrollen durch das Tal gezogen wäre, eine Art verzögerter Knall, mit einem bebenden Nachhall. Es muss die Hitze gewesen sein oder der Schock, der mein Gehirn anders arbeiten liess. Ich wusste sofort, dass er tot war. Ich schleppte ihn zum Auto und hob ihn auf den Beifahrersitz. Wir rumpelten Ewigkeiten über diese Piste zurück auf den Highway und dann direkt zur Polizeistation. Der Sheriff wunderte sich nicht sehr, ein Herzstillstand in der Wüste ist kein ungewöhnlicher Tod. Ich überreichte ihm die Brieftasche. Erst da erfuhr ich den vollständigen Namen meines Freundes: Ruben Ramón Rodriguez. Ich blickte durch das Fenster und sah, wie zwei Polizisten den Leichnam ins Gebäude trugen. Als ich mich zurückdrehte, sagte der Sheriff: Sie sind also der Alleinerbe? Was bin ich, fragte ich. Der Alleinerbe. Wir müssen das aber erst prüfen, bevor Sie den Wagen übernehmen dürfen. Ich liess mir Rodriguez’ Testament zeigen. Und tatsächlich, da stand mein Name. Und davor: mi fiel amigo. Ich war sehr bewegt.

Nun sitze ich also in dieser Ödnis in einer Polizeistation, warte und friere. Sie kühlen hier wie die Verrückten. Sobald alles geregelt ist, werde ich ins Tal des Todes zurückgehen und die Bohnen einsammeln, hoffentlich finde ich den Abzweig noch. Danach fahre ich nach Mexiko und schaue mir meine kleine Plantage an. Ich werde mit einem Kumpel in der Schweiz telefonieren, dessen Stiefbruder in einem Kaffeeladen arbeitet. Ich werde eine Werbekampagne lancieren und einen neuen Espresso auf den Markt bringen, einen höllenstarken. Er wird Coffea arabica – Valle de la muerte – limited edition Ruben Ramón Rodriguez heissen. Ja, so wird das sein.

Zora del Buono wurde 1962 in Zürich als Tochter einer Schweizerin und eines Italieners geboren. Sie studierte Architektur an der ETH Zürich und an der Hochschule der Künste Berlin und arbeitete als Entwurfsarchitektin und Bauleiterin in Berlin. Sie gehört zu den Gründungsmitgliedern von mare – die Zeitschrift der Meere und war stellvertretende Chefredakteurin. Von Zora del Buono sind in Buchform bisher die Romane „Canitz› Verlangen“ und „Big Sue“ sowie „Hundert Tage Amerika“, Aufzeichnungen einer mehrwöchigen Autofahrt von Neufundland nach Florida, die Tunnelnovelle “Gotthard”, das Baumbuch „Das Leben der Mächtigen“ und zuletzt bei C. H. Beck der Roman „Hinter Büschen, an eine Hauswand gelehnt“.